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Dieser Artikel ist in der MSZ 4-1983 erschienen.
ZWEI FRONTSTAATEN, VON DEREN BODEN SCHON WIEDER KEIN KRIEG AUSGEHEN SOLL
Daß dieses Thema wieder ansteht, dazu haben nicht zuletzt die beiden deutschen Staaten ihren Beitrag geleistet, indem sie ihre jeweilige nationale Hälfte zu den im west-östlichen Bündnis erwünschten Leistungen angehalten haben.
Modell Deutschland Ost/West
Per Wirtschaftswunder und zielstrebiger Benützung des Weltmarkts zur zweiten imperialistischen Nation aufgestiegen, hat sich die BRD nunmehr auch die Krise in den ihr gebührenden Dimensionen erarbeitet. Anstatt dadurch besonders friedens- und kooperationswillig zu werden, eine Hoffnung, die im Osten immer noch geäußert wird, läßt sie sich davon in den Aufrüstungsanstrengungen nicht behelligen. Sie verfügt über einige Mittel, die Verteilung der Krisenkosten unter den Nationen mitzugestalten, genauso wie sie als rundum gefestigte Demokratie sehr reibungslos mit und an ihren "verwöhnten" Bürgern die Rückkehr zu den Tugenden der Nachkriegszeit durchführt.
Angesichts der Erfolge auf diesem Gebiet nimmt sich der alte DDR-Systemkonkurrenz-Glaube, die entscheidende Schlacht gegen den Imperialismus werde auf dem Gebiet des Massenkonsums geschlagen, geradezu liebenswert aus. Ausgerechnet wegen der friedlichen Koexistenz hätten nämlich die Brüder und Schwestern eigentlich immer das Doppelte fressen sollen wie wir:
"Die ökonomische Hauptaufgabe besteht darin, die Volkswirtschaft innerhalb weniger Jahre so zu entwickeln, daß die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung gegenüber der kapitalistischen Herrschaft umfassend bewiesen wird. Deshalb muß erreicht werden, daß der Pro-Kopf-Verbrauch der werktätigen Bevölkerung an allen wichtigen Lebensmitteln und Konsumgütern höher liegt als der Pro-Kopf-Verbrauch der Gesamtbevölkerung in Westdeutschland. Diese Aufgabe ist der Anteil unserer Republik am weltweiten Kampf für die friedliche Koexistenz und für den friedlichen Wettkampf zwischen der sozialistischen und der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. ... Die ökonomische Hauptaufgabe hat also einen tiefen politischen und sozialen Inhalt." (Ulbricht 1958)
Zwar hat die "bewußte Ausnutzung der ökonomischen Gesetze des Sozialismus durch den sozialistischen Staat auf der Grundlage von Prognosen, des Planungssystems, der wissenschaftlichen Führungstätigkeit und der gesellschaftlichen Kontrolle" die in dieses "System" gesetzten Erwartungen nur zum Teil erfüllt, so daß ein paar Relativierungen fällig waren. Erstens muß für die friedliche Koexistenz nicht nur gefressen werden:
"Nimmt man die vielfältigen Leistungen der Sozialpolitik des sozialistischen Staates hinzu und berücksichtigt die Bedeutung, die der hohe Stand unseres Bildungswesens und die kostenlose gesundheitliche Betreuung für den einzelnen haben, so ist das Lebensniveau der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik höher als in der BRD." (Neues Deutschland 79)
Zweitens entdeckte die SED auch die Gefahr des "Konsumterrors" und warnte vor der "Methode des Vergleichs des materiellen individuellen Konsums", weil sie vom
"Imperialismus angewandt wird, um eine noch immer vorhandene 'Rückständigkeit' des Sozialismus zu konstatieren, mit kapitalistischen Freizeitidolen und 'Konsumwünschen' die sozialistische Jugend zu verführen und so der ideologischen Arbeit der Partei der Arbeiterklasse entgegenzuwirken." (Forum 1972)
Aber auch die DDR hat ihr Wirtschaftswunder im Ostblock hingelegt. Das verdankt sich nicht dem die Nation letztlich doch irgendwie verbindenden legendären deutschen Arbeiterfleiß, sondern gerade der von hier aus immer so angefeindeten Tatsache, daß sich die DDR-Obrigkeit behaupten wollte. In der Konkurrenz zu einer Staatsmacht, die unentwegt das DDR-Volk als ihres reklamierte und praktisch abspenstig machte, fühlte sich die SED zu einem Beweis ganz eigener Art genötigt: Daß der Sozialismus mehr, mindestens soviel oder auch etwas zu bieten hat, war und ist der Beweiszweck der "ökonomischen Hauptaufgabe". Die Beweislast ist wie bei allen solchen staatlichen Aufgaben auf die Bevölkerung entfallen, deren Leistungswille dementsprechend rücksichtslos gefordert wurde, und die, wie in der BRD, ihre Kriegsschuld vor allem durch Fleiß, Anspruchslosigkeit und die Dankbarkeit, es wieder zu ein bißchen Wohlstand bringen zu können, abarbeitete. In den entsprechenden Methoden, Lohndifferenzierung, Schichtarbeit u.ä. ist die DDR nicht umsonst führend im Ostblock, so daß sich auch jenseits des Eisernen Vorhangs das Märchen vom deutschen Arbeitstier hält.
