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Sowjetunion
INITIATIVE, MORAL, DISZIPLIN - ANTIMATERIALISTISCHE REZEPTE FÜR DIE SOWJETISCHE VORKRIEGSWIRTSCHAFT
"Mit der Vollendung der Überpangsperiode vom Kapitalismus und Sozialismus werden die schärfsten sozialen Zusammenstöße in der Gesellschaft überwunden, denen in letzter Konsequenz deren Spaltung in einander feindlich gegenüberstehende Klassen zugrunde liegt. Diese Schlußfolgerung hat jedoch nichts mit jener versimpelten, politisch naiven Vorstellung gemein, nach der der Sozialismus von allen Widersprüchen und Meinungsverschiedenheiten, von allen Widrigkeiten des Lebens überhaupt befreit sei. Nebenbei gesagt, diese Vorstellung beuten auch unsere ideologischen Gegner auf ihre eigene Weise aus, wenn sie versuchen, die neue Ordnung in Verruf zu bringen, indem sie darauf hinweisen, daß es auch in dieser Ordnung im Leben der Menschen sowohl Schwierigkeiten als auch Enttäuschungen und den mitunter nicht sehr leichten Kampf des Neuen gegen das Alte gibt. Ja, wir haben sowohl Widersprüche als auch Schwierigkeiten." (Andropow anläßlich des hundertjährigen Todestages von Karl Marx)
Die Maßnahmen, mit denen die NATO-Staaten der Sowjetunion beibringen, was mit dem von ihr geforderten weltpolitischen "Wohlverhalten" gemeint ist, haben ihre Wirkung nicht verfehlt: Die Sowjetmacht konzentriert ihre ökonomischen Mittel auf deren Abwehr und stellt sich auf die "schweren Zeiten" ein, die der Westen ihr bereitet.
Absolute Priorität hat das Mithalten in der von den USA diktierten Aufrüstung. Westliche Wunschträume vom "Totrüsten", dem "bankrotten System" gingen dabei die Mittel aus, blamieren sich allerdings daran; daß der Sowjetstaat eben alle erforderlichen Ressourcen in die Rüstung hineinsteckt. Er ist nun einmal keine Firma, die von ihren Gläubigern zur Konkurseröffnung gezwungen wird, sondern ein Souverän, der über einen auch ohne Marktwirtschaft reichlich erzeugten nationalen Reichtum verfügt.
Aber die unter dem Druck der westlichen Erpressung ergriffenen Maßnahmen
- neben der Rüstung das Erfordernis, den ökonomischen Kampfmaßnahmen standzuhalten, d.h. Polen zu unterstützen,
- die durch die Kredit- und Handelsrestriktionen bedingte Verteuerung des eigenen Handels mit dem Westen zu kompensieren,
- der per "Weizenwaffe" erfahrenen Erpressung bezüglich der Lebensmittelversorgung zu begegnen,
- und neben alldem immer noch die Anstrengung, die "friedenssichernde Funktion" des Handels zu "nützen", d.h. durch "höchste Vertragstreue" und das Angebot immer neuer lukrativer Geschäfte den europäischen Staaten und Japan die Vorteile einer antiamerikanischen Freundschaft mit der Sowjetunion zu beweisen -,
diese Maßnahmen haben zu einer erneuten hochoffiziellen Kritik an der ungenügenden Leistungsfähigkeit der sowjetischen Ökonomie geführt. Deren "Mißstände" werden nicht wie früher als ein Thema unter anderem in den Reden zur Planerfüllüng erwähnt, sondern erhalten nunmehr den Rang eines Staatsproblems 1. Klasse. Nach den Worten des Generalsekretärs kann die Sowjetunion noch nicht den von Breschnew als schon erreicht gemeldeten Status des "vollendeten Sozialismus" beanspruchen; dafür
"braucht es noch eine gewisse Zeit, bis die zurückgebliebene Nachhut aufschließt."
