Info

Dieser Artikel ist in der MSZ 1-1984 erschienen.

Systematik

Peter Sloterdijk Hardy Krüger
ZWEI ZEITGENOSSEN ZIEHEN BILANZ

Daß gerade im Raketenjahr 1983 zwei Bücher wie Peter Sloterdijks "Kritik der zynischen Vernunft" und Hardy Krügers "Junge Unrast" zu Verkaufserfolgen wurden, ist mehr als ein zeitliches Zusammentreffen. Obwohl der eine eigentlich ein philosophisches Werk, der andere so etwas wie einen autobiographischen Roman schreiben wollte, sind die beiden nämlich just bei dem Lieblingsthema ihrer Zeitgenossen gelandet, die von der Politik und ihren in sie gesetzten Idealen enttäuscht sind: Gewissenserforschung, Standortbestimmung und Lebensmut für kommendes Ungemach.

Sie raten zu "guter Illusionslosigkeit" und dazu, über den öffentlichen Heucheleien nicht die echten Werte des Menschseins zu vergessen - und finden Anklang bei jenen, die in der alltäglichen Pflichterfüllung aller anderen einen von ihnen verantworteten wohldurchdachten Entschluß sehen wollen.

Vorstellung

Dementsprechend legen Sloterdijk/Krüger nicht geringen Wert auf die Feststellung, daß es sich bei ihnen um ungewöhnlich kritische Weltbürger handelt. Anpassung, sei's an liebgewordene Vorstellungen, sei's an die Gebote irgendeiner Herrschaft, ist ihnen wesensfremd. Jeden Tag brechen sie ein Tabu. Dem jungen Krüger bescheinigt schon der Vater ungezügelten Erkenntnisdrang - "Alle macht er rasend mit seinem 'Warum?'"(KR 75) -, der mit den Jahren nicht weniger wird:

"'Junge', sagte Florian, 'weißt du, was ich bei dir am meisten schätze? Deine ständige Suche nach der Wahrheit'." (KR 150)

Und Sloterdijk hat nicht nur Kant und Schopenhauer bereits im Elternhaus bewundert, ehe er sie gelesen hat; dieselbe Leidenschaft zur Infragestellung aller Autoritäten führt ihm noch heute die Feder:

"Zur 'nackten Wahrheit' wollen ist ein Motiv der verzweifelten Sinnlichkeit, die den Schleier der Konventionen, Lügen, Abstraktionen und Diskretionen zerreißen will, um zur Sache zu kommen. Dieses Motiv will ich verfolgen." (SL 28)

Derart schonungslose Wahrheitsfanatiker sind freilich längst bei der "Sache", zu der sie erst kommen wollen. Mit persönlicher Offenherzigkeit machen sie aus Wahrheit und Täuschung Charakterfragen und lassen eine redliche Gesinnung sich daran bewähren, ob sie auf den "Schein" der Dinge hereinfällt oder an die dahinter angesiedelte eigentliche "Sache" glaubt. Eine wohlmeinende Skepsis gegenüber der "Realität", das ist also der moralische Wert, als dessen Sachwalter von Jugend auf beide Autoren sich vorstellen.

Verlorene Illusionen?

Hardy Krügers bohrendes Fragen trug ihm beizeiten das Wissen darüber ein, was gute Menschen am nötigsten haben: einen Staat mit erstklassiger Besetzung an der Spitze. Seine diesbezügliche Vertrauensseligkeit erleidet ihren ersten Schock durch die Mitteilung, daß der weiland Führer des Dritten Reiches diesen Namen womöglich gar nicht verdiente:

"'Er besitzt keine Weisheit, Junge', flüsterte Florian. 'Und ohne Weisheit hat ein Staatsmann auf lange Sicht auch nicht Erfolg. Ein Staat wiederum, ein Staat ohne einen weisen Führer an der Spitze... Was wird aus einem solchen Staat?'" (KR 162)

Gemessen an diesem hohen Anspruch bleibt dem so Verhimmelten zwangsläufig die Blamage nicht erspart. Jung-Hardy, genannt Unrast, muß widerwillig den unglaublichen Leichtsinn zur Kenntnis nehmen, mit dem Hitler ausgerechnet durch Rüstung die Arbeitsplätze sichern wollte - ohne daran zu denken, daß dies letztlich nur durch Krieg finanzierbar ist. Da stellt sich doch der ganze Faschismus als bloßer "Scheinerfolg" heraus, und dem Volk gehen die Augen auf:

"'Am Anfang stand das Volk geschlossen hinter Hitler. Bei der Machtergreifung gab es sieben Millionen Arbeitslose. Sechs Jahre später hatte jeder Arbeit und Brot. Das nennt man Erfolg. Richtig?' 'Richtig.' 'Falsch.'"(Aber nicht deshalb falsch, weil der "Erfolg" für Arbeitsdienstler mit täglicher Erbsensuppe auch nur im Vergleich mit noch weniger einer ist, sondern deswegen:) "'Die Vollbeschäftigung war nur durch Hitlers gewaltige Aufrüstung möglich geworden.... Aber so etwas führt zwangsläufig zum Krieg: Man muß Länder erobern, Völker versklaven, für sich arbeiten lassen. Denn schließlich muß ja irgendwer diese ganzen Tanks und Flugzeuge und Kanonen auch bezahlen...'" (KR 171)

Nein, dies ist weder wirtschafts- noch rüstungspolitisch seriös! Richtig fertig mit dem Idol seiner Jugend ist Hardy allerdings erst dann, als er entdeckt, daß der törichte Führer nicht nur sich getäuscht, sondern mit der Usurpation ihm gar nicht zustehender Meriten auch noch den willigen Idealismus seiner Anhänger hinters Licht geführt hat. So ein Verstoß gegen Treu und Glauben erbittert den Freund der Wahrhaftigkeit natürlich zutiefst:

"Und dann las ich noch etwas Ungeheuerliches: Beim Tod des Präsidenten hatte er die Reichswehr auf sich vereidigt. Nicht auf Deutschland. Auf sich." (Wie kommt Hardy nur plötzlich auf diesen Unterschied?) "Nicht auf das Volk. Auf seinen Namen. Auf Adolf Hitler. ... Es war der Tag, an dem ich mich von meinem Eid befreite. ... Einem, der falsche Eide schwört, gelobe ich aus freiem Willen keine Treue. Und die Fahnen sind seine Fahnen. Er hat sie erfunden. Also sind sie auch nichts mehr wert." ( KR 222)

Lügen, nichts als Lügen! An diese höheren Weihen der Staatsgewalt - unechte Fahnen, man denke! - glaubt Junge Unrast ab sofort nicht mehr. Hätte er in jenen dunklen Jahren schon Zugang zu Sloterdijks Einsichten gehabt, wäre ihm die Enttäuschung vielleicht erspart geblieben. Dieser hätte ihm nämlich gesteckt, daß es sich hier um ein allgemeineres Problem handelt. Unglaubwürdigkeit ist ein Charakterzug nicht nur des speziellen Führers, sondern der heutigen Führer überhaupt:

"Denn Politik ist gestern und heute mehr denn je... ein bedrohliches Zwangsverhältnis von Menschen zueinander, eine Sphäre bedenklicher Karrieren und fragwürdiger Ambitionen, ein Mechanismus der Entfremdung, die Ebene" (sehr richtig! Nicht die Vollbeschäftigung, sondern die Ebene!) "des Krieges und des sozialen Unrechts..." (SL 213)

Und woran liegt's? Ihren eigenen Idealen ist die blöde Politik nicht treu, die Sloterdijk von Helmut Kohl/Schmidt gelernt und eingesehen hat:

"In dem Maß, wie sich die Vormacht" (= politische Herrschaft) "durch gute Ausübung legitimiert, überwindet sie ihren anfänglichen Gewaltcharakter und kann zurückfinden in eine relative Unschuld nämlich in einer Welt der Notwendigkeiten die Kunst des Möglichen zu üben." (SL 429)

So daß selbst einer, der Gewalt und ihre Legitimation ebensowenig unterscheiden kann wie Zwecke und Notwendigkeiten, sauer wird, wenn sogar demokratische Staaten diesen Unterschied von sich aus nicht mehr machen mögen:

"Ein relatives Zuviel an Gewalt, Unterdrückung und Usurpation begleitet selbst die am meisten um Legitimation und Rechtlichkeit bemühten Staatswesen." (SL 443)

Versteht sich, daß der Grund dieses immanenten Widerspruchs unmöglich in der Natur der ihrer Natur nach relativ unschuldigen Demokratie liegen kann. Hier muß Sloterdijk seinem Krüger beipflichten - irgend etwas kann mit dem Personal der Herrschaft, oben oder unten, nicht in Ordnung sein!

