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Dieser Artikel ist in der MSZ 10-1984 erschienen.

Systematik


DIE SACHE MIT DEN MENSCHENRECHTEN

Das Kulturgut, Marke Menschenrecht, wächst nicht auf Bäumen. Das körperliche Organ, nach dem "alle Menschen frei sind und gleich an Würde und Rechten geboren" (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO), hat die Mutter Natur dem Säugling nicht in die Wiege gelegt. Wie der Name schon sagt, handelt es sich um ein Rechtsgut, für dessen Geltung eine Instanz einsteht, deren Wirken Naturforscher auch bei fleißigen Ameisen und Bienen entdecken, wenn sie nur fest genug an den Waldursprung der Staatsgewalt glauben.

Mit einer Wahrheit darüber, worin sich die Menschennatur von Tieren und Pflanzen unterscheidet, ist der Widersinn eines Natur- Rechts, das jedem Mitglied der "Menschenfamilie" per Geburt als höchstpersönliche Berücksichtigung zukommt, nicht zu verwechseln. Es handelt sich vielmehr um eine höchst philosophische Betrachtungsweise, die nur eines hinter sich hat: Seit der Durchsetzu ng des bürgerlichen Staates kennt und behandelt staatliche Hoheit ihre Untertanen als menschenrechtsberechtigte Staatsbürger.

Ein Grund für Dankbarkeit

Ein sonderbarer "Dienst der Politik am Menschen", auf den sich bürgerliche Staaten in ihren Verfassungspräambeln verpflichtet haben: Zu leben, zu denken und die Schnauze aufzumachen ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Recht, das der Staat gewährt. Selbst so harmlose und unvermeidliche Lebensäußerungen gelten damit nur, wenn sie der Staat erlaubt - und nach Maßgabe des Garanten. Die Menschenrechte, die einem gestohlen bleiben können, wenn man nichts zu fressen hat und die schon gleich kein Versprechen auf ein lohnendes Leben darstellen, sind ihrer Staatsnatur nach eine einzige Anmaßung: Die Staatsgewalt hält sich enorm viel darauf zugute, das ihr unterstellte Menschenmaterial mit Erlaubnissen aller Art zu beglücken. Und viel gewichtiger als das, was erlaubt ist, kommt die armselige Tatsache daher, daß es erlaubt ist. Die politische Gewalt erteilt die großzügige Genehmigung, Mensch sein zu dürfen. Und dafür stellt sie sich ein Lob nach dem anderen aus, so daß die Menschen an einem Argument garantiert nicht vorbeikommen: Diese Staatsgewalt kann auch ganz anders verfahren, wenn sie den Nutzen des Volkes herbeiführt.

So ist dem penetranten Verweis von Politikern auf ihre gnädige Berücksichtigung der Menschenwürde unschwer ein Imperativ zu entnehmen. Hier, wo das Menschsein einen staatlich verbrieften Genuß darstellt, ist das Dafürsein allemal Bürgerpflicht. Die geforderte Dankbarkeit hat sich immer dann zu zeigen, wenn sich - was gar nicht selten vorkommt - die Interessen der Bürger und die der Politik in die Quere kommen. Die durchaus vernünftige Frage, was man von den Grundrechten hat, wenn ansonsten mit "Lebensqualität" wenig läuft, wird deshalb nie mit Antworten bedacht, die schlagend darüber belehren, wie sehr sich die abstrakten Rechtsgüter lohnen. Der Menschenrechtskatalog ist ein vergleichender Bericht über die Großtaten, zu denen die politisch berechtigten Vertreter diverser Völker imstande sind. Daß mehr oder weniger zivilisierte Staaten beständig mit der Verfolgung untauglich erachteter Meinungen, mit Folter und mit Völkermord kalkulieren und diese Kalkulationen nicht im Bereich frommer Wünsche bleiben, das und nur das verleiht dem staatlich garantierten Schutz der Menschenrechte erst ihre Wertschätzung. Aus dem einer Drohung verwandten Vergleich, und nicht aus der Wohlbekömmlichkeit der Güter, auf die der Staat Rücksicht zu nehmen gedenkt, stammt das moralische Plus, das die Hüter der Menschlichkeit für sich in Anspruch nehmen.

