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Dieser Artikel ist in der MSZ 10-1984 erschienen.

Systematik

Reagans neue Initiative gegenüber der Sowjetunion
DIE FORTSETZUNG DER KRIEGSDIPLOMATIE MIT ANDEREN MITTELN

Reagan hielt eine Rede vor der UN-Vollversammlung mit neuen Vorschlägen für diplomatische Kontakte zur SU; er traf sich drei Stunden mit Gromyko. Und schon stand die Weltöffentlichkeit Kopf über ein neues "historisches Datum": "Ende der Eiszeit?"

Es wurde über Wahltaktik und Präsidenteneinsicht spekuliert, Hoffnungen auf einen neuen Entspannungsprozeß kommen auf und vor übertriebenen Erwartungen wird gewarnt. Fleißig liest man im Mienenspiel und Begegnungsprotokoll der Mächtigen und schwadroniert über Hintergründe und Bedeutung - und eines steht felsenfest: Das Treffen war ein Fortschritt, weil es überhaupt stattfand; und Reagans Vorschläge sind ein Fortschritt, weil er überhaupt Vorschläge gemacht hat. "Reden ist besser als Schießen" lautet der eine öffentliche Tenor. "Verhandlungsangebote sind ein entspannungsförderndes Zugeständnis" heißt die zweite öffentliche Botschaft. Ja, wenn man beim Verhandeln gleich an Alternativen wie Schießen denkt; wenn man sich den diplomatischen Verkehr als eine mögliche Kette direkter Feindschaftserklärungen vorstellt, dann lassen sich leicht Fortschritte ausmachen. Bloß, Wahlkampf hin oder her - was ist denn nun eigentlich der Fortschritt dieser historischen Begegnung; mit welchen politischen Angeboten der Friedenserhaltung wirbt denn Reagan seine Wähler?

Der wiederaufgenommene Dialog: Die Sprache der Gewalt

'Entgegengekommen' ist Reagan Gromyko ja nur in einem einzigen Punkt. Im Gegensatz zum letzten Jahr, als die US-Regierung dem sowjetischen Außenminister die normale Einreise als UN-Delegierter verweigert hat, durfte er diesmal ungehindert reisen und wurde ins Weiße Haus eingeladen. Das war aber auch schon alles. In der Sache, über die Reagan mit Gromyko geredet hat, und in der diplomatischen Sprache, wie er darüber geredet hat - alles andere als Entgegenkommen: Die "gegenseitigen Standpunkte" sind "offen und ernsthaft" ausgetauscht und der altbekannte Anspruch dem sowjetischen Vertreter noch einmal höchst offiziell unterbreitet worden, daß immer mehr Raketen in Europa und anderswo ein gutes Recht der USA auf Verteidigung sind; daß Afghanistan sich nicht gehört und Menschenrechte nach Rußland gehören; daß antikommunistische Gewerkschaften in Polen im dringenden Interesse des Westens liegen... Oppositionsführer Mondale rühmt sich, Gromyko ziemlich dasselbe unter die Nase gerieben zu haben:

"Wir bestehen ouf einem starken Amerika, auf einer vernünftigen Verteidigung, und wir werden uns dovon nicht abbringen lassen... vietnamesische Invasion in Kambodscha und die Ereignisse in Afghanistan..., daß der polniichen Gewerkschaft Solidarität ihre Freiheit gegeben werden sollte."

Eine feine demokratische Arbeitsteilung! Nicht nur am traulichen Kaminfeuer hinter verschlossenen Türen hat Reagan Gromyko solche Ansprüche mitgeteilt, sondern im Umfeld des Besuchs alles für eine entsprechende Interpretation unternommen: Die Regierung warnte vor "übertriebenen Hoffnungen auf konkrete Ergebnisse", bekräftigte also ihren Willen, sich auf nichts einzulassen. Vor der Vollversammlung verkündete Reagan:

"Amerika hat seine Stärke wiedergewonnen. Jetzt sind wir bereit zu konstruktiven Verhandlungen."

Und Außenminister Shultz assistierte mit dem wohlbekannten Zusatz, die entschlossene 'Nachrüstung' und ihre unerschütterliche Fortsetzung hätten der Sowjetunion wohl klargemacht, daß sie sich bewegen müsse. Erst rüsten, dann reden! heißt also die regierungsamtliche Stellungnahme.