Dabei sind die monierten Mißstände keineswegs neu und unbekannt. Und wenn sie jetzt zur Hauptkampflinie erklärt werden, dann liegt das auch nicht an irgendeiner, dem Sozialismus immanenten Etappenbestimmung, sondern an der der Sowjetunion von außen aufgemachten Frage ihrer "Überlebensfähigkeit". An den aus außenpolitischen Gründen beschlossenen Notwendigkeiten gemessen, werden die verschiedenen unproduktiven Begleiterscheinungen der sozialistischen Planwirtschaft als nicht länger tragbar erachtet, was weder eine ökonomische Bankrotterklärung ist, wie sie die westlichen Interessenten immer so gerne heraushören möchten, noch zu einer Kritik an der bisherigen Planung gerät, die sich um die wirklichen Gründe für die angegriffenen "Erscheinungen" kümmern würde.
Die Wirtschaftsprogramme
Ironischerweise hat sich der reale Sozialismus ausgerechnet durch die neueren Maßnahmen des Klassenfeinds an gewisse Grundgesetze des Produzierens erinnern lassen: daß es 1. bei allen "ökonomischen Hebeln" doch immer noch auf die Gebrauchswerte ankommt, und daß 2. gewisse Gebrauchswerte als Grundlage aller übrigen Sphären in genügender Menge vorhanden sein müssen, damit auch an anderer Stelle "stürmische Fortschritte" eintreten können. Die jetzigen Wirtschaftsprogramme laufen als Anstrengung zur staatlichen Mittelverteilung auf die Sphären, die die sachlichen Grundlagen der Produktion darstellen - auf der einen Seite die Landwirtschaft, auf der anderen Seite Rohstoffgewinnung, Energieerzeugung und Transportwesen; sie stellen das unfreiwillige Eingeständnis dar, daß Planung die Stärke der Regierung und Wirtschaftskommissionen bislang wohl nicht gewesen sein kann.
Das Lebensmittelprogramm
verdankt sich dem imperialistischen Hinweis auf die Risiken, die damit verbunden sind, wenn ein sozialistischer Staat die Versorgung der Bevölkerung dem Hauptfeind anvertraut, weil ihm die Erträge der eigenen Landwirtschaft dauerhaft zu gering ausfielen.
"Das Projekt geht von det Notwendigkeit aus, den Lebensmittelimport aus den kapitalistischen Ländern einzuschränken. Die Interessen des Landes erfordctn es, daß wir über ausreichend eigene Lebensmittel- und Futtermittelressourcen verfügen, was uns gegen alle möglichen Zufälligkeiten (!) absichern würde. Gleichzeitig ist, ..., die Führung einiger Staaten bestrebt, gewöhnliche kommerzielle Operationen, wie z.B. den Verkauf von Getreide, in ein Druckmittel gegen unser Land, eine Waffe des Drucks, zu verwandeln. Damit haben wir uns nie abgefunden, und wir sind auch nicht bereit, uns damit abzufinden." (Breschnew)
Wo nur Großinvestitionen etwas bringen, z.B. in der Düngemittelindustrie und dem Landmaschinenbau, läßt sich die SU das etwas kosten (insgesamt sollen 33-35% aller Investitionen in die Landwirtschaft gehen) - und macht westlichen Firmen entsprechende Angebote. Zum Teil bestehen diese Investitionen allerdings aus der Entschuldung von "Verlustbetrieben" - der Staat "verzichtet" da auf Gewinn, wo die Produktion ihn nicht bringt.
Die private Landwirtschaft wird gefördert - was kein ideologisches Eingeständnis der Vorteile von "Marktwirtschaft" darstellt, sondern die Berechnung, auf diese Weise wieder einmal "Reserven" zu erschließen. Jeder, ob Kolchosnik, Schrebergartenbesitzer oder Betrieb, erhält das Angebot, zusätzlich zu seiner normalen Beschäftigung einen Beitrag zur Lebensmittelversorgung zu leisten.