Deshalb garantieren richtige Verfassungen den "Menschen im Mittelpunkt der Politik" auch etwas mehr als die kurze Liste der Menschenrechte. Sie legen das Wie ihrer Durchführung fest und damit ergeben sich manche Modifikationen, die alle die eine Klarstellung verfolgen: Rechte sind Pflichten! Meinungsfreiheit immer - auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung! Und das Recht auf Leben, näher "Schutz und Sicherheit der BRD und der in ihr wohnenden Menschen", gebietet den Dienst in der Bundeswehr! Schließlich taugen die Menschenrechte nur für eine Klarstellung: In der Staatsgewalt, die über ihn verfügt, hat der Mensch sein Menschenrecht. Die Staatsordnung, in der er lebt, ist seine Menschennatur und auf die Einhaltung dieser Natur hat der Staat ein wachsames Auge.

Nicht von ungefähr gerät die "Wahrung der Menschenrechte" wie ihre "Verletzung außer in Feiertagsreden immer dann in den Blickpunkt, wenn sich Staaten in der einen oder anderer Weise daran zu schaffen machen, störenden Bürgern das Handwerk zu legen. Wo immer sich eine Regierung zum Herrn über die Alternative einsperren oder nicht, leben oder sterben lassen, aufschwingt, bekommen die feinen Unterscheidungen Konjunktur. Menschenrechtlich gesehen, gehen nämlich nur rechtmäßige Verurteilungen in Ordnung, nicht aber der "kurze Prozeß", den manche Statthalter der Freiheit bevorzugen. Die "verletzen" dann mit den erlesenen staatlichen Terrorleistungen, die amnesty international gründlich aufzählt und berichtet, den eigentlichen Zweck staatlichen Wirkens. An Folteropfern und abgeschobenen Türken beleben abgebrühte Liebhaber der Menschenrechte den Glauben daran, staatliche Gewalt sei ihrem eigentlichen Wesen nach und bei Einhaltung ihrer Regeln ein einziger Segen für die Menschheit. Die so in Bittschriften angegangenen Staatsmänner wird es rühren!

Das Recht auf Leben

Dieses "unverzichtbare" Gut, das aufgeklärte Staaten ihrem Menschenmaterial zubilligen, soll etwas taugen? Das 'Glück', auf zwei Beinen zu stehen, ein Zweck, für den zu leben sich lohnt? Dafür ein herzliches Dankeschön, die kreatürliche Existenz, die nicht auf dem Rechtsweg zustandekommt, auch noch erlaubt zu bekommen?

Das Leben ist kein Lebensmittel. Etwas vom Leben zu haben, entscheidet sich nach ganz anderen Kriterien - hierzu lande lautet es: Ohne die mit Paß besiegelte staatliche Anerkennung kein Anspruch auf Existenz und ohne Geld läuft nichts. Die im Abendland des 20. Jahrhunderts so beliebte Frage: "Ist mein Leben lebenswert?", zeugt in ihrer sinnsuchenden Tiefe im übrigen weniger vom "Leben" schlechthin und dessen Qualität als hohem Gut. Vielmehr entspringt sie der Erfahrung, daß das "Leben" von Geboten und Härten abhängig gemacht worden ist, die es ihm schwer machen. Selbstmörder springen auch nicht vom Balkon, weil sie "des Lebens" überdrüssig geworden wären, sondern exekutieren die Anklage, eine feindliche Welt stünde ihren Wünschen im Wege, an sich selbst.