Psychologie der Macht und Ohnmacht

Wie er auf der einen Seite seinen enttäuschten Legitimationswunsch gleich in eine Bestimmung der Politik selbst verwandelt "In gewisser Weise sind 'herrschen' und 'lügen' Synonyme." (SL 401) -, geht Sloterdijk auch die unehrlichen Politiker radikal an. So radikal, daß von ihrem Geschäft der Politik nichts mehr übrigbleibt. Wo deren "Degenerationen" zur Rede stehen, da geht es um ein so hohes Ideal von Staatskunst, daß es weder mit Staat noch mit Kunst etwas zu tun hat. Politiker verfallen der Kritik als Exemplare einer angeblich sehr weit verbreiteten Geisteshaltung, nämlich eines reichlich diabolischen Willens zur Unehrlichkeit: Sloterdijk durchschaut sie als moderne Überbau-Zyniker. Daß es "zwei Ansichten" der Dinge gibt, "eine offizielle und eine inoffizielle, eine verhüllte und eine nackte" (SL 401), darf sich ja nicht daraus erklären, daß gerade die Berufung auf höchste Werte die Politik von Maßstäben befreit. Gebunden will der Philosoph sie voraussetzen dürfen. Verstöße gegen diesen treuherzigen Wahn sollen durchaus ein unvermeidliches "Bewußtseins"problem sein, und dieses "Problem" ist überhaupt der tiefe und eigentliche Sinn allen Weltgeschehens. Mit seinem

"Unbehagen, das die moderne Welt durchtränkt sieht von kulturellen Wahnwitzigkeiten, falschen Hoffnungen und deren Enttäuschung, vom Fortschritt des Verrückten und vom Stillstand der Vernunft",

übt Sloterdijk keine Kritik an irgend etwas, was es einfach nur gibt, sondern erbaut sich an seinem blöden und billigen, aber bestsellernden Einfall von einem "tiefen Riß",

"der durch die modernen Bewußtseine geht und der für alle Zeiten das Vernünftige und das Wirkliche, das, was man weiß, und das, was man tut, voneinander zu trennen scheint." (SL 399)

Ein frappierendes Phänomen, dieser Riß: Er hat gar nichts anderes zum Inhalt als Sloterdijks eigene Entlarvungsattitüde mit umgekehrtem Vorzeichen. Die Welt ist die Lüge, als welche zu durchschauen der Autor sie sich vorgenommen hat. Der Beweis liegt in der Durchführung dieses Schwachsinns. Der "Riß" hat eine komplette Geheimgeschichte, deren aufwendiger Enthüllung Sloterdijk die meisten seiner fast 1000 Seiten widmet. Ihr zufolge geht seit den alten Griechen jede wirkliche oder erfundene Verstellung und Täuschung justament auf die Maxime "Wissen ist Macht", also letztlich auf einen fatalen "Willen zum Wissen" zurück. Hinterfotzige Durchblicker an der Spitze der Sozialpyramide: Dieser Treppenwitz an Begründung der politischen Heuchelei dünkt einen Philosophen recht einleuchtend, der selbst die Ausübung politischer Gewalt nur für eine Art eher schlechten Philosophierens halten kann!

Ohne solch berufsbedingte Komplizierungen kommt freilich Hardy Normalverbraucher auf eben denselben Schluß, nur von der Seite der gutwilligen Mitmacher her. Auch diese, wie er seinen Vater in einem Sittenbild des Hitler-Wählers vortragen läßt, sind ja arg gespaltene Gesellen:

"Ich bin aus Überzeugung ein Gefolgsmann dieses Führers. Warum? Weil er uns alle aus einer großen Not befreit hat. Deshalb beuge ich mich auch dem Zwang. Warum? Manche Härten sind wohl unvermeidbar. Auf jeden Fall stemme ich mich nicht gegen den Wind. Warum? Hast du schon einmal einen Wald im Sturm gesehen? Bäume lehnen sich nach hinten, ergeben sich rückwärts der Gewalt." (KR 76)

Was es alles gibt! Wenn ein Bürger seinem Staat alles abnimmt, ihm dankbar ist und auch "manche Härten" für schlicht unvermeidbar hält, dann durchschaut er gleichzeitig den "Zwang" seiner Herrschaft, beugt sich ihm wider bessere Einsicht (welche denn?) und verhält sich überhaupt, wie die Bäume, ein bißchen feige, als würde er der Erfolgsaussichten wegen seinen eigentlich vorhandenen Willen zum Widerstand aufgeben! Ob nicht doch die Selbstanklage als "Opportunist" bzw. "Zyniker" geradezu ein Königsweg ist, alles mitzumachen, sich darin sehr realistisch vorzukommen, sich gleichzeitig die Gewissensfrage nicht zu schenken und mit einem "leider" guten Gewissens daraus hervorzugehen?