"Krisensymptome" hat jetzt auch die DDR zu verzeichnen, allerdings die ihres "neuen Typs". Die Resultate des Westhandels im Verein mit den Wirkungen des vom Westen beschlossenen Wirtschaftskriegs: Schulden, Kreditrestriktionen, vermehrte Exportnotwendigkeit, entsprechende Lebensmittelkürzungen und Verpflichtungen, nicht nur gegenüber Polen. Bisher gestattet die deutsche sozialistische Volkswirtschaft ihren Chefs die Erledigung dieser "Verpflichtungen" mit einer im Westen bestaunten Pünktlichkeit. Und sie gestattet auch einige aus dem RGW-Rahmen fallende Wachstumsprozente. Aber die SED hat auch bereits den Kampf um "ökonomische Stabilität" ausgerufen, der betonte Vertragstreue gegenüber dem Westen mit größerer Distanz gegenüber den Verpflichtungen der "sozialistischen Solidarität" vereint.
Der bisherige in Sachen Ökonomie und Linientreue musterhafte Bruderstaat schlägt gegenüber dem Restbündnis - mit Ausnahme der SU selbstverständlich - Töne an, die schon ziemlich von der DDR-üblichen Rhetorik "brüderlicher Hilfe" abweichen. Einiges will man sich nämlich nicht mehr leisten:
"Vorrangig kapazitätsbedingte Kooperationen wurden in der Vergangenheit mitunter organisiert, ohne die Möglichkeiten einer Kapazitätserweiterung in der eigenen Volkswirtschaft durch Rationalisierung genügend geprüft zu haben, ohne ausreichende Analyse besserer Alternativvarianten der Eigenproduktion oder der internationalen Arbeitsteilung auf anderen korrespondierenden Gebieten... In der Phase der noch enger werdenden und konsequenter auf Intensivierung ausgerichteten Zusammenarbeit der RGW-Mitgliedsländer haben Maßnahmen der internationalen Spezialisierung nur (!) Bestand und erfüllen ihren Sinn, wenn (!) sie von gegenseitigem Vorteil sind und für die Beteiligten einen Effektivitätszuwachs bringen." (Karl Morgenstern. Zur wachsenden Rolle der sozialistischen internationalen Kooperation in Verbindung mit der Spezialisierung)
Damit werden allerdings keine kompensatorischen Maßnahmen, sondern nur die Absicht angekündigt, sich in diesem Bereich in Zukunft Kosten zu sparen. Denn über die Waffe, sich vermittels des Kapitals an anderen Nationen schadlos zu halten - oder wie die BRD die Schäden auf andere Nationen abzuwälzen und dafür zu sorgen, daß möglichst englische und französische Arbeiter außer Brot gesetzt werden -, verfügt eine sozialistische Planwirtschaft nun einmal nicht.
