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Dieser Artikel ist in der MSZ 11-1984 erschienen.

Die Reform des Sozialhilfegesetzes wird vorbereitet
NEUE KARRIEREAUSSICHTEN FÜR ARBEITER

Wenn Arbeiter Karriere machen, dann immer nur nach unten. Wer einmal nach Lohngruppe III, IV oder V bezahlt wird, dem ist der Weg in die Jobs, deren Bezahlung wirklich eine materielle Freiheit bietet, endgültig versperrt. Umgekehrt dagegen geht es sehr schnell. Kein Arbeitsvertrag bietet dem Beschäftigten die Sicherheit, seinen Lohn auf Dauer zu behalten, dem "Arbeitgeber" aber bietet er das Recht, den Lebensunterhalt im Interesse des Geschäfts zu streichen. Dann ist der notgedrungen arbeitende Mensch endgültig mittellos und fällt unter die

Soziale Sicherheit,

als da sind Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe.

"Tatsächlich muß heute ein Arbeitnehmer, der eine vierköpfige Familie zu ernähren hat, bereits über 4000 Mark monatlich verdienen, um nach einem Jahr Arbeitslosigkeit nicht unter die Sozialhilfe-Schwelle zu rutschen." ("Frankfurter Rundschau" vom 8.9.1984; alle Zitate daraus)

Und wer verdient das schon? Also "rutschen" sie massenhaft, die "Arbeitnehmer", denen im Interesse "unserer Wirtschaft" der Lebensunterhalt entzogen wird; zuzüglich der Arbeiter, die für ihren aktiven Dienst am Geschäft Löhne unterhalb der "Sozialhilfe-Schwelle" erhalten, und auch die werden dank der wirtschaftlichen Vernunft des Tarifpartners Gewerkschaft immer mehr. Gesetzlich zugesichert ist den derzeit 1,65 Millionen "Empfängern von Sozialhilfe zum Lebensunterhalt", was ihnen der "Warenkorb" des Sozialhilfegesetzes zugesteht:

"Unter anderem 100 Gramm Rindfleisch in der Woche, 140 Gramm Butter und alle zehn Tage eine Flasche Bier. Einmal die Woche ist eine Tageszeitung und eine 50-Pfennig-Briefmarke vorgesehen und alle zwei Monate ein Kinobesuch." (SZ)

So sehen also die zwei Seiten der Sicherheit aus, die unsere freiheitliche Eigentumsordnung dem Menschen bietet, der dem Kapital nichts zu bieten hat als seine Arbeitskraft. Entweder Arbeit im Dienste des Kapitals zu Bedingungen und einer Bezahlung, die der Bereicherung des Kapitals nützt, oder Elend. Und unser sozialer Rechtsstaat kümmert sich nicht nur um die Wirtschaftsdienlichkeit von Löhnen und Arbeitsbedingungen, sondern er sorgt auch für die blanke Not. In einer Gesellschaft, die Lebensmittel im Überfluß produziert, läßt der Staat denen, an deren Benutzung das Kapital kein Interesse mehr hat, pro Woche 100 Gramm Rindfleisch zukommen! Den Leuten, deren Ernährung auf Dauer der gesetzlich geschützten Profitkalkulation zum Opfer gefallen ist, mißt der Staat abgezählte Wurst- und Brotscheiben zu, gerade so viele, daß sie vegetieren können. So massenhaft, wie die kapitalistische Kalkulation mit Arbeitskraft und Lohn absolut Mittellose produziert, sollen sie nicht im Straßengraben verrecken. Aber ihre "gesunde Ernährung" ist für "unsere Wirtschaft" und ihren politischen Sachwalter uninteressant geworden. So wird sie vom Sozialstaat dann auch gestaltet. Sozialhilfe ist Hungerhilfe - nämlich staatlicher Zwang zum ordentlichen Hungern. Und die Sorte Leute, die für Sozialhilfe in Frage kommen, sollen der politischen Gewalt noch dankbar dafür sein, daß sie sie nicht gleich verhungern läßt! Diese Menschlichkeit ist der blanke Zynismus.