Bringt der Kolchosnik in einem selbstgebauten Schuppen noch eine Kuh unter, hat der Staat die Investitionen für den Stall gespart und dazu noch einen Teil des Futters. Baut eine Maschinenbaufabrik als Nebenwirtschaft einen landwirtschaftlichen Großbetrieb und dazu noch die entsprechenden Verarbeitungsbetriebe, und verkauft sie die Produkte in der eigenen Kantine, so hat der Staat zwar einen ganzen Wirtschaftszweig der Maschinenfabrik übertragen und die Maschinenbauer melden Planübererfüllung bei der Schweinemast und der Wurstherstellung, aber auf die Unwirtschaftlichkeit dieser Produktionsweise machen ihn schon die eigenen Ökonomen aufmerksam:
"Aber es ist von vornherein bekannt, daß der Arbeitsaufwand in solchen Betrieben wegen ihrer Universalität und ihrer relativ geringen Kapazität nur wenig niedriger ist als in gewöhnlichen Kantinen und um ein vielfaches höher als in spezialisierten Betrieben der entsprechenden Zweige der Lebensmittelindustrie."
Das seltsame Ideal, die sozialistische Arbeitsteilung durch Selbstversorger zu ergänzen und Mißerfolge zu korrigieren, treibt so seine Blüten; dergleichen verbessert zwar die Lebensmittelversorgung, aber stellt auf jeden Fall eine Kompensationsveranstaltung dar - es ist Verzicht auf rationellen Einsatz von Prßduktionsmitteln und Arbeitszeit. Und auch in diesem als Privatwirtschaft geltenden Sektor macht sich die Wahrheit geltend, daß weniger die "Reserven" in der Privatinitiative als die entsprechenden materiellen Mittel der Grund für die "Erfolge" sind. Daß die private Landwirtschaft bei einigen Produkten, z.B. Gemüse, schon jetzt einen hohen Anteil an der Produktion hat, wird im Westen meist als ein Zeichen für deren Überlegenheit gedeutet. Aber dieser Anteil verdankt sich nicht der Tatsache, daß sich die Familien auf dem winzigen Hofland selbst ausbeuten, sondern, daß die Privatwirtschaft schon längst ein Teil von Großbetrieben ist - deren Land, Futtermittel, Düngemittel usw. einsetzt oder selbst, als Nebenwirtschaft von Industriebetrieben, den Maßstab von Großbetrieben angenommen hat.
Und weil sich dieses Prinzip zumindest hinsichtlich der Zufriedenheit der Bevölkerung "bewährt", dehnt man es gleich auf andere Konsumtionsmittel aus. Im Erlaß über die "Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung mit Konsumwaren" wird die Produktion nicht so gewinnträchtiger Waren für die Reproduktion der Arbeiter - die ja nicht viel kosten soll - einfach an alle Betriebe abgeschoben. "Besonders einfachste Erzeugnisse" sollen nebenher produziert werden - außer Lebensmitteln auch Haushaltsgeräte usw. Klar, daß dies nur dann wirtschaftlich ist, wenn man die "geringen Investitionen" begrüßt, die eine Maschinenbaufabrik benötigt, um nebenher Kochtöpfe zu erzeugen.
Das Transportwesen
unter dem Gesichtspunkt, daß es nicht unmittelbar die gewinnbringende Industrieproduktion steigert, bei der staatlichen "Stimulierung" des Wachstums zurückgestellt, macht sich nun als allgemeines Hemmnis geltend. Als erste Maßnahme sägte Andropow den Eisenbahnminister ab, und als zweite Maßnahme bekamen die Eisenbahner den Auftrag, die Transportkapazität für die Landwirtschaft (20% der Gütertransporte) und die anderen Wirtschaftsprogramme auf jeden Fall herzubringen und die nötigen "Reserven" dafür zu finden.
Ohne zusätzliche Investitionen wird freilich auch das nicht gehen. Als erstes jedoch wurde die Modernisierung des devisenbringenden Container-Transits zwischen Westeuropa und Japan in Angriff genommen... Die mit allen natürlichen Reichtümern ausgiebig versehene Sowjetmacht hat schließlich ausgerechnet die
Brennstoff- und Energieversorgung
zu einem erstklassigen Problem ausgestaltet. Als Geschäftsartikel, die etwas einbringen, sind die Öl-, Kohle- und Gasvorkommen höchstwillkommen, nicht nur als Hauptexport in die sozialistischen Bruderländer und sachliche Garantie für deren Treue, sondern auch als Devisenquelle Nr. 1. Als Reichtümer, die aus unwirtlichen und zunehmend weiter entfernt liegenden Gegenden erst herausgeschafft werden müssen und insofern etwas kosten, sind sie ein einziger "Aufwand". Beides zusammengenommen hat die Erschließung neuer Vorkommen immer dringlicher und zu einer um so höheren "Kostenbelastung" werden lassen, als die Erlöse im Westen sinken.