Damit so ein kümmerliches Ding wie die pure Existenz zum "unverzichtbaren" Wert wird, das der Staat in Schutz und Obhut nimmt, muß es erst zu diesem gemacht sein. Wertvoll wird die natürliche Selbstverständlichkeit des bloßen Vegetierens nur dann, wenn es von einer Instanz geschützt wird, die das Überleben an die Garantie ihrer Rechtshoheit bindet. Ohne den Staat und die von ihm gewährleistete gesellschaftliche Ordnung ist "das Leben" nicht zu haben - deshalb gilt es nur, soweit es sich als tauglich dafür erweist. Geschützt wird nicht das natürliche Faktum, sondern das Rechtsgut Leben. Das ist keine Garantie gegen das Verhungern - dieses Lebenslos ist in der freien Welt ja keineswegs ausgestorben -, sondern die ungemütliche Zusicherung eines Gewaltmonopols. Mit der Abwesenheit von Gewalt hat das herzlich wenig zu tun; eher schon mit ihrer Allgegenwart und der Kalkulation einer Instanz, die sich die Entscheidung darüber vorbehält, wie und ob gelebt werden darf.

So kommen unter dem staatlichen "Menschenrecht auf Leben" ganz neue Lebensrisiken auf die Welt, von denen ein Buschneger mit seinem beschränkten Verstand sich nichts träumen läßt. Einem ganzen Berufsstand wird das großzügige Angebot aufgemacht, allein von der Ruinierung der Physis leben zu können: Ein ziemlich unnatürlicher Zustand, der das Leben und die Gesundheit der Arbeiter verbraucht - das "Recht auf körperliche Unversehrtheit" wird dadurch nicht verletzt. Todesstrafen sind selbst in zivilisierten Staaten nicht tabu; sie dienen dem "Recht auf Leben", das die Staatsgewalt darin achtet, wenn sie über das Lebensrecht ihrer Untertanen entscheidet. Staatliche Todesschwadronen, die für die praktische Einsicht sorgen, daß das staatlich gewährte Recht auf Leben eine Verpflichtung ist, die auch verspielt werden kann, kommen nicht überall vor. Staaten, die auf den bei ihnen herrschenden "inneren Frieden" stolz sind, verpflichten sich selbst darauf, den Staatsnotstand zu planen. Für den statten sie Polizei, Bundesgrenzschutz und Bundeswehr mit so ziemlich den gleichen Rechten aus, die beim Treiben staatlich bezahlter Mörderbanden in Südamerika nur Abscheu erregen können. Polizeiliche Todesschüsse sind dagegen schon jetzt aus der Rechtssicherheit der BRD nicht wegzudenken.

Die größte Wertschätzung des Lebens bezeugt jeder Staat dadurch, daß er für Fälle vorsorgt, in denen das Leben der Leute nichts mehr wert ist, weil es zur Verteidigung des Lebensrechts, das Untertanen in ihrem Staat haben, eingesetzt wird. Die Rücksicht auf das Leben, die Staatsgewalten sich auferlegen, gilt nur den Zwecken, für die nationale Politiker ihr Menschenmaterial zu gebrauchen wissen. Wer sich zur Lebensbedingung erklärt, setzt eben die Bedingungen - fürs Überleben. Je höher die Ziele, desto grundsätzlicher kommt das Leben ins Spiel.

Die rechtmäßige Verfügung des Staates über die ganze Existenz gewährt dieser seinen Bürgern als Anspruch. Da kann durchaus vor deutschen Gerichten geklagt werden, z.B. ob das Verbot langer Haare in der Bundeswehr ein Verstoß gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist; selbst da geht freilich das Recht auf Leben, näher die Moral der Truppe, vor.