Sozialhilfe: die einzige "Subvention", die wirklich abgebaut wird

Die Ausgaben für die Menschlichkeit, so erbärmlich sie sind, werden den Politikern inzwischen zu hoch. Deren Unzufriedenheit wird angestachelt von zwei Erfolgen ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik. Erfolg Nr. 1: Investitionsförderung, Steuererleichterungen usw. für "die Wirtschaft" erleichtern dem Kapital das Rationalisieren, sprich: die Verbesserung des Geschäfts durch Senkung der Lohnkosten. Das Resultat ist die Vergrößerung des Heers der Arbeitslosen. Auch damit sind die Regierenden schon auf bewährte Manier fertig geworden, nämlich zu Lasten der Arbeiter, die ohnehin immer für die Kosten der freien Marktwirtschaft zuständig sind. Erfolg Nr. 2: Durch Reformen der Arbeitslosenversicherung bekommen inzwischen von 2,3 Millionen gemeldeten Arbeitslosen nur 1 Million Arbeitslosengeld, so daß die Bundesanstalt für Arbeit in diesem Jahr "einen Überschuß erwirtschaftet", d.h. 4 Milliarden mehr Zwangsbeiträge kassiert, als sie Arbeitslosengeld auszahlt. Das Resultat dieses sozialpolitischen Knüllers: mehr Arbeitslose fallen schneller der Sozialhilfe anheim. Im Elend, das sie selber verursacht haben, entdecken die Führer der Nation neuen Handlungsbedarf. Das Sozialhilfegesetz wird reformiert. Die Leitlinie der Reform ist durch das maßlose Anspruchsdenken der Politiker vorgegeben. Angesichts ihrer militärischen Vorhaben, der Ausgaben für die weitere Förderung "unserer Wirtschaft", aber auch der Kosten für die Selbstdarstellung ihrer Macht und Herrlichkeit zu Hause wie überall auf der Welt erscheinen ihnen 6,1 Milliarden DM für "Hilfe zum Lebensunterhalt" als Luxus, den sie sich nicht mehr leisten wollen.

Die Finanznot der Gemeinden

Ehrlich wäre es, die Herren Sozialpolitiker würde sagen: Weil wir mit dem Geld, das wir unseren Untertanen abknöpfen, für die Beförderung unserer Macht Besseres vorhaben, verschärfen wir mit einem neuen Gesetz die Not der Sozialhilfeempfänger. Aber die Sorte Offenheit ist bei demokratischen Politikern nicht beliebt. Sie erfinden lieber für ihren feststehenden Beschluß eine Notwendigkeit, der sie und die von ihren Beschlüssen Geschädigten gemeinsam unterliegen sollen, so daß die weitere Verelendung als verantwortliche Sorge der Regierenden für unser aller Bestes dasteht. Diese Notwendigkeit lautet: "wachsende Finanznot der Städte und Landkreise" durch wachsende Ausgaben für Sozialhilfe. Die staatlichen Kassen, aus denen die Sozialhilfe bezahlt wird, werden nämlich nicht in Bonn, sondern eben in den Städten und Landkreisen verwaltet. Ein Normalmensch dürfte sich diese Logik nicht erlauben, schon gar nicht gegenüber dem Staat: erst sein Geld auf mehrere Portemonnaies aufteilen und dann dem Staat, der Steuern kassieren will, verkünden: Tut mir leid, im Geldbeutel für die Steuern ist kein Pfennig drin. Aber beim Staat ist das was anderes. Daß eine staatliche Kasse "Not" leidet, ist ein demokratisches Unding. Daß gewählte (Kommunal-)Politiker in Gefahr sein könnten, z.B. beim Senken der Gewerbesteuer auch noch an anderes zu denken als an die "Wirtschaftskraft" der unternehmenden Lieblingsbürger, daß sie sich bei der Ausstattung ihres Wirkungsbereichs mit neuen Alten Opern, Museen und sonstigen Repräsentationsbauten staatlichen Reichtums Zügel anlegen, das geht nicht. Daß aus Bonn Geld herübergeschoben wird, geht erst recht nicht - angesichts dessen, was die Waffen für einen erfolgversprechenden Krieg kosten. Nur "Einschnitte bei Arbeitslosen", die gehen immer.

Richtlinien der Verelendung

Eine Kommission der Länderarbeitsminister hat jetzt Richtlinien aufgestellt, nach denen das neue Sozialhilfegesetz abgefaßt werden soll. Sie sehen die Fortführung und Abrundung der Kürzungen vor, die seit der SPD-Regierung kontinuierlich betrieben werden: Schmälerung der "Leistungen" durch unterhalb der Inflationsrate bleibende Erhöhungen der Sätze, Senkung der Mehrbedarfszuschläge für Alleinstehende, Ältere und Schwangere, Begrenzung der Übernahme der Miete, also Schaffung von Obdachlosen usw. Das reicht den Herren aber noch nicht.

"Statt die Güter des Warenkorbs mit Durchschnittspreisen umzurechnen, wurde nur noch die untere Preisgruppe herangezogen. Der 20prozentige Zuschlag für Kochzutaten, Verderb von Lebensmitteln und ungünstige Einkaufsbedingungen wurde fast ganz gestrichen. Im Endbericht der Arbeitsgruppe heißt es dazu wörtlich: 'Angesichts sinkender Realeinkommen kann Hilfeempfängern eine besonders sorgfältige Verwendung der zugestandenen hochwertigen Ernährung zugemutet werden'." (SZ)