Die Exportleitung nach Westeuropa wird im Rekordtempo bis 1984 gebaut, um den ersten Teil des Röhren-Gas-Geschäfts schon vorzeitig zu erfüllen. Die bereits hineingesteckten Devisenkredite sollen wieder hereinkommen, und zugleich soll dem Westen der Beweis der unbedingten Zuverlässigkeit und und Bereitschaft zum Handel geliefert werden - als ob der daran zweifeln würde. Daß die eigene Gasversorgung dabei zurücksteht, die Verbindungsleitungen zwischen den einzelnen Netzen dringend erfordert, um gesichert zu sein, wird dem Westen gegenüber eigens als besonderes Gütesiegel sowjetischer Vertragstreue herausgestrichen.
Für den zusätzlichen Energiebedarf sollen die Bodenschätze Ostsibiriens erschlossen werden, was wieder die Kostenfrage aufwirft, für die der Sowjetstaat eine wenig originelle Lösung im Auge hat: Westlichen Kapitalen besonders in Japan und der BRD werden die Riesenprojekte als die Chance für gesicherten Absatz und Rohstoffversorgung angedient.
Wegen dieser Methode der 'Verbesserung' der Energieversorgung gibt es schließlich auch ein Energiesparprogramm. Die eigene Wirtschaft meldet als Gewinn, wieviel eingespart wurde, und den verbündeten Staaten wurden die Lieferungen eingefroren bzw. gekürzt. Nur der Westen bekommt Jahr für Jahr mehr Öl und Gas - wenn, er beliebt und kann sich über beides freuen, die Profite des Geschäfts und den erneuten Schaden der Feindwirtschaft.
Eine neue Produktivkraft: Moral und Disziplin
Neben dieser Befassung mit einzelnen Produktionssphären hegen die obersten Verwalter der sozialistischen Volkswirtschaft jedoch ihrer gesamten Ökonomie gegenüber den Verdacht; daß es sich um eine "zurückgebliebene Nachhut" handelt.
Die immer schon geübte unkritische Form der Kritik - prinzipiell, was die staatlichen Normative angeht, in Ordnung; im einzelnen, was deren Erfüllung betrifft, unzuverlässig, kurz: nicht effektiv -, diese eigentümlich unökonomische Kritik wird nun in eine ganze Reihe von Maßnahmen übersetzt, die allesamt davon zeugen, welche Gegensätze mit dieser Produktiönsweise installiert sind, ohne wie der Gegensatz von Kapital und Lohnarbeit in der Funktionalität für die Produktion abstrakten Reichtums aufzugehen. Die Parolen, unter denen die Kampagnen laufen - Effektivität, Disziplin, Moral und Ordnung - demonstrieren, daß die Agenten der Produktion darauf verpflichtet werden sollen, das zu tun, was sie schon immer tun sollen.
Diese explizit antimaterialistische Betrachtungsweise, die die Funktionalität ökonomischer Verhältnisse als reine Willensfrage behandelt, ist ein konsequentes Resultat jener staatsidealistischen Kritik des Kapitals, die im realen Sozialismus in die Tat umgesetzt worden ist: Der Revisionismus, der nicht am Produktionsverhältnis, an der abstrakten Form des Reichtums Anstoß nimmt, sondern an dessen Verwaltung durch Privateigentümer und kapitalistischen Staat, hat nun eine moralisch einwandfreie, pur volksfreundliche Verwaltung des gegensätzlichen Reichtums installiert. Wenn die Produktion sich also per definitionem in Einklang mit dem Willen des Volkes befindet, aber dennoch nicht dem Staatsprogramm genügt, dann bleibt nur die noch nicht genügend entwickelte Moral, Bereitschaft und Willigkeit des Volkes als Grund für diesen Mißstand übrig.