Klar, was da geredet wird! Und klar, daß bedingungslos weitergerüstet wird! Insofern sind die "erstaunlichen", "gemäßigten Töne" aus Washington nichts als die Anwendung des alten westlichen Grundsatzes: Die Russen verstehen nur die Sprache der Gewalt.

Wie wenn jemand noch Zweifel an seiner entschlossenen Gegnerschaft hegen könne, hat der amerikanische Präsident gleich nach der UNO-Rede gegenüber einem Hauptfeind der Sowjetunion in einer symbolträchtigen Region, dem kambodschanischen Prinzen Sihanouk, weltöffentlich versichert, "er habe seine Meinung nicht geändert, daß die Sowjetunion 'das Reich des Bösen' sei". Ganz neue Töne, oder?! Seine jüngsten 'Scherze' buchstabiert er Gromyko also noch einmal mit allem Ernst vor, seine Forderung nach einer Korrektur von 'Jalta' tischt er der Vormacht des Ostblocks regierungsamtlich auf - und teilt beständig der Öffentlichkeit mit, daß es haargenau nur darum geht.

Das "bemerkenswerte Angebot" des amerikanischen Präsidenten, daß er in seiner Rede gemacht hat, lautet:

"Verhandlungen über ein breites Themenspektrum, Austausch militärischer Informationen, auf Ministerebene vorbereitet und auf anschließenden Gipfeltreffen vertieft..., zum Beispiel Informationen über die Grundzüge des militärischen Fünf-Jahres-Planes über Waffenentwicklung und über die amerikanischen Pläne zur Waffenbeschaffung... Austausch von Manöverbeobachtern... Auf ein Klima des Verständnisses hinzuarbeiten, das Fehleinschätzungen beider Seiten vermeiden helfen und das Risiko direkter Konfrontation verringern soll..., einen größeren Schirm aufzubauen, unter dem die Abrüstungsverhandlungen stattfinden sollen ..., eine Perspektive für die nächsten 20 Jahre... Aufforderung an die Sowjetunion, sich zu einem grundsätzlichen Prozeß von Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten bereit zu erklären."

Am eigenen Aufrüstungsprogramm irgendetwas nachzulassen, wurde also nicht angeboten, Im Gegenteil! Die "weitreichenden Vorschläge", die "Zukunftsmusik" laufen auf die für selbstverständlich erachtete Forderung hinaus, die Sowjetunion müsse ihr Verlangen vergessen, der Westen habe sich in Rüstungsfragen verhandlungsbereit zu zeigen, müsse über die Pershings mit sich reden lassen, damit man sinnvoll verhandeln könne. Erst einmal haben sich die Russen mit den Raketen als Normalzustand abzufinden, heißt die Grundlage der "Erneuerung des Dialogs". Als ob die amerikanische Regierung nicht wüßte, daß die Sowjetunion längst diese Bedrohung für untragbar erklärt hat.

Zweitens werden alle laufenden oder abgebrochenen Verhandlungen und die sowjetischen Einwände, daß dort keine Fortschritte zu verzeichnen seien, weil der Westen unnachgiebig sei, mit einem Federstrich erledigt. Das Angebot reiht sich nämlich bruchlos in die politische Erpressungslinie der USA ein: An SALT II hielt sich die USA von Anfang an nicht, in den 'Nachrüstungsverhandlungen' wurde der Sowjetunion angeboten, sich zu entwaffnen bzw. die westliche Entschlossenheit zu neuen Waffendrohungen hinzunehmen, der sowjetische Vorschlag, über Weltraumwaffen zu verhandeln, wurde durch die Ausweitung des Verhandlungsgegenstandes auf alle möglichen Waffen torpediert. Und jetzt bietet Reagan Beziehungen und Gespräche über alle gegensätzlichen Punkte ohne irgendein konkretes Angebot an. An die Stelle der laufenden feindlichen Beziehungen soll als großartiger Fortschritt das Verhandeln überhaupt treten, "über alles" und damit nichts. Eine Art Generalmeinungsaustausch soll man sich vorstellen: über alle Weltkonflikte, Jalta, Rüstung. So trägt sich zur Abwechslung einmal der Wille vor, jede bestimmte Forderung der Sowjetunion abzuschmettern und die laufende Rüstung ganz und gar nicht zum Verhandlungsgegenstand machen zu lassen. Denn der Globaltitel 'Wettrüsten' ist als Gegenstand von Verhandlungen genauso unsinnig wie das Ziel einer "Verbesserung der Beziehungen" inhaltsleer ist. Der Wille, über nichts mehr zu verhandeln und keinen sowjetischen Einwand ernstzunehmen, ist also der Kern dieser "Zukunftsmusik".