Und mit der von oben angesetzten und entschiedenen Debatte über "das Recht des ungeborenen Lebens" kommt das Menschenrecht Leben auf seinen Begriff. Das Recht auf lebendes Menscheninventar will der Staat nicht dem Zufall des Zeugungswillens seiner Bevölkerung überlassen. In anderen Weltgegenden ist aus dem gleichen Grund Geburtenkontrolle angebracht. Ohne den leisesten Anflug von Gewissensnöten rechten da die Ethiker des staatlichen Lebensrechts gemeinsam mit Berufschristen aus Rom darüber, wie wenig es auf den Unterschied zwischen einem drei Wochen alten Foetus und einem gesetzlich geschützten Individuium älterer Bauart ankommt. Ein solcher Unterschied existiert eben vor dem harten Maßstab des "Lebens" nicht, der umgekehrt das Bedürfnis von mit Willen und Bewußtsein ausgestatteten Bürgern nach einem guten Leben für eine unzulässige "Anspruchsmentalität" ansieht. Die Abstraktion des "Lebens", die da geschützt wird, wird eben als Grundlage für allerlei Dienste geschätzt - und in deren pflichtschuldiger Verrichtung besteht dann die Bedingung fürs Leben!

Die Menschenwürde

Das Monstrum "der Mensch" hat nur in Zoologiebüchern einen berechtigten Platz, und die Beschreibung der anatomischen Unterscheidungsmerkmale zum Tier kommt naturwissenschaftlich ganz ohne Menschenwürde aus. Die mit dem "Recht auf Menschenwürde" staatlich abgesegnete Kulturleistung ist etwas, was im normalen Umgang der Leute untereinander selbst bei bestem Willen nicht zu erfüllen ist: Einen anderen Menschen gerade darin zu schätzen, daß man von allen Eigenheiten absieht, die seine Person ausmachen - ein solches Wesen, genannt "der Mensch", läuft eben nirgends frei herum.

Eine Chimäre ist dieser Mensch und die ihm zugesprochene Würde aber auch nicht, sondern ein sehr reales Verhältnis, dem die Staatsgewalt Männlein und Weiblein unterwirft. Sie sind als Staatsbürger anerkannt - und nur in dieser Gleichheit vor den Ansprüchen, die der Staat an sie stellt, finden sie ihre Menschennatur. Verboten sind die Unterschiede, die Menschen so an sich haben, damit nicht; der Staat nimmt sie in seinen geschützten Dienst, ohne sich davon abhängig zu machen - und für die Bewährung der Fähigkeiten und Mittel, die seine Bürger so mitbringen, verweist er sie auf die Welt der Konkurrenz. Die verwaltet er bloß und bei den sich für viele einstellenden Resultaten eines Lebenskampfes mit ziemlich untauglichen Mitteln, erklärt er sich für ohnmächtig. Manches Mal beschuldigt er sich auch, der "Würde der Person" zu nahe getreten zu sein: Die Menschenwürde der "sozial Schwachen" hat er mißachtet, sie durch Segnungen des "Wohlstandsstaats" bestochen und die "Eigeninitiative" der Sozialhilfeempfänger gelähmt. Dieser Mißstand wird dann abgeschafft.

Mit einem Versprechen auf Wohlstand und angenehmes Leben ist die Achtung der Menschenwürde nicht zu verwechseln. Der jedem Menschen innewohnensollende Wert, zu dessen Respektierung sich Staaten für zuständig erklären, geht auch durch Hunger, Armut und Not nicht flöten. Bei der Menschenwürde handelt es sich eben nicht nur um ein unverzichtbares Stück zivilisatorischen Fortschritts, sondern auch um ein ziemlich unverlierbares Gut. Selbst taufrische Leichen kommen noch in seinen Genuß, so lange sie Gegenstand staatlicher Hoheitsakte sind; für die würdevolle Beerdigung gibt es gesetzliche Vorschriften.

Und dennoch kann dieses wohlfeile Menschenrecht verletzt werden: Da brauchen sich bloß Politiker nicht an die von ihnen erlassenen gesetzlichen Regelungen im Umgang mit ihrem Volk zu halten, um von Menschenrechtsfreunden - gemäß dem staatsbürgerlichen Glaubensmotto: Willkür und Recht sind sich ausschließende Gegensätze - des Verstoßes an der Menschenwürde, das Verhältnis zu ihren Bürgern ordentlich zu regeln, angeklagt zu werden. Die Menschenwürde kommt den Menschen von Staats wegen zu und deshalb entscheidet sich dessen Qualität auch nach der Güte des ihn verbürgenden Staates. In anderen Weltgegenden kommt sie entweder nie zustande oder wird immer mit Füßen getreten, weil dort Unrechtsregime herrschen, die sich den näheren Regelungen der Menschenwürde: Freiheit und Gleichheit widersetzen.