Die Ausführungen des Generalsekretärs zum Todestag von Marx sind ein trauriges Belegstück für die demokratisch-moralische Verfälschung von dessen Kapitalismuskritik und das bornierte Nicht-Wahrhaben-Wollen, daß in dieser besten aller Volksherrschaften das Volk nach wie vor Grund zur Unzufriedenheit, Ungehorsam und den diversen Versuchen hat, sich auf seine Weise schadlos zu halten:
"Die historischen Erfahrungen des realen Sozialismus zeigen, daß die Verwandlung des 'mein', das auf dem Privateigentum beruht, in das 'unser', das Gemeinsame, keine einfache Angelegenheit ist...
Rechtmäßiger Besitzer zu werden und ein solcher tatsächlich zu sein - ein wirklicher, weiser und fürsorglicher Besitzer -, ist bei weitem nicht ein und dasselbe...
Sogar dann, wenn sich die sozialistischen Produktionsverhältnisse endgültig konsolidieren, behalten oder auch reproduzieren manche Leute individualistische Gewohnheiten, den Wunsch, sich auf Kosten anderer Menschen, auf Kosten der Gesellschaft zu bereichern...
Die Verletzung dieser Norm muß die ganze Gesellschaft bezahlen, und sie ist berechtigt, diejenigen zur strengen Verantwortung zu ziehen, die aus Nachlässigkeit, Unfähigkeit oder aus egoistischen Erwägungen ihren Reichtum verschwenden..."
Ein dürftiger Ertrag der Revolution, wenn man aus ihr nicht so sehr als Nutznießer wie als "Eigentümer" mit lauter Verpflichtungen gegenüber dem eigenen Eigentum hervorgeht.
An den Mitteln der realsozialistischen Wirtschaft wird mit der jetzigen
Disziplinkampagne
gar nichts geändert. Der Staat setzt weiterhin den Betrieben im Plan, im normativen Gewinn und in den Pieisen die Rechengrößen, die sie zu erfüllen haben. Und die darauf bezogenen Regelungen zur sparsamen Einteilung, die Verpflichtung zur Bewährung in beschränkten Möglichkeiten als Voraussetzung für die Erlaubnis zur Akkumulation haben Priorität und sollen auf diese Weise auch das materielle Produktionsergebnis stimulieren. Die dabei notwendig auftretenden Mängel, volle Lager und Materialmangel, Planübererfüllung und Versorgungslücken, werden jetzt allgemein angeprangert - als Frage der Disziplin! Denn diese mißliebigen Resultate, die die betriebliche Kalkulation mit den staatlichen Normativen hervorbringt, sind ja längst mit entsprechenden staatlichen Vorschriften zu ihrer Verhütung versehen worden.
So beschweren sich Arbeiter oder ihre Vertreter in Briefen an die Prawda auch über die sachlichen Gründe für ungenügende Planerfüllung, wie sie sie zu spüren bekommen:
"Teurer als einzelne Bummeleien und der Schaden durch Drückebergerei kommen die Betriebe die Ausfallzeiten des ganzen Kollektivs wegen der Mängel in Planung und Versorgung zu stehen."
"Sehr oft stehen unsere Aggregate still, weil es Störungen bei der Versorgung mit Koks, Metall und anderen Rohstoffen gibt."
"Wir haben keine Rohstoffe oder keine Ersatzteile bekommen, und unfreiwillig reißen wir die anderen vor und nachgelagerten Betriebe mit hinein. Ein Teufelskreis?" (Prawda, 23.3.83)
Und sie erhalten von ihrem obersten Chef die erhellende Antwort:
"Wo ist denn, um mit Lenins Werten zu reden, dasjenige Kettenglied, das man anpacken muß, um die ganze Kette herauszuziehen? Die Kette ist doch groß und schwer. Und wenn man auch nicht alles auf die Disziplin reduzieren kann, so muß man doch, Genossen, gerade mit der Disziplin beginnen."
Er sagt auch warum:
"Ordnung zu schaffen erfordert wirklich keinerlei Investitionen, bringt aber einen gewaltigen Effekt. Der Bummelant, der Schluderer, der Faulenzer schadet nicht so sehr sich selbst, als vielmehr dem Kollektiv, der ganzen Gesellschaft."
Die "Arbeits-, Produktions- und Staatsdisziplin" soll also, auch gegen die vorhandenen materiellen Bedingungen, erzwungen werden. Den verlangten Willensakt, vulgo: Sich-zusammenreißen, haben sowjetische Fachleute schon in eine Produktivitätssteigerung von bis zu 3% "umgerechnet".
