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Dieser Artikel ist in der MSZ 3-1983 erschienen.

Systematik

Britischer Unilateralismus
DER RAFFINIERTE MULTILATERALISMUS

Unilateralismus, einseitige atomare Abrüstung innerhalb der nächsten Legislaturperiode im Falle eines Labour-Siegs, das hat sich die englische Arbeiterpartei für den kommenden Wahlkampf auf ihre Fahnen geschrieben.

Die Presse liefert das erwünschte Echo: "Radikalstes Programm der Labourpartei seit Attlee." (The Guardian) Dabei sind die Schecks für die meisten der jetzt stationierten Waffen von Labourfinanzministern unterzeichnet. Und Labours Verteidigungsminister hat noch im letzten Wahlkampf mit der in Europa einzigartigen englischen Schlagfertigkeit angegeben:

"Großbritannien ist die einzige europäische Nation mit einem Beitrag zu jedem der drei Elemente der NATO-Triade. ...

Um das volle Spektrum der Abschreckung aufrecht zuerhalten und die ganze Palette der Verteidigungsmöglichkeiten zu präsentieren, braucht die Allianz verschiedenste atomare Gefechtsfeldwaffen, verbunden mit konventioneller Verteidigung auf der einen und mit strategischer Atomstreitmacht auf der anderen Seite. Ihr kontrollierter, glaubwürdiger und effektiver Einsatz muß gewährleistet sein." (Broschüre des Labour-Verteidigungsministeriums 1978)

Jedermann in England weiß, daß Labour ein Wahlprogramm braucht und daß sie sich dafür den Unilateralismus hat einfallen lassen: Die Radikalität speist sich allein aus dei Tatsache, daß England über eigene Atomwaffen verfügt und sich von daher überhaupt erst die Alternative der atomaren Abrüstung stellt. Als Partei in der Opposition hat sie eine ganze Reihe von Alternativen. Die erste, daß die Regierung u wenig für die nationale Verteidigung tue, fällt angesichts der Rüstungsinvestitionen der Regierung von vornherein unter den Tisch. Die zweite, daß man das gleiche auch für weniger Geld haben könnte durch Modernisierung der Polarisatomraketen, hat Labour favorisiert, bis der Sieg auf den Falklands, den Oppositionsführer Foot noch schneller und gewaltiger haben wollte, Kostenfragen in Sachen Verteidigung zu einem nationalen Tabu erklärt hat. Bleibt vor allem drittens, ob nicht durch die Art und Weise der Rüstung die Regierung künftige Siege a la Falkland auf's Spiel setzt:

"Der Oppositionssprecher (Silkin) beschuldigte Verteidigungsminister Nott, mit seinem Festhalten am Trident-Programm zur atomaren Abschreckung gefährde er die Handlungsfreiheit der Regierung für Operationen der Seestreitkräfte außerhalb der NATO." (The Guardian, 26.12.82)

Denn daß britische Interessen weltweit durchgesetzt gehören, ist der Labourpartei selbstverständlich:

"Wir können unserer geographischen Situation nicht entkommen (Inselstaat!) und auch nicht unsere wirtschaftlichen Interessen ignorieren (Handel und Wandel auf der ganzen Welt!)... Der britische Beitrag (im Bündnis) sollte so aussehen, daß wir unsere Seestreitmacht verstärken; damit meine ich Flotte und Luftwaffe." (Callaghan, The Guardian 12.82)

Daß es sich hier um den "Rechten" Callaghan handelt, macht uns genausowenig aus wie den "Linken" einer Partei, in deren Vorstand er sitzt. Die vierte Möglichkeit nach klassischem Oppositionsmuster stellt die Frage, ob die britische Regierung über den Einsatz der Atomwaffen, die sie abschaffen will, auch (mit) estimmen kann, weshalb es neben der "Unilateralismusdebatte" die "Dual-Key-Debatte" gibt:

"Wenn dieses Geschoß (Cruise Missile) zum Einsatz kommt, kann England mit einem massiven Vergeltungsschlag rechnen. Meinen Sie (Mr. Heseltine) nicht, daß Sie es dem britischen Volk aus diesem Grund schuldig sind, eine echte physische Kontrolle über den Einsatz dieser Waffen zu haben?" (Davies, Labourabgeordneter)

Aus alledem ergibt sich schließlich in voller Schönheit die fünfte Möglichkeit: die Frage, ob man nicht all die schönen Waffen schon im Frieden gegen den Feind einsetzen könne, indem man sie zum Zwecke des Mitverhandelns in Genf als Verhandlungsmasse einsetzt. Genau dazu taugt der Unilateralismus, den der Labourparteitag in weiser Voraussicht mit der gleichen Bombenmehrheit beschlossen hat wie den Verbleib in der NATO, nach dem Motto: Schön sauber bleiben beim schmutzigen Spiel! Parteiführer Foot hat in dieser Angelegenheit schon an Andropow geschrieben, damit der ihm dann antwortet, er fände den Unilateralismus unheimlich gut und würde auch gern... Und Michael Foot könnte sich das dann als Erfolg in Sachen "Russen klein kriegen" an den Hut stecken. Oder wie er selbst so schön sagt:

Man muß sich ja auch noch was zum Regieren übrig lassen! Schließlich hat man für jedes Ressort schon seine Schattenminister, wie z.B. den Denis Healey als zukünftigen Außenminister der den Unilateralismus schlichtweg für Unsinn erklärt.