Nach innen werden Appelle zur Sparsamkeit und intensiverer Nutzung der Ressourcen losgelassen. Während Kapital und Staat an der Lohnarbeit sparen und im Modell Deutschland der Pauperismus zur Alltäglichkeit wird, bekommen DDR-Bürger zu hören, daß sie gemeinsam mit der Partei darum zu kämpfen haben, daß der erreichte Wohlstand erhalten bleibt. Ihr Beitrag besteht darin, möglichst noch mehr nützliche Sachen für Quelle und Otto-Versand zu "erkämpfen", dabei alle "Reserven" auszuschöpfen und zu bedenken,
"daß nicht abgemähte Straßengräben, unbewirtschaftete Kleinst- und Restflächen deutlich machen, daß sich noch nicht überall die geforderte Einstellung zum Boden zeigt. Schon der Genosse Honecker hat auf dem Bauernkongreß gefordert, daß der Grabenrand genutzt werden müsse."
Wäre der Massenkonsum wirklich ein Kriterium des Systemvergleichs und der Systemvergleich etwas anderes als eine Treueerklärung zum eigenen Staat, hätte sich die DDR gerechterweise jetzt eine Umzugsbewegung aus Westdeutschland verdient. Außerdem verfügt sie über schier unverwüstliche Arbeitsplätze. Aber Staaten funktionieren eben nicht aufgrund der Bestechung ihrer Bürger mit Kassettenrecordern. Schließlich ist auch das "Gebilde" seit geraumer Zeit eines, dessen Bürger nicht bloß weglaufen.
Zwei sehr solide Reiche deutscher Nation
Die Wiedervereinigungspolitik der "menschlichen Erleichterungen" hat zwar der "Konsolidierung des Honecker-Regimes" nicht Einhalt gebieten können - ein im übrigen auch etwas unbescheidenes Ziel -, hat aber ihre Erfolge in dem merkwürdigen Resultat, daß die Bürger der DDR durchaus auch die Bundesregierung als irgendwie für sie zuständige Instanz betrachten. Während kaum ein Wähler hierzulande daran geglaubt hat, daß der Regierungswechsel viel ändern würde, zeigten sich ausgerechnet DDR-Bürger äußerst besorgt:
"Ein Familienvater erinnert ungefragt auch sofort an Adenauer. Man wisse doch, wie so etwas ablaufe, eine CDU-Regierung brauche Erfolge; die könne sie sich in der Polemik mit der SED billig holen. 'Bloß, wir sind die Dummen. Jetzt ist alles aus. Alles Asche' kommentierte er. Ein Dritter berichtet, in seinem Ostberliner Betrieb sei man sich am Freitag schnell einig gewesen, daß es letzt an die 'Errungenschaften' der letzten 13 Jahre deutsch-deutscher Zusammenarbeit gehen könne. Eine Hausfrau in Sachsen erzählt aufgeregt, sie habe am Freitag erstmal auf Vorrat eingekauft, als sie die Nachrichten aus dem Westen gehört habe. Wissen könne man ja nie." (Frankfurter Rundschau, 20.9.82)
Da hat die deutsch-deutsche Politik ein besonders schönes Staatsbürgerbewußtsein zustandegebracht: Eines, das gleich zwei Regierungen für zuständig für sich hält, gegen keine von beiden etwas hat, deren nach wie vor bekannten Gegensatz für so etwas wie eine unabänderliche Geschäftsbedingung hält, und das schließlich so brav ist, daß es weder gegen sein Regime seinen (vom Westen immer noch befohlenen) Freiheitsdrang anmeldet, noch gegen die imperialistische und revanchistische BRD den (vom Osten längst vernächlässigten) Klassenhaß.