Nachdem klar ist, daß Betriebsversammlungen, Reden und Zeitungsartikel,also die auch bisher schon überreichlich betriebene moralische Anmache, wenig bewirken, hilft der Sowjetstaat mit seinem Recht und seinen Gewaltmitteln nach:
"Ein wichtiges Mittel zur Lösung wirtschaftlicher und sozialer Aufgaben sind die sowjetischen Gesetze, die alle Seiten des gesellschaftlichen Lebens erfassen."
Der Generalstaatsanwalt der UdSSR kündigt an, daß das gesamte Recht der UdSSR bis 1986 revidiert werden soll, und zwar nach den folgenden Prinzipien:
"strikte Individualisierung der Verantwortlichkeit", "verstärkter Schutz des sozialistischen Eigentums", "vertragliche Verpflichtungen".
So bekommen zunächst alle ökonomischen und politischen Beziehungen, wie sie nach staatlichem Wunsch funktionieren sollten, den Beinamen Disziplin verpaßt:
"Jetzt sprechen die Sowjetmenschen von der Staats-, Plan- und Vertragsdisziplin, dabei haben sie die Erfüllung der Perspektivpläne, der laufenden Pläne, der Verpflichtungen und Verträge im Maßstab des ganzen Landes und einzelner Arbeitskollektive im Auge; von der technologischen und Produktionsdisziplin, die den Grad der Realisierung von Plänen und Verpflichtungen zur Lieferung von Maschinen, Ausrüstungen, Material usw. charakterisiert; von der Finanzdisziplin, die die Richtigkeit der Mittelverausgabung bezeugt, und von der Arbeitsdisziplin, die als Einhaltung der Arbeitsgesetzgebung und der Betriebsordnung durch Arbeiter und Angestellte verstanden wird.
Die Disziplin in allen ihren Aspekten gibt dea Stand der Organisiertheit der Produktion, die sachlichen und moralischen Qualitäten des Personals wieder. Vom Stand der Disziplin hängen die Endergebnisse der Erfüllung aller Produktionsvorgaben und folglich auch der volkswirtschaftlichen Pläne insgesamt ab."
Der Idealismus dieser Sorte Selbstkritik rächt sich allerdings auf seine Weise: Die über die sozialistischen Betriebe neuerlich verhängte
"Vertragsdisziplin"
kollidiert ja nun wirklich nicht mit einer aus rätselhaften Gründen eingerissenen Disziplinlosigkeit und Willkür, sondern mit dem ganzen System betrieblicher Methoden, unter Umgehung der einen staatlichen Auflage andere zu erfüllen. Was sich in der Durchführung als Relativierung der disziplinierenden Maßnahmen geltend macht.
Die Betriebe, die häufig den Plan und ihre Lieferverpflichtungen nicht- erfüllen, weil sie mit den dafür bereitgestellten Mitteln bessere Geschäfte machen, auf sowjetisch "den Finanzplan auf Kosten der Lieferverpflichtungen übererfüllen", und nicht bestellte, aber einträglichere Produkte herstellen, werden auf ihre Lieferverpflichtungen gestoßen:
"Es muß eine feste Kette der Abhängigkeit des Lieferanten vom Kunden geschaffen werden. Strikte Forderuag ia einem solchen System muß die strenge Beachtung des Prinzips der wirtschaftlichen Rechnungsführung sein: Ist die Lieferung von Waren nicht erfolgt, so muß der dem anderen bereitete wirtschaftliche Schaden in vollem Maße ersetzt werden. Und zwar aus dem Teil des Gewinns, der im Unternehmen vetbleibt." (P. Kondraschow, stellv. Handelsminister der UdSSR)
Daß die Betriebe schon jetzt genau nach diesem System vorgehen und die Konventionalstrafen, die es auch jetzt schon gibt, entweder gegen anderweitig gemachte Gewinne aufrechnen oder sich gleich von anderen wiederholen - diese Folge ist wohlbekannt:
"Die Verluste kompensieren sie durch zusätzlichen Gewinn, darunter auch durch Strafen, die sie von nachlässigen Kontrahenten einziehen."