Wen wundert es da daß der Unilateralismus in Großbritannien eine veritable Friedensbewegung zustande gebracht hat? Die CND (Campaign for Nuclear Disarmament) hat ihre Mitgliederzahlen sprunghaft verzehnfacht (40000), und "Mütter lassen ihre Familien im Stich" (BILD), um mit "Menschenketten"' gegen Atomraketen zu protestieren. Regierung und Opposition bemühen sich in vorbildlicher Weise um die Friedensfreunde: Die einen lassen sie abtransportieren und zahlen, die anderen solidarisieren sich mit ihnen in Person von Parteiführer Foot, der warme Getranke verteilt, mit im CND-Vorstand sitzt und ganz staatsmännisch keine Einwände gegen ein Berufsverbot für CND-Mitglieder erhebt. Dabei kommt sich die Bewegung keineswegs verarscht vor. Als außerparlamentarische Opposition sucht sie ganz konstruktiv nach einem parlamentarischen Weg zur Verantwortung für Großbritannien:

"Der Nationalrat der CND beschloß, daß die politische Richtung bezüglich einer Wahl die Unterstützung einer einseitigen Abrüstungspolitik sein wird, ohne aber einc bestimmte Partei... zu unterstützen.

...Die Labour-Partei würde große Aufmerksamkeit verdienen, weil sie die einzige sei mit einer Politik der einseitigen Abrüstung, von der man erwarten könnte, daß sie eine Regierung stellt." (Times, 17.1.83)

Und in ihrer Argumentation führt sie den Nachweis, daß man diese Friedensbewegung auch gar nicht verarschen kann, weil sie aus Zufriedenheit mit und in lauter Sorge um den Bestand britischer Errungenschaften fürchtet, mit einer falschen Verteidigungspolitik zertrete man das hoffnungsvolle Pflänzchen der Freiheit, das sie im Osten schon keimen sah:

"Wir können von Glück sagen, denn so viele demokratische Länder, in denen man frei sprechen kann, gibt es ja nicht, im Osten nicht und im Westen nicht." (Mgr. Bruce Kent, Frankfurter Rundschau, 2.3.83)

"überall im Osten gehen heute die Lichter des freien Denkens aus." (E.P. Thompson, Frankfurter Rundschau, 23.2.83)

Das Standardargument der russenfeindlichen Rüstungshetze beherrscht natürlich auch ein englischer Friedenspfaffe, der es versteht, "Afghanistan" auf speziell friedensbewegte Weise gleich so zu wenden, daß daraus der Beweis westlicher Überlegenheit wird:

"Daß die Sowjetunion andererseits eine gewaltige Militärmacht ist, bestreite ich nicht. ... Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Land, dem es praktisch nicht gelungen ist, Afghanistan zu erobern, wirklich ernsthaft erwägen sollte, sich Spanien zu holen, oder Italien, oder England." (Mgr. Bruce Kent, Frankfurter Rundschau, 2.3.83)

So gesehen ist natürlich die gegenwärtige westliche Rüstung "Überrüstung". Wie die Labourpartei versteht die CND den Unilateralismus als Mittel, die andere Seite zur Entwaffnung zu bewegen, und ihr Chef unterstreicht seine Entschlossenheit mit einem Bekenntnis zur konventionellen Verteidigung:

"Die Ziele der CND sind allseitige und totale Abrüstung. Einseitige Maßnahmen sind ein Mittel, dorthin zu kommen. Eine Verteidigungspolitik seitens England ohne Atomwaffen ist ein Weg, das allseitige Langzeitprogramm in Bewegung zu bringen. ...

Die CND verfolgt die Logik einer konventionellen Verteidigung bis zum bitteren Ende." (E.P. Thompson. The Guardian 19.12.82)

Und fast wie de Gaulle kalkuliert Mgr. Bruce Kent die alternative Verteidigungspolitik der englischen Friedensbewegung auf dem Hintergrund einer waffenstarrenden NATO-Strategie und plädiert für eine Doppelstrategie des "Drucks auf die Russen" - Unilateralismus in England und Pershing II in der BRD:

"In jedem Fall sollten wir diese Waffen (britische Atomwaffen einschließlich Cruise Missiles) einseitig aufgeben, weil sie uns nicht verteidigen... Außerdem üben sie keinen zusätzlichen Druck auf die Russen aus; der Druck auf die Russen kommt vor allem von der Pershing II." (Kent, Frankfurter Rundschau, 2.3.83)

Konsequenterweise will CND die NATO erst verlassen, wenn ihr Zweck erfüllt ist:

"Für Austritt sind wir auf alle Fälle. Ich persönlich glaube aber, wir werden erst aus der NATO ausscheiden können, wenn wir (!) die Blöcke aufgelöst haben." (ders.)

"Die europäischen Friedensbewegungen müssen... Zugeständnisse von der anderen Seite fordern (SS 20)." (E.P. Thompson, CND)

Und wenn schon der Austritt aus der NATO nicht zu haben ist, weil die Russen den Warschauer Pakt nicht auflösen, so will man wenigstens auf der Forderung der Friedensbewegung bestehen, daß "von der anderen Seite" entsprechende Vorleistungen erbracht werden müssen.