Mut zur Zukunft

Mit der Gewissensbürste des anständig-verantwortungslosen Rißbewußtseins hat die nationale Besinnung der beiden Buchhalter des Zeitgeists ihre Pflicht getan. Wie sie es in ihrer christlichen Erziehung gelernt haben, folgt dem Bekenntnis zur Sündhaftigkeit nun die Erneuerung des Glaubens ans Positive. Absichten und Interessen, die Streit heraufbeschwören könnten, kennen sie eh keine; innerlich zerrissene Menschen, Politiker oder Untertanen, sind auch wieder nicht von Grund auf schlecht; also wird sich schon irgendeine Hoffnung auf bessere Zeiten finden lassen. Wenn nicht in der Politik, wo Macht und Wissen sich gegenseitig korrumpieren, dann halt anderswo.

"In unseren besten Augenblicken, wenn vor lauter Gelingen auch das energischste Tun im Lassen aufgeht" (was meint er nur?) "und die Rhythmik des Lebendigen spontan uns trägt, kann sich der Mut plötzlich melden wie eine euphorische Klarheit oder ein wunderbar in sich gelassener Ernst. ... Im Licht solcher Geistesgegenwart ist der Bann der Wiederholungen in sich gebrochen." (SL 953)

Sloterdijk antwortet mit diesem wunderbar in sich gelassenen Schwachsinn offensichtlich auf das demselben Geiste entsprungene Desiderat Hardy Krügers:

"Ohne klare Köpfe, ohne Frohsinn, ohne Hoffnung, Lebensmut, ohne Freude auf das Morgen können wir uns (!) keinen neuen Staat aufbauen." (KR 327)

Bloß, wo nehmen wir diese "Freude" und jene "besten Augenblicke" her in dieser trostlosen Welt? Nun, daraus, daß die deutsche Individualität sage und schreibe "siebzigmillionenmal verschieden" (Stand 1945) vorhanden ist, und zwar "verwirrt, beschämt, böse, bitter, naiv, verbohrt, apathisch, gutmütig, verletzt, glücklich, verärgert, traurig, hoffnungsfroh, fleißig, abwartend.... Ja. Wir können Hoffnung haben." (KR 433)

Oder um mit Sloterdijk zu sprechen, der typisch philosophisch zur Substanz der eher begriffslosen Aufzählung Krügers vorstößt, indem er sie substantiviert:

"Man macht sich wohl selten klar, wie immens der Subversions(!)faktor in unserer Gesellschaft sein mag - eine Welt im Schatten, voll heimlicher Frechheiten und Realismen aller Art, voll Widerständen, Entlastungen, Machenschaften, Sinn für eigene Vorteile. Normalität besteht zur Hälfte (!) aus mikroskopischen Abweichungen von den Normen. Dieses Feld des Eigensinns, der kleinen Lebenskunst..." (SL 221)

kann einen Liebhaber so biederer Sitten schon erfreuen. Namentlich, weil die so gepriesene private Freiheit ihre Erfüllung ganz zweifellos darin findet, unbefriedigte Erwartungen aus anderen "Hälften der Normalität" auszuleben! Mit Wein, Weib und Gesang wird es - das entnehmen wir ellenlangen Schilderungen der beiden so verschiedenen Autoren - also noch heiter. Der reflexive Zugewinn bewährter Subversionstaktiken ist ja nicht zu übersehen:

"Frechheit aus der unteren Position ist wirksam, wenn sie bei ihrem Vorstoß reale Energien ausdrückt." (SL 220)

"'Wie klein er ist', sagte sie. 'Wie zart. Wie unschuldig. In Hamburg sagen sie: Lütt in de Hut, groot in de Wut'." (KR 242)

Und die verbleibenden Differenzen in strategischen Fragen -

Sloterdijk: "Manche Brüste jedoch haben die Süße von reifen Birnen, die so schwer und freundlich zu sich selber geworden sind, daß sie bei guter Gelegenheit vom Baum fallen in eine Hand, von der sie sich erkannt fühlen." (SL 281 f.)

Krüger: "'Silke', sagte ich. 'Du hast die schönsten Brüste der Welt. Sie sind nicht wie Birnen. Äpfel sind das. Herrliche, feste Äpfel. Gerade groß genug für meine Hände. Wenn sie größer wären, könnten meine Hände sie nicht umfassen'." (KR 331) -

werden sich um der Sache willen schon bereinigen lassen. Schließlich geht es, was zählen hier Partei- oder Standesgrenzen, um nichts Geringeres als den Geist, der "uns allen" in diesen schwierigen Zeiten adaquat ist!