"Das Eisenbahnministerium hat sogar einen positiven Saldo von bezahlten und eingenommenen Strafen für die Nichterfüllung des Plans."
"Offensichtlich ist das 'Verschieben' von Summen von einem Betrieb zum anderen, genauer, aus einer Tasche des Staates in die andere. Das erzeugt nur die Illusion eines Kampfes gegen die Disziplinverletzungen." (B. Puginskij, Richter)
Der Vorschlag, dann einfach die Strafen zu erhöhen - es soll voller Schadenersatz geleistet werden, auch für den Stillstand einer ganzen Fabrik, nicht erhaltene Prämien usw. - ist auch ein untaugliches Mittel, durch das vor allem die Produktivität kaum erhöht werden dürfte:
"Dabei belastet die Einziehung großer Konveationalstrafen die Lage der Wirtschaftsorgane, er schwert objektiv die Beseitigung der Mängel. Und der Staat ist nicht selten gezwungen, die fehlenden Umlaufmittel den geschwächten Betrieben zu ersetzen. Aus dem Staatshaushalt werden ihnen eigentlich die Mittel ersetzt, die ihnen vorher in Form von Konventionalstrafen entzogen wurden." (passim)
Die Lösung:
"Der Hauptmangel des Sanktionsmechanismus wird im Fehlen einer strengen persönlichen Verantwortung der schuldigen Personen gesehen." (passim)
Mit Gewalt sollen die Betriebsleiter gezwungen werden, zum Wohl des Staats zu wirtschaften. Denselben Figuren, bei denen vorher im Interesse des Gewinns nicht allzugenau nachgeprüft werden durfte, wie der Gewinn zustandekommt, werden Entlassung und Geldstrafen angekündigt. Eine Maßnahme, die deshalb auch außer in einigen spektakulären Verfahren praktisch noch nie angewandt wurde.
"Manchmal muß man doch im Interesse der Produktion herumlavieren, und da werden einem Stöcke zwischen die Speichen geworfen..."
beschwert sich ein Direktor.
Der Erlaß über die vertraglichen Lieferverpflichtungen delegiert schließlich die Verantwortung für seine Anwendung an die Betriebe und Ministerien; einige Musterverfahren sollen Härte demonstrieren, die Betriebe haben also in Zukunft die Frage in ihre Kalkulation miteinzubeziehen, wieweit sie sich bei ihren irregulären Methoden der Planerfüllung einen Prozeß leisten können und wollen. In dem Maß, in dem der Erfolg ibnen recht gibt, oder umgekehrt ihr Mißerfolg dem Staat nicht recht sein kann, wird dann auch das neue Recht nicht unbedingt diszipliniert zur Anwendung kommen.
"Arbeitsdisziplin"
Ergiebiger für die Bewältigung "schwerer Zeiten" scheint auch dem Sowjetstaat die Befassung mit dem elastischen Element seiner Produktion, den Arbeitern zu sein. Was er dort allerdings durchsetzen will - sie sollen rechtzeitig und nüchtern am Arbeitsplatz erscheinen, während der Arbeitszeit auch am Arbeitsplatz bleiben und fleißig arbeiten -, enthält lauter Eingeständnisse über eine im Vergleich zum Kapital geradezu idyllische Ausbeutung. Zur Veranschaulichung eine sicher in ihrem moralischen Impetus leicht übertriebene, aber nicht aus der Luft gegriffene Darstellung:
"ALLEIN MIT DEM GEWISSEN"
"...Vielleicht macht es mir keine Ehre, daß ich mich an die 'Prawda' wende, aber das, was bei uns geschieht, kann ich nicht läager ertragen. Die Zustände in unserer Kraftwagenzentrale: Jeder macht was er will. Wenn du willst, kommst du gegen acht Uhr zur Arbeit, wenn du willst, eine halbe Stunde oder eine Stunde später. Man kann auch gar nicht kommen - das hat dann keinerlei Folgen. Wenn man fragt, warum du gebummelt hast, zu spät gekommen bist, dann erklärst du einfach: Ich war am Vorabend bei Gästen; der Autobus kam zu spät; die S-Bahn kam nicht rechtzeitig... Sag', was du willst - es wird sowieso nicht nachgeprüft.