Daß die Anerkennung bei den Erfolgskriterien des eigenen Staats nach wie vor an erster Stelle steht, nach der Wende zu den "besonderen Beziehungen" ausgerechnet immer dem deutschen Konkurrenzstaat, der überhaupt der Grund und der Protagonist der Nicht-Anerkennung ist, abgerungen werden soll und aus jeder Sorte innerdeutscher Begegnung auch irgendwie herausgeleiert wird, hat auch bei den DDR-Bürgern seine Wirkung getan: Sie haben sich die Meinung zugelegt, daß das Gebaren bundesdeutscher Politiker ein wichtiger Hebel ist, damit sich in ihren Lebensverhältnissen etwas ändert, und daß eine "gutnachbarliche Zusammenarbeit" der beiden deutschen Staaten dem "beiderseitigen" und irgendwie auch ihrem "Vorteil" dient. Das beißt sich weder mit der gründlichen ML-Ausbildung, ohne die man aus keiner DDR-Schule herauskommt, weil diese "wissenschaftliche Weltanschauung" als allgemeine "Perspektive" für die "konkreten Klassenkämpfe" nicht mehr viel hergibt, noch mit einem sehr DDR-nationalen Standpunkt gegenüber der herablassenden BRD-Volksmeinung:
"Bei der Messe hatten wir einen Logiergast, einen jungen Techniker aus dem Ruhrgebiet, der irgendeine Maschine warten mußte. Er hat sich über alles lustig gemacht, über unseren Trabant, über unsere kleine Wohnung, über unseren Schwarz-Weiß-Fernseher. Nur, wenn er hier geboren wäre, hätte er eine kleinere Wohnung und - bei seiner Stellung und seinem Alter - nicht einmal einen Trabi"
Schließlich muß es anständige Bürger, die tagaus, tagein ihre Pflicht erfüllen, und wenn sie scnon nicht viel davon haben, doch immerhin nicht darauf verzichten wollen, von ihrer Leistung einiges zu halten, erbosen, wenn ihnen vom Westen her pausenlos erklärt wird, ihr ganzer Staat, ihre ganzen Leistungen und, ihr ganzer Wohlstand wären nichts wert. So daß DDRler bei der Fußball-WM bundesdeutsche Siege mit gesamtdeutschem Stolz nehmen, bundesdeutsche Niederlagen mit DDR-Schadenfreude.
Was immer - hierzulande an Märchen aufgetischt wird über das Rätsel, daß die Brüder und Schwestern durchaus für ihre DDR sind, obwohl sie eigentlich uns gehören und wir ihnen das auch immer wieder sagen, ein Rätsel ist das nicht, und auch die der SED nachgesagten Kunststücke der ideologischen Abgrenzung und der "Züchtung" eines eigenen Nationalbewußtseins sind nicht der Grund. Das Gewaltmonopol endgültig klargestellt, ist schließlich auch die DDR ein sehr normales Gemeinwesen, dem die in die Pflicht genommenen Bürger neben ihren Leistungen und ihren opportunistischen Berechnungen auch den schuldigen Respekt nicht versagen.
Personenkult und deutsche Feier
Beide deutsche Staaten veranstalten unter Anteilnahme und Mitwirkung ihrer Bürger ihre Feiern, die sich im Grad der Idiotie und Staatsverherrlichung in nichts nachstehen. Politiker hüben wie drüben nehmen ihr Massenbad, und die öffentlich gepredigte Moral setzt ihre Unverschämtheiten in die Welt, ohne auf nennenswerte Kritik zu -stoßen.
"Von einem Abend bei Erich Honecker berichtet die Schauspielerin und Sängerin Erika May. Als der Abend fortgeschritten war, hätten die sowjetischen Genossen Volksweisen angestimmt..., entstand so etwas wie eine Art Liederwettbewerb. Den Sieg trug ohne Zweifel Erich Honecker davon. Sein gesunder kräftiger Tenor übertönte mühelos die aufgelockerte fröhliche Runde. Er brauchte kein Mikrophon."
"Personenkult? Personenkult!" kommentiert die "Frankfurter Rundschau".
"Und mehr als nur einmal hatten Freunde und Begleiter, die in seiner unmittelbaren Nähe standen, wenn er im hessischen Wahlkampf redete, die beklemmende Angst, der Mann, der dort mit starken Worten die Menge begeisterte, könne plötzlich umfallen...
Es widerstrebt ihm sichtlich, über solche Schwächeanfälle zu reden. Was Klaus Bölling darüber zu Papier brachte, ist dem Publikum wahrscheinlich nur deshalb in seiner tatsächlichen Bedeutung verborgen geblieben, weil es immer wieder nur in den Text eingestreut war..." usw. usf. (Süddeutsche Zeitung)
Personenkult?