Freiheit und Gleichheit

Dafür lohnt es sich, in einem demokratischen Rechtsstaat zu leben. Nicht des sich damit zwangsläufig einstellenden Wohllebens wegen - vor diesbezüglichen Mißverständnissen warnt und schützt jeder demokratische Politiker sein Volk umso mehr, je weniger dieses solche Erwartungen pflegt. Den praktischen Test auf die Bekömmlichkeit von Freiheit und Gleichheit hält kein Rechtsstaat aus; er beantwortet ihn auch nicht mit der Abdankung der Staatsgewalt, sondern erleichtert sich um einige unpraktisch gewordene Umgangsformen des Regierens. Wenn das kein Grund ist, das Leben im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat als welthistorischen Glücksfall zu betrachten, weil dieser bei ausbleibender Würdigung und Anerkennung seiner Verdienste um Freiheit und Gleichheit auch noch ganz anders könnte!

So lange seine Bürger ihm aber die Dienste nicht aufkündigen, für die er sie als freie und gleiche behandelt, braucht sich ein demokratischer Rechtsstaat eine Nachlässigkeit in dieser Sache nicht vorwerfen zu lassen. Mit der Gleichheit von so natürlichen Lebensmitteln wie Kapital und Lohnarbeit sichert er ein lohnendes Miteinander der Wirtschaftskräfte, das seine Wirtschaft befördert, auch wenn und weil der sich einstellende Nutzen sehr einseitig verteilt ist. Warum sollte er sich auch Versäumnisse zuschulden kommen lassen, wenn er die unterschiedlichen Mittel wie Arbeitskraft und Privateigentum, die Leute in die Wiege gelegt bekommen haben, auf ihre taugliche Funktion festlegt für einen Gegensatz, von dem der Erfolg der Nation lebt? Was einem Menschen ziemlich unmöglich ist - die Vielfalt der Personen darin anzuerkennen, daß ihre Unterschiede für gleichgültig erklärt werden -, das ist dem Staat ein Leichtes: Er unterwirft sie dem gleichen Maßstab der Nützlichkeit, an dem sie sich in der Welt der Konkurrenz, die er garantiert, zu bewähren haben. Da stellen sich freilich ganz neue Unterschiede innerhalb des so gleichgeachteten Menschenpersonals der Herrschaft heraus, was den Grad der Tauglichkeit angeht; mit der Auffassung, hier liege eine Verletzung eines Gleichheitsgesetzes der Menschennatur vor, liegen Menschenrechtsfreunde gründlich falsch: So eine Gleichheit hat die Natur noch nie gesehen.

Wegen der Gleichheit muß und will ein anständiger Staat die sich daraus ergebenden Unterschiede als solche berücksichtigen und die ständige "Verbesserung" des Gleichheitsgrundsatzes läßt sich keine Regierungsmannschaft als Aufgabe entgehen. Einesteils gilt es da die "natürliche Würde" der Frau zu schützen, wenn sie auf ihre Dienste für die Keimzelle der Nation, die Familie, festgelegt wird; andererseits gebietet die Gleichbehandlung der Frau, sie darauf nicht zu beschränken: Nützlich darf sie sich in der Berufswelt, in der Fabrik oder vielleicht bald in der Bundeswehr machen. Aus den zu erfüllenden Pflichten erwachsen die Rechte, die jedem zukommen und die so festgeschriebenen Unterschiede erfüllen die Rechtsgleichheit mit Leben. Daß ein Streik die Gleichheit von Kapital und Arbeit verletzt, gibt Anlaß zu manchem Gesetz; daß im Falle eines Konkurses die Gelder für einen Sozialplan anderen Forderungen bisher vorangestellt wurden, wird Anlaß neuerlicher Rechtsprüfung: Ist das nicht eine ungerechtfertigte "Bevorrechtung" vor Banken und anderen Konkurshaien, ein Privileg, das die genießen, die in die Arbeitslosigkeit abgeschoben werden?