Der Morgen beginnt für uns Fahrer mit Gesprächen darüber, wer wo übernachtet hat; wieviel er gestern getrunken hat, wer heute für sich persönlich etwas zu tun hat ('die Läden abfahren', 'der Schwiegermutter Bretter bringen', 'nach der ersten Fahrt abhauen, um zu Hause zu Mittag zu essen' usw.) Der Ingenieur fängt die 'Arbeit' mit dem Teetrinken an, dann kommen Telefongespräche mit Freunden, Freundinnen - sie erzählen, wer wo was 'aufgetrieben' hat, verabreden sich zu Treffen im Laden, in der Apotheke, im Schwitzbad. Und all das wohlgemerkt mitten am Arbeitstag - abends muß der Ingenieur da sein: der Direktor könnte ihn rufen. Und wir, die Fahrer, wenn wir abends unsere 'Karren' abgestellt haben, eröffnen wir unser Restaurant in eigener Regie. Denn jeder von uns arbeitet noch, soviel er kann, dazu - in Bahnhöfen, Flugplätzen, Läden. Die Geschäftsleitung weiß von unserer Schwarzarbeit, doch schweigt sie, weil sie selbst ungesetzlich Privatautos zur Reparatur annimmt; auch von uns, den Fahrern, kriegt sie einen ganzen Batzen ab.
In der Kraftwagenzentrale bin ich nicht schlecht angesehen. Während der Arbeit pfusche ich nicht. Aber an allem, was dort vor sich geht, bin auch ich schuldig, und ich bin bereit, dafür jede Strafe zu ertragen. Ich kann nicht mehr ruhig zusehen, welcher große Schaden der Produktion angetan wird, der Erziehung der Menschen durch unsere Undiszipliniertheit, Verantwortungslosigkeit, Schwindelei beim Plan, Schmiergelder, Speichelleckerei..."
Die aufgeführten Gewohnheiten, die einen Arbeiter unter kapitalistischen Bedingungen längst seinen Arbeitsplatz gekostet und ruiniert haben würden - mit Zustimmung von Betriebsrat und Gewerkschaft -, stellen lauter Methoden dar, sich in einer Produktion, die einen auf keinen grünen Zweig kommen läßt, immerhin recht und schlecht einzurichten. Wenn die staatliche Planung der Produktion es nicht gestattet, die für die Bedürfnisbefriedigung notwendige Arbeit auf möglichst zweckmäßige Weise zu erledigen, sondern weiterhin die Arbeit zur Mühsal macht und die Arbeiter in Armut hält, verschaffen sich diese ihre Freiheiten und gehen ihren Reproduktionsnotwendigkeiten im Gegensatz zu ihrem Arbeitsauftrag nach. Daß dies möglich ist, daß die sozialistische Lohnarbeit nicht wie die kapitalistische die Konsumnotwendigkeiten ganz automatisch in den Sachzwang zur Leistung übersetzt, in die wunderschöne Freiheit eines Lohnarbeiters, sich im eigenen Interesse kaputtzumachen, liegt wiederum daran, wie die betriebliche Kalkulation im Verhältnis zu den staatlichen Aufträgen die Arbeiter einbezieht. Wenn vom Betriebsleiter bis zum Arbeiter hinunter klar ist, daß es nicht immer nützlich ist, die staatlichen Auflagen einzuhalten; im betrieblichen wie im privaten Interesse; wenn Methoden der Korruption von oben auf die Mitwirkung von unten angewiesen sind; wenn schließlich aufgrund der fehlenden Arbeitsproduktivität die sozialistische Industrie im Verhältnis zu ihren Aufgaben einen kontinuierlichen Arbeitskräftemangel produziert, dann beharrt eben jede Seite trotz der Unbrauchbarkeit der Arbeiter für die staatlichen Ziele auf ihrer "Unverzichtbarkeit".
Diese objektiven Bedingungen für die angeblich noch "ungenügend ausgebildete Arbeitsmoral" werden durch die neuerlichen Kampagnen nicht angetastet.
Einige spektakuläre Aktionen wurden unternommen: Die Miliz kontrollierte in ein paar Warