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Dieser Artikel ist in der MSZ 11-1984 erschienen.

Systematik


DIE NEUEN BÜCHER - HERBST 1984

Heinrich Böll: Eine Kette aus Menschen

Roman. 312 Seiten, Kiepenheuer und Witsch, DM 28,

Der "neue Böll" ist immer ein Ereignis. Doch im jüngsten Roman fließen alle Leitmotive des Autors zusammen und verbinden sich mit der Aktualität zu einem fiktiven Fokus, der Fragen aufwirft, ohne sie vorzeitig zu beantworten. Jürgen Westphal, 56, katholischer Studienrat aus Dinslaken, Teilnehmer an einer Menschenkette der Friedensbewegung, durchlebt den "Raketenherbst" in einer hoffnungslos zerrütteten Ehe, im Dialog mit seinem 17jährigen Sohn, Mitglied einer "autonomen" Blockierergruppe und im Konflikt mit seinem Studienfreund, der Gemeindepfarrer an Westphals Wohnort ist. Böll macht es sich und dem Leser nicht leicht. Und gerade deshalb, weil der Roman keine Patentrezepte anbietet, provoziert er die Diskussion. Marcel Reich-Ranicki in der FAZ: "Bölls Roman besticht durch seine radikale Ehrlichkeit. Dennoch darf bezweifelt werden, ob ein ostdeutsches Pendant denkbar wäre. Wünschenswert sicherlich."

Petra K. Kelly: Leise weinen die Wälder

Gedichte. 110 Seiten, Kösel, DM 12,60

Ein schmaler Band Lyrik der grünen Bundestagsabgeordneten, gleichsam auf dem Bahnhof zwischen den Zügen niedergeschrieben. Bei Frau Kelly spürt man, daß Politik betroffen macht. Und aus persönlicher, sehr intimer Betroffenheit entstehen lyrische Momentaufnahmen, in denen Betroffenheit sich mitteilt, weil sie den Leser unmittelbar berührt: "Mit Gert in der Schonung / braun, was einstens grün. / Oh Wald, der Menschen erste Wohnung, / mußt im Regen verglühn." Das Geschätt der Politik macht Frau Kelly nicht sprachlos. Aber auch die leere Formel des sinnentleerten Machertums ist ihr fremd. Sie teilt sich mit, weil sie etwas mitzuteilen hat: "Das Parlament ist kalt, / wie der gemordete Wald!" Ebenfalls bei Kösel erscheint Petra K. Kellys erster Roman "Rotation". Erscheinungstermin: Frühjahr 1985

Sontheimer - Lübbe - Scheuch: Mut zum Gehorsam

389 Seiten, Propyläen, DM 24.-

Die gesammelten Beiträge des Symposions, das im vergangenen Sommer in Lindau unter Beteiligung namhafter Wissenschaftler stattfand, liegen nun endlich gedruckt vor. Der Leser kann sich freilich auch ohne den unmittelbaren Eindruck des gesprochenen Wortes von der Sprachmächtigkeit des Plädoyers überzeugen, das hier für den zeitgemäßen Freiheitsbegriff vorgebracht wird. Bemerkenswert auch die ebenso mutige wie konsequente Forderung nach einer Politik der Schlangen- und Unkrautvertilgung, die Kurt Sontheimer begründet und im Namen einer keimfreien Politik der Demokratie vertritt.

Peter Scholl-Latour: Dschungelfieber im Vorgarten der Gringos

845 Seiten, DVA, DM 48,-

Dreißig lange Tage und Nächte haben Scholl-Latour und ein Kamerteam des ZDF mit den Guerilleros, die man hierzulande voreilig "Contras" nennt, das Brot und vor allem auch die Gefahr geteilt. Herausgekommen ist eine packende Reportage, die das Vorurteil korrigiert, in Nicaragua stünden US-Interessen gegen eine sowjetisch-cubanisch inspirierte Revolution. Scholl-Latour hat den Konflikt vor Ort miterlebt und beschreibt deshalb authentisch die wirklichen Triebkräfte der beteiligten Menschen. Sie waren die Opfer Somozas, und ihre Seele wird jetzt von den Salonrevoluzzern in Managua vergewaltigt: Auf der Strecke bleibt die Heiterkeit des nicaraguanischen Menschen. Ihm ist Scholl-Latour auf beiden Seiten begegnet, und ihm gilt seine unverhohlene Sympathie: 'Jene schlanken braunen Frauen mit den ausgeprägten Backenknochen, die mich an die Biegsamkeit der Vietnamesinnen erinnern, wenngleich das Erbe des Indios, gepaart mit einer Prise hispanischer Grandezza, unverkennbar ist - sie schenken dem 'Gringo' immer noch ihr verheißungsvolles Lächeln, trotz des von den Comandantes verordneten Mißtrauens." Der Westen wird umdenken lernen müssen, wenn wir uns der mittelamerikanischen Herausforderung erfolgreich stellen wollen.

Brzezinski - Kissinger - Genscher u.a.: Der Bär sucht Honig. Ein Rußlandbuch.

Mit einem Vorwort von J. Bonner 265 Seiten, Seewald, DM 18,70

Nicht subjektiv, sondern aus dem objektiven Blickwinkel der diplomatischen Erfahrung einer vierzigjährigen Friedenspolitik wird hier ein Staat samt Volk dem Leser vorgestellt. Während in den amerikanischen Beiträgen "Honig" im Sinne von "Beute" zur Darstellung gelangt, konzentriert sich der westeuropäische Teil des Sammelban des auf die "Freiheit" als Grundbefindlichkeit des russischen Menschen. Abgerundet wird die Vielfalt der Aspekte durch das authentische Vorwort der Ehefrau und Lebensgefährtin von A. Sacharow.

Jürgen Habermas: Sozialkontingente Interdependenz. Möglicher Entwurf einer bedingten Aufklärung über die handlungsgeschichtliche Funktionalität der Reflexion

684 Seiten, Suhrkamp, DM 74,-

In seiner gewohnt präzisen, gleichwohl knappen und explikativen Brillanz demonstriert der Frankfurter Sozialphilosoph, inwiefern für uns die Voraussetzungen transparent werden, die den mit den Augen eines von Parsons nicht abgestoßenen und sinnverstehend je schon eingeholten generativen Strukturalismus gelesenen Weber fruchtbar. Wenn die Alternative zwischen selbstreflektierender Sozialphilosophie und sozialer Reflexionsstrategie nicht immunisierend wirken soll, bleibt nur der strenge Entzug aus dem subjektiven Ghetto des selbstkritischen, durch die Stufen des Geistes geläuterten Impetus einer kommunikativen Performanz.