Die Gleichheit, auf die der Staat achtet, gilt dem Staatsbürger und damit den Ansprüchen, die sich aus dem staatlich geregelten Dienst am Wohl der Nation ergeben. Für aufgeklärte Demokraten auf Regierungsposten spielen da Rasse, Geschlecht und Glauben erst einmal keine Rolle, sie gebieten ja nicht über Menschen und deren kleinliche Absonderlichkeiten, sondern über gewaltsam abgesicherte Rechtsordnung, über Geld, Privateigentum und Arbeit - um aus diesen Mitteln etwas zu machen; dafür sind dann allerdings selbst die "natürlichen" Unterschiede noch einer Berücksichtigung wert.

An der harten Nuß, daß ein demokratischer Staatsapparat seine ganze Gewalt dafür aufbietet, seinen Mitgliedern die Freiheit ihrer Person zu gewährleisten, braucht niemand zu verzweifeln. Was ihm da immer an grundgesetzlichen Angeboten unterbreitet wird: Recht auf Familiengründung, schulische Ausbildung, freie Berufswahl, Freizügigkeit der Wohnungswahl und Schutz des Eigentums, stiftet seine segensreiche Wirkung dadurch, daß der ungezügelte Wille der Individuen in geordnete Bahnen gelenkt wird. Die staatliche Garantie der Freiheitsrechte ist ihrer Natur nach ein einziges Gebot, mit dem der Staat die Handlungsfreiheit seiner Bürger an seinen Willen bindet und auf die von ihm eingerichteten Umgangsformen festlegt.

Verständlich, daß der Gesetzgeber so manchen Mißbrauch kennt, der zum Verlust dieser menschenrechtlichen Zugeständnisse führt. Jedes Grundrecht braucht seinem Wesen nach nähere gesetzliche Erläuterungen, die Freiheiten so erlauben, daß sie sie auf das für die "Gewährung der Rechtssicherheit" nötige Maß festlegen. Der so anerkannte freie Wille darf sich dann austoben, indem er die Tauglichkeit seiner Freiheit dauernd überprüft: auf dem "Arbeitsmarkt", an den Mietpreisen, an der Schule, am Scheidungsrecht und an der Scheidemünze des gesellschaftlichen Reichtums.

Meinungsfreiheit und Wahlrecht

So findet der Mensch in seinem Alltagsleben zu seiner staatlichen Heimat, und im betont freiwilligen Ableisten der vielfältigen Pflichten erfüllt sich die staatsbürgerliche Menschennatur. Das Glücksgefühl über diese reife Kulturleistung erfährt freilich nur zu oft Dämpfer. Neben dem wohlfeilen Trost, sich selbst als Versager zu verurteilen, keimt manche Unzufriedenheit über Politiker, die immer genau das Falsche tun, unfähig sind und sich selbst in die Tasche wirtschaften, über Geldsäcke, Parasiten, arbeitslose Drückeberger und Ausländer, an denen scheitert, was einem selbst zusteht. Politiker anderer Nationen machen mit ihrem Egoismus "uns" das Leben schwer. Damit solche Einsichten nicht in der eigenen Küche oder unter Stammtischbrüdern verkümmern, gibt es die öffentliche Meinung und den staatlichen Schutz der Meinungsfreiheit. Der Staat in seiner menschenrechtlichen Güte hat eben an alles gedacht: selbst eine so unvermeidliche Lebensbetätigung wie das Denken ist erlaubt. Eine Meinung muß es freilich schon sein, was da herauskommt: eine Ansicht, die so frei ist, ihren Unernst gleich einzugestehen, wenn sie sich so gleich und gültig behauptet wie jede andere und noch so gegensätzliche Meinung; die praktische Folgenlosigkeit hat man am besten gleich anzusagen, indem man stolz darauf beharrt, eine eigene Meinung zu haben und jeden Gedanken anderer flott als "bloße" Meinung denunziert. Auch hier sind Staatsmänner die Meister der Kunst, Kritik für unerheblich zu erklären. Wer sich nicht bei jedem Gedanken von seinem Anliegen distanziert, verstößt gegen die gute Meinungssitte, der der Hüter der Meinungsfreiheit einen Rahmen verpaßt, damit Ordnung in den Wirrwarr kommt. Positiv muß sie schon sein, die unmaßgebliche Kritik des Bürgers und sich Gedanken um die Verbesserung der Instanzen machen, gegen die sie sich richtet. Mit dem Schutz der Meinungsfreiheit ist die Pflicht zur grundsätzlichen Zustimmung zum Wirken des Staates gegeben, der sich als die Voraussetzung setzt, damit überhaupt einer das Maul aufmachen kann. Im anderen Fall liegt Gewalt vor und dann schützt die bloße Meinung nicht vor strafrechtlicher Verfolgung. Wo das Handeln der Politiker wegen der bemerkten Härten auf Unmut stößt, gilt umgekehrt: Auch wir Politiker dürfen doch wohl noch unsere Meinung haben. Bundespräsidenten weisen Kritiker der Aufrüstung auf die kaum glaubliche Tatsache hin, daß die Bundeswehr auch und in diesem Falle allein die Meinungsfreiheit der Krakeeler schützt - keine Frage, wie die dann lautet: "Stillgestanden, Schnauze halten!"

Mit dem Wahlrecht bekommen die Bürger ein weiteres Feld zugewiesen, auf dem sie ihre Zustimmung zur Staatsgewalt betätigen können, ganz jenseits der ziemlich einseitigen Wechselbäder, mit denen die Spar- und Rüstungspolitik eines Staates sein Volk beglückt. Seine Existenz und die ihm notwendig erscheinenden Maßnahmen stellt er dabei nicht zur Disposition; wem das, was mit der Handlungsfreiheit der Politiker zustandekommt, nicht paßt, der muß sich schon etwas anderes einfallen lassen als wählen zu gehen, Welcher Parteimannschaft die verantwortungsvollen leitenden Posten der Nation zufallen, das wird allerdings entschieden. Die neu gewählte Regierung ist damit rechtens: Alles, was sie macht, beruht auf dem Votum des Volkes. Nachträglich geraten die harmlosen Kreuze zu einem ausgewachsenen Wunschkatalog der Wähler nach allen Notwendigkeiten, an denen Politiker sich jetzt zu schaffen machen.

Was Menschenrechte erst lohnend macht

Um alle diese Menschenrechte für lohnend zu befinden, ist nur eines nötig: der Nationalismus eines Bürgers, der die rechtlich verpflichtende Abhängigkeit seiner Existenz vom Staat als die Gewährung von lauter begrüßenswerten Möglichkeiten nimmt. Dann hält er sogar den Staat für ein Lebensmittel, das er keinesfalls missen möchte.