"Verstärkte Ideologisierung und Indoktrinierung" (FAZ)
in der DDR hören sich so an:
"Unduldbar ist und bleibt eine geschichtspessimistische ignorante Grundposition gegenüber dem realen Sozialisnius, gleich ob sie ein Jüngerer oder Erfahrener einnimmt. Auf diese Weise kann die Welt nicht geistig erschlossen werden." (FDJ-Sekretär König auf der Kulturkonferenz der FDJ im Oktober 82)
Freiheitliche Aufklärung und geistige Führung in der BRD hören sich so an:
"Wir wollen und können diese Probleme meistern; wir dürfen aber nicht in Resignation und Zukunftsangst verfallen; wir haben alle politischen, materiellen und alle menschlichen Voraussetzungen, unsere Schwierigkeiten zu überwinden und mit Zuversicht und Optimismus ins neue Jahr zu gehen. Nur wenn jeder bereit ist, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten einzusetzen, und wenn jeder seine Fähigkeiten einbringt, kann der Aufschwung gelingen. Aus vielen Gesprächen und Briefen weiß ich, daß Sie dazu bereit sind, sich diesen Aufgaben zu stellen." (Kohl zum neuen Jahr)
Die DDR feiert sich in einem ganzen Martin-Luther-Jahr. Den Besuchern will man
"verdeutlichen, wie die DDR das Erbe Martin Luthers in ihre Obhut genommen hat. Das in der DDR Geleistete soll als Errungenschaft allen Klassen und Schichten nahegebracht werden. Während die früher in Deutschland herrschenden Klassen viel Mißbrauch mit Martin Luther getrieben haben, bemüht sich die DDR, Luthers Lebensleistung von solchen entstellenden Wertungen zu reinigen." (Götting, Vorsitzender der CDU/Ost und Vorsitzender des DDR-Martin-Luther-Komitees)
Mit Martin Luther und seinen Leistungen für die deutsche Nation, "Schriftsprache, Erneuerung des Volkslebens, Wirkungen auf Wissenschaft, Bildungswesen und Kunst" würdigt sich eine Nation, die keinen engen klassenkämpferischen Blickwinkel mehr nötig haben will, sondern alle deutschen Kulturleistungen als ihre Tradition beansprucht. Die BRD feiert dieses Jahr 50 Jahre "Machtergreifung" als eine Nation, die sich wegen ihrer Vergangenheit nichts vorzuwerfen braucht, weil sie selbst die Verurteilung des Faschismus vollzieht. Eine Verurteilung, die mittlerweile den Faschismus als eine überflüssige Entgleisung, als Un-Staat, der jeder staatlichen Raison widersprochen hat, als ideologische Verwirrung, getrennt von vielen akzeptablen Leistungen, zusammenfaßt: als eine Episode der Un- Ordnung erklärt, so daß das positive Selbstbewußtsein der bundesdeutschen Vergangenbeitsbewältigung sich endlich von dem umständlichen Verfahren befreit, sich nur unter demokratischen Vorbehalten für seinen Staat erklären zu dürfen. Nicht der Verstoß gegen demokratische Ideale, sondern der gegen die Effektivität der Herrschaft und die Notwendigkeiten des Regierens soll es jetzt sein, anhand dessen man den Faschismus zu verurteilen hat. Explizit gemacht im Hinweis, daß ein betont demokratischer Antifaschismus, der immer erst die Bedingungen für den Gebrauch der Staatsgewalt aufmachen will, sich vor der Gefahr der Miesmacherei hüten muß, die schließlich den Faschismus hat hochkommen lassen. Auf beiden Seiten der Mauer feiern also die deutschen Staaten ihr nationales Selbstbewußtsein - mit dem bezeichnenden Unterschied: die DDR feiert ihr Ethos als eigene Nation mit viel "Humanität", die sich endlich zu ihrer ziemlich ganzen vergangenen Kultur bekennt; die BRD feiert sich mit einem überwältigenden Bekenntnis zur Ordnung, die sich das deutsche Volk nach der faschistischen Unordnung geschaffen hat und ohne alle Umschweife lieben darf.