Und dazu paßt dann haargenau die Frechheit, die eigene Feinddiplomatie und laufende Absage an Gespräche und Verhandlungen als eine Folge von Mißverständnissen zu interpretieren: Wir klären euch über unsere feindlichen Absichten auf! Das heißt vertrauensbildende Maßnahmen.

Die öffentliche Inszenierung

paßt dazu haargenau. Im Verein mit den Bündnispartnern und der Presse wird die Sowjetunion aufgefordert, sich nun endlich zu einer positiven Reaktion herbeizulassen. Da behauptet man dreist, die Absagen aus Moskau könnten unmöglich das letzte Wort sein, sie werde schon noch eine Weile die Vorschläge prüfen, denn man habe schließlich das Äußerste an Entgegenkommen gezeigt, wenn man überhaupt zum Reden bereit ist, und die Gegenseite sei damit doch wohl verpflichtet, gleich jeden Einwand gegen ihre wachsende Bedrohung und diplomatische Brüskierung fallenzulassen. Denn das ist der Sinn dieser Initiativen und ein Paradeerfolg demokratischen Wahlkampfs: Gemeinsam mit der eigenen Hofberichterstattung gibt man der eigenen Aufkündigung jedweden normalen diplomatischen Verkehrs die Form einer mangelnden sowjetischen Aufgeschlossenheit gegenüber eigenen weitreichenden Verständigungsangeboten. Wahlkampf und Heuchelei ist es also schon, was Reagan zu dieser neuen Initiative bewogen hat; bloß, Wahlkampf von der härtesten und Heuchelei von der unverblümtesten Sorte: Er rechnet eben damit, daß sein Grundsatz längst begriffen und anerkannt ist: Rüstung und Kapitulationsforderungen sind der einzig legitime Umgang mit der Sowjetunion. Wenn man den "Dialog" schon gar nicht mehr anders sich vorstellt, denn als unerbittliche Rüstungsdiplomatie, dann allerdings beteiligt sich die Öffentlichkeit an der Pflege der zwei rücksichtslosen Botschaften: Reden ist besser als Schießen; Verhandlungen anbieten ist ein einziges friedenserhaltendes Entgegenkommen und verpflichtet den Feind zur Selbstaufgabe. Wehe, wenn er dem nicht nachkommt! Worauf das ganze ja berechnet ist.

Die Sowjetunion

hat also nicht unrecht mit der Zurückweisung:

"In Wirklichkeit sind die Appelle für einen neuen Anfang jedoch Vorschläge, alle früher erreichten Abrüstungsuerhandlungen zu liquidieren und die abenteuerlichen und destabilisierenden Militärmaßnahmen der USA zu legalisieren."

Bloß nutzt es dagegen dann auch überhaupt nichts, sich mit dem amerikanischen Präsidenten zu treffen, ihm und der Öffentlichkeit die eigenen Bedingungen zu nennen, unter denen Verhandeln ohne Selbstaufgabe möglich wäre; gegen die USA und den BRD-Revänchismus zu agitieren und gleichzeitig zu dokumentieren, daß man an 'fairen' Verhandlungen interessiert wäre. Nichts unversucht zu lassen, um die Mahnung loszuwerden, daß auf dieser Basis eine Verständigung mit dem Westen nicht möglich ist - das ist das Gegenteil von Kampf gegen das NATO-Programm. Offenbar will der reale Sozialismus nicht wahrhaben, daß es dafür nur das Mittel gibt, dem Imperialismus seine demokratischen Völker abspenstig zu machen. Das ist allerdings etwas ganz anderes als das Interesse an friedlicher Koexistenz der Systeme und Wettrüsten zur Erhaltung des Friedens.