Die Ernährung des Sozialhilfeempfängers ist "zugestanden", also die pure Gnade des staatlichen Herrn über Leben und Tod, deshalb ist sie "hochwertig", auch wenn sie erklärtermaßen aus dem letzten Fraß besteht, der für Geld noch zu haben ist, und Verderb kein Hindernis für den Verzehr sein darf. Die staatliche Armenpflege sorgt dafür, daß ihrem Empfänger auch die letzte, mit dem Erhalt von Lohn gegebene "Freiheit" genommen wird, sich seine Bedürfnisse selber einzuteilen und sich mit dem Verzicht auf das eine Bedürfnis die Befriedigung des anderen zu erkaufen. Der Mangel, den die Sozialhilfe anrichtet, ist keiner mehr, den man einteilen kann. Interessen und Bedürfnisse sind dem Hilfeempfänger nicht mehr erlaubt, die nackte Existenz ist ihm zugestanden, zu dem Minimum, das je nach staatlichem Interesse definiert wird. Das ist der Kern der Menschenwürde, nach der die Hilfe laut Sozialhilfegesetz bemessen wird.

"Bei größeren Familien wurde davon ausgegangen, daß der Pro-Kopf-Verbrauch wertmäßig niedriger liegt, und deshalb ein 'Kumulationsabschlag' erfunden." (SZ)

Die Sozialhilfe verlangt nicht nur, ihre Empfänger sollen ihren Tag damit zubringen, ihre Existenz zu fristen und im übrigen nicht zu stören - sie verlangt auch ganz viel Moral und menschliches Zusammenstphen speziell der Familie. Erstens wird sowieso jeder Pfennig, den ein Familienmitglied verdient oder auf dem Sparbuch hat, auf die Hilfe angerechnet. Zweitens gilt die Devise: Gemeinsam darbt sich's leichter. Dies der harte Kern der christlichen Familie, den der Staat erst recht denen aufzwingt, die er zum Bodensatz der Gesellschaft macht.

Die Kommunen brachten in der Expertenkommission den Vorschlag durch, die Sozialhilfe nicht mehr nach dem "Warenkorb", einer Liste festgesetzter Lebensmittel und ihrer Preise, zu berechnen. Sie störte der Rechtsanspruch auf die Flasche Bier pro zehn Tage. Die Sozialhilfe soll statt dessen jährlich neu festgesetzt werden, und zwar entsprechend dem Sinken der "unteren Einkommensklassen", also den niedrigsten Löhnen und den Renten. Voller Zuversicht setzen die Herren von den Kommunen darauf, daß die Gewerkschaften wie bisher Jahr für Jahr den Lohn senken, und wissen genau, daß ihre Politikerkumpane in Bonn dasselbe mit den Renten machen. Mit der Ankoppelung an diese "Einkommensklassen" hätten sie erstens eine automatische jährliche Senkung der Sozialhilfe ins Gesetz eingebaut. Zweitens aber - und darauf legten sie großen Wert wäre nur so sichergestellt, daß jederzeit zwischen den Hungerlöhnen für Arbeit und dem staatlichen Existenzminimum ein "Abstand" gewahrt wäre. Keine Frage, wozu der gut ist. Zwar soll das Arbeitsvolk es dem Staat hoch anrechnen, daß er das kapitalistische "Lebensrisiko" des Verhungerns mitten im Reichtum abmildert. Aber praktisch soll jedem klar sein, daß ihm der Staat nur eine Wahl läßt: entweder dem Kapital noch zum elendesten Lohn zu dienen oder vor dem Nichts zu stehen.

Noch jemand, der mit der Armut Politik machen will

"Armenpolitik muß neben lohn- und arbeitszeitpolitik zu einem wichtigen Handlungsfeld der Gewerkschaften werden, nicht zuletzt deshalb, um ihren historischen Solidaritätsanspruch einzulösen."

Alle Achtung, jetzt hat es auch die Gewerkschaft gemerkt: in unserer wunderhübschen Republik gibt es Armut. Damit meint die IG Metall natürlich nicht die Einteilungs- und Verzichtskunststücke, die sie dem Arbeitsvolk mit ihren wirtschaftlich verantwortlichen Tarifabschlüssen zumutet. Armut fängt für den DGB erst mit der Diät an, die die Sozialhilfe ihren Empfängern aufzwingt und die "Der Gewerkschafter" ganz zutreffend "verordnete Unterernährung" nennt. Die gibt es also jetzt auch in Gewerkschaftsaugen. Und nun: Nun will die Gewerkschaft die Armut ebenso unter ihre Fittiche nehmen wie schon Lohn und Arbeitszeit. Also sich an einer verantwortlichen, Staat und Kapital zuträglichen Regelung des Elends beteiligen. Auf daß es dann nicht nur niedrige und daher gewinnträchtige Löhne und freie Verfügung des Kapitals über die Arbeitszeit gibt - soweit die bisherige Erfolgsbilanz der IGM -, sondern auch eine ordentliche, gewerkschaftlich mitbestimmte Armut. Abgesehen vom Geld kann es den "Ärmsten der Armen" (Gerd Muhr, DGB) dann ja an nichts mehr fehlen. Bei so viel "Solidaritätsanspruch"!