Die beiden Deutschlands - die treuesten Vasallen ihres Bündnisses
Beide deutsche Staaten haben aus ihrer Not eine Tugend gemacht, aus der Tatsache, als Hälfte eines gescheiterten Großdeutschland nur unter besonderen Kautelen des jeweiligen Staatenbündnisses wieder zum Verkebr zugelassen worden zu sein, die Methode, sich als die ergebensten und linientreusten Partner im Bündnis wieder hochzuarbeiten. Die DDR hat sich die Treue zur Sowjetunion demonstrativ in die Verfassung hineingeschrieben und hält ihr Volk zum Russisch-Lernen und zu völkerverbindenden Müttertreffen im Rahmen der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft an. Die BRD hat ebenfalls nie Zweifel an der Bedeutung der amerikanischen Freunde "für uns" aufkommen lassen.
Die jeweilige Berechnung ist allerdings - je nach Bündnis - unterschiedlich aufgegangen. Die DDR hat sich der sowjetischen Auffassung von Friedens- und Entspannungspolitik subsumiert mit dem Resultat, daß sie die gänzliche Anerkennung in diesem Leben nie mehr bekommt und nach wie vor rund um die Welt mit dem Beweis ihrer staatlichen Respektabilität befaßt ist. Unter dem sowjetischen Zwang zu "gutnachbarlichen Beziehungen" mit der BRD hat sie sich schließlich darauf verlegt, ausgerechnet den Verkehr mit dem Staat, der ihr den Zugang zur Staatenwelt bestreitet, zum Mittel der eigenen Aufwertung zu machen. So gerät einerseits der Besuch des Bundeskanzlers zu einem absolut höchstklassigen Staatsakt, demgegenüber ein Breschnew-Besuch als langweilige Routine abfällt. Auf der Leipziger Messe begrüßt der Genosse Generalsekretär die Repräsentanten des deutschen "Monopolkapitals" wie Duzfreunde und kann sich kaum bremsen in seinen Andeutungen, was die vereinte deutsche Wirtschaftskraft noch alles zustandebringen könnte. Andererseits müssen immer wieder von Zeit zu Zeit die revanchistischen Kräfte in der BRD gebrandmarkt werden, die weder die, eigene Staatsbürgerschaft, noch die Grenze, noch die eigene Justiz anerkennen. Wer die Kreise eigentlich sein sollen, nachdem die DDR-Oberen sich immer nur mit freundlich händeschüttelnden BRD-Repräsentanten abbilden lassen, wird einem in der DDR unter Garantie niemand erklären können.
Die BRD hat ihre Treue dank der Natur ihres Bündnisses mit der Teilnahme am Imperialismus gelohnt bekommen und mit Hilfe der "deutschen Wertarbeit" ausgenutzt. So etabliert man sich denn auch als ein Macher, dessen politisches Wohlwollen gefragt ist, bei dem folglich Negerfürsten und Ölscheichs aus eigenem Antrieb erscheinen, ohne durch extra Angebote von Freundschaftsverträgen mit viel Kultur, schulischer und sonstiger Entwicklungshilfe angelockt werden zu müssen. So sorgt man dafür, daß international Deutschland = BRD ist, obwohl doch die DDR die größte Sportnation der Welt ist und, gemessen am Verhältnis Medaillen/Bevölkerungszahl, in den siebziger Jahren alle Weltmeisterschaften, Europameisterschaften und Olympischen Spiele gewonnen hat. So macht man sich auch zum Ansprechpartner für den gegnerischen Block, dessen Chefs immer eigens um deutsche Entspannung und deutschen Frieden ersuchen, während amerikanische Präsidenten keine Ahnung davon haben, daß Berlin die Hauptstadt der DDR ist, geschweige denn einen Grund, dahin zu reisen. So hat man sich auch zeitweilig den Schein von Souveränität leisten können, in der Weltpolitik als unabhängiger Schlichter aufzutreten, mit einem erlaubten Antiamerikanismus den europäischen Standpunkt einzubringen, oder sich unter leicht geänderten weltpolitischen Bedingungen immerhin noch als der Vermittler in Szene zu setzen, der die Supermächte zum Miteinander-Reden bewegt. Die außenpolitischen Erfolge der DDR dagegen sehen Jahr um Jahr unverändert so aus, daß sie unermüdlich an der Seite der Sowjetunion für den Frieden gekämpft hat. Und die Versuche, die "besonderen Beziehungen" einmal zugunsten des Ostens auszunützen und der BRD die Nachrüstung als Verstoß gegen die hoffnnngsrolle, gemeinschaftlich-deutsche Perspektive auszureden, scheitern an mangelnder Beachtung. Aber schließlich haben die Fortschritte der gemeinsamen NATO-Weltpolitik nunmehr ebenfalls eine (auch der Erscheinungsweise nach) unbedingte deutsch-amerikanische Freundschaft auf die Tagesordnung gesetzt. BRD-Politiker verzichten zwar ebensowenig auf die Albernheiten, ihre staatlichen Direktiven dem Bürger draußen im Lande als Herzensbedürfnis aufzudrängen, demgemäß man sich zu Weihnachten mittlerweile Ami-Soldaten einladen soll. Aber auch ohne solche Reklame organisieren sie das BRD-Volk zu einer einzigen deutsch-amerikanischen Freundschaftsgesellschaft, die den ehemaligen Besatzungstruppen und zwischenzeitlich immer zu "unserem Schutz" hier gewesenen US-Divisionen die für ein gestiegenes "Schutzbedürfnis" erforderlichen Freundschaftsdienste erweist, genügend Bruttosozialprodukt für die Verteidigungskosten erwirtschaftet, Autobahnen und Flugplätze baut, Munitions- und Giftgaslager anlegt und neue Quartiere, näher an der Grenze, hinstellt.
Ein eindeutiges militärisches Kräfteverhältnis
Als geteilte Nation besitzen die beiden Deutschlands nach wie vor keine ordentliche Staatsgrenze, aber eine Front, nach übereinstimmender west-östlicher Meinung die Front. Für die haben sich beide deutsche Staaten, seit es sie gibt, gerüstet und aus der gemeinsamen deutschen Kalamität, wegen dieser Front auch als das künftige Schlachtfeld eingeplant zu sein, je nach Bündnis ihre unterschiedlichen Konsequenzen gezogen. Die DDR unterstützt zur Verteidigung ihrer Staatsgrenze nach Kräften die Rote Armee, bringt mittlerweile 175000 Mann auf die Beine, hat sich den Ruf erworben, im Warschauer Pakt die am besten ausgebildete und gedrillte Teilstreitkraft zu stellen, und muß sich, was das übrige betrifft; ganz auf die Weisheit der sowjetischen Friedenspolitik und die Schlagkraft der sowjetischen Friedenswaffen verlassen. Als strategischer Beitrag der NVA sind Störmanöver im Grenzbereich vorgesehen; darüber hinaus führt die DDR Übungen zur Zivilverteidigung in großem Maßstab durch, was hier ihren mangelnden Friedenswillen zweifelsfrei beweist.
Die BRD hat die deutsche Kalamität seit jeher anders "bewältigt" mit ihrer Strategie der Vorwärtsverteidigung, nach der die Funktion des Schlachtfelds vor allem der anderen deutschen Hälfte sowie der CSSR und Polen zugedacht ist. Um dieser Strategie zu einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu verhelfen und auch die anderen NATO-Partner dafür zu gewinnen, ist die Bundeswehr mit ihrer 500000-Mann-Armee, ihren 3 Millionen Reservisten (drei Millionen deutsche Soldaten begannen 1941 das Unternehmen "Barbarossa") zu der schlagkräftigsten und konventionell am besten ausgerüsteten europäischen Streitmacht ausgebaut worden. Deren Schutz möchten deutsche und amerikanische Politiker daher auch gerne die Abschreckungswaffen anvertrauen, mit denen die Sowjetunion sich entweder auf Null abrüsten lassen darf oder ein eigenes europäisches Nukleargleichgewicht präsentiert bekommt. Als Raketenabschußbasis und entsprechendes Zielgebiet für den Gegner eingerichtet, ist das Sicherheitsbedürfnis der BRD natürlich ganz besonders gewachsen.
Die nächste bundesrepublikanische Aufrüstungsetappe hat die übereinstimmende Meinung auf ihrer Seite, daß die atomare Schwelle unbedingt erhöht werden muß. Der Rogers-Plan kalkuliert dabei auch die andere deutsche Nation fest ein: Die entscheidenden konventionellen Erfolge, die in der ersten Phase erreicht werden müssen, finden größtenteils schon östlich der DDR statt.
Wegen ihrer umfassenden Friedensarbeit kann die bundesdeutsche Öffentlichkeit eines überhaupt nicht leiden: den "aggressiven Militarismus", mit dem die SED ihre Bürger indoktriniert. Die Wehrerziehung der DDR leistet sich nämlich den Glauben, die Verteidigungsfähigkeit ihrer Republik zu stärken, indem sie ihre Kindergartenzöglinge das Lied vom Panzerführer Willibald singen und die jungen Pioniere frühzeitig mit Miniatur-Kriegsgerät vertraut werden läßt. Der Bevölkerung wird ausgerechnet mit Geschichten aus der Zeit des Mauerbaus und damaligen Zwischenfällen an der Staatsgrenze die Notwendigkeit der Verteidigung erläutert und in vielen Freundschaftsveranstaltungen die Zuneigung zu den eigenen Soldaten nahegelegt. Und daraus soll nun eine ungeheure Liebe zu den Waffen und eine entsprechend aggressive Kriegsbereitschaft, kurz: die behauptete Militarisierung der DDR-Gesellschaft hervorgehen. Diese Art BRD-Hetze nimmt sich die Freiheit, das Kriegführen ziemlich unmilitärisch als Frage der subjektiven Begeisterung der Bevölkerung zu nehmen. Als ob die Mitwirkung der Bevölkerung am Krieg nicht schon längst vorher mit der Zustimmung zur jeweiligen Politik und deren Notwendigkeiten feststünde, die schließlich den Verteidigungsfall eintreten lassen. Diese Zustimmung und die damit verbundenen "friedlichen" Staatsdienste, mit denen die Staaten ihre Wehrbereitschaft bestreiten, haben beide deutsche Staaten längst schon organisiert. Im übrigen halten auch bundesdeutsche Friedenspolitiker es keineswegs für überflüssig, das Bild der Bundeswehr in der Öffentlichkeit aufzupolieren und die Schulkinder in die Kasernen einzuladen.
Die speziell bundesrepublikanische "Wehrerziehung" kommt ironischerweise gerade deshalb, weil sie direkter auf den Kern der Sache zu sprechen kommt, gar nicht in den Verdacht, "Wehrerziehung" zu sein: Die deutsche Formulierung des NATO-Zwecks, als halbe Nation an einer offenen Frage zu leiden, die irgendwann einmal geklärt werden muß, soll jetzt endlich wieder ihrer Bedeutung entsprechend in den Lehrplänen gewürdigt werden, obwohl sie schon immer drinsteht.
In seiner Neujahrsansprache hat der Bundeskanzler auch da die geistige Führung übernommen:
"Uns schmerzt die Teilung unseres eigenen Vaterlands. Mauer und Stacheldraht führen uns täglich vor Augen, was die Verletzung der Menschenrechte bedeutet. Es bleibt die Verpflichtung unserer Verfassung, die Einheit der Nation zu wahren und die Teilung unseres Vaterlandes zu überwinden."
Der Führer der militaristischen anderen Hälfte der Nation dagegen erinnerte
"an die Verpflichtuag beider Staaten zum Frieden. Die gutnachbarlichen Beziehungen zwischen der DDR und Bundesrepublik dienen der Verwandlung Europas aus einem Kontinent der Spannungen und der Kriege in einen Raum friedlicher Zusammenarbeit."
Unbeeindruckt von der eigenen "Warnung vor großdeutschen Illusionen" gab der kommunistische Generalsekretär im weiteren aber seinem Vertrauen in den
"vom Bundeskanzler Helmut Kohl beschworenen Willen der neuen Bonner Reeierune zu einer Kontinuität in der bundesdeutschen Außenpolitik"
Ausdruck. Auch "Kontinuität" wird in der DDR anders buchstabiert als in der BRD, wobei die Ostdeutschen immer noch an ihrer friedlichen Interpretation festhalten; während die Westdeutschen die ihre zunehmend deutlicher praktizieren.