Diese demokratische Reife stellt sich in allen entwickelten Staaten ein, mögen die herrschaftlichen Umgangsformen, mit denen staatliche Souveräne für das harmonische Zusammenwirken von Handlungsfreiheit der Staatsgewalt und bürgerlichen Freiheitsrechten sorgen, manchen eklatanten Unterschied aufweisen. Auch im Sozialismus des Ostens kommen die Menschenrechte zustande: Das Rechtssubjekt, auf das der dortige Staat sich und seine Untertanen verpflichtet, ist der "sozialistische Mensch" - die Gewährleistung dieser Menschennatur erfordert freilich einige Abweichungen von den hiesigen Gebräuchen. Auf das matte Glück, arbeiten, wählen und seine Meinung äußern zu dürfen, braucht allerdings kein Sowjetmensch zu verzichten. Darin eine unerträgliche Verletzung der Menschenrechte zu sehen, zu deren Beseitigung westliche Freiheitskämpfer in leitenden staatlichen Positionen eine ganze NATO aufbieten, ist ein Beschluß, der sich auf das Menschenmaterial der UdSSR nur so weit bezieht, als diesem Staat das Existenzrecht abgesprochen wird. Dafür wird die heimische Mannschaft in Dienst genommen, weit über die Regelung der alltäglichen Lebensgewohnheiten hinaus. Für diese eröffnen sich ganz neue Menschenrechtsperspektiven, von denen der normale Mensch in seinem beschränkten Lebensumkreis nicht einmal träumen konnte. Für die Deutschen in Bayern und an der Ruhr kommt da das "Menschenrecht auf Heimat" zu Geltung. Das liegt jenseits der "unnatürlichen" Grenze und hört nicht bei Schlesien auf. Für die Sicherung des Menschenrechts auf Frieden, aber in Freiheit, kommt einiges auf diejenigen zu, die das Glück haben, hier schon in Freiheit leben zu können. Das Reich des Bösen kann menschenrechtlich nicht geduldet werden, so daß Fortschritte der menschlichen Freiheiten erst einmal über das Rüstungsbudget der westlichen Staaten laufen. Mit der "Menschenrechtswaffe" ist nämlich nicht viel auszurichten. Das passende Mittel, den Hunger nach Menschenwürde im Osten zu bedienen, sind die Raketen, die die russische Erde außer von ein paar Leuten auch von einem Unrechtsregime säubern.

Schade ist nur, daß auch bei dieser schönen Konsequenz der Menschenrechte ihr Hüter die Sache nicht selbst erledigt. Leider müssen die "Menschen" ihn verteidigen, wenn sie sich weiterhin ihre Rechte erhalten wollen. Und wenn sie nicht wollen, dann haben sie ihre Rechte sofort verwirkt, noch bevor sie ein Russe mit Füßen treten kann. Aber daran ist man ja aufgrund der Erfahrungen mit der Menschenwürde im demokratischen Alltag gewöhnt.

Ein sonderharer "Dienst der Politik am Menschen", auf den sich hürgerliche Staaten in ihren Verfassungspräambeln verpflichtet haben: Zu lehen, zu denken und die Schnauze aufzumachen, ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Recht, das der Staat gewährt.

In der Staatsgewalt, die über ihn verfügt, hat der Mensch sein Menschenrecht. Die Staatsordnung, in der er lebt, ist seine Menschennatur und auf die Einhaltung dieser Natur hat der Staat ein wachsames Auge.

Die größte Wertschätzung des Lebens hezeugt jeder Staat dadurch, daß er für Fälle vorsorgt, in denen das Leben der Leute nichts mehr wert ist, weil es zur Verteidigung des Lebensrechts, das Untertanen in ihrem Staat haben, eingesetzt wird.

Mit einer Versprechen auf Wohlstand und angenehmes Leben ist die Achtung der Menschenwürde nicht zu verwechseln. Der jedem Menschen innewohnensollende Wert, zu dessen Respektierung sich Staaten für zuständig erklären, geht auch durch Hunger, Armut und Not nicht flöten.

Den praktischen Test auf die Bekömmlichkeit von Freiheit und Gleichheit hält kein Rechtsstaat aus; er beantwortet ihn auch nicht mit der Abdankung der Staatsgewalt, sondern erleichtert sich um einige unpraktisch gewordene Umgangsformen des Regierens.

Die staatliche Garantie der Freiheitsrechte ist seiner Natur nach ein einziges Gebot, mit dem der Staat die Handlungsfreiheit seiner Bürger an seinen Willen bindet und auf die von ihm eingerichteten Umgangsformen festlegt.

Mit dem Schutz der Meinungsfreiheit ist die Pflicht zur grundsätzlichen Zustimmung zum Wirken des Staates gegeben, der sich als die Voraussetzung setzt, damit überhaupt einer das Maul aufmachen kann.

Für die Sicherung des Menschenrechts auf Frieden, aber in Freiheit, kommt einiges auf diejenigen zu, die das Glück haben, hier schon in Freiheit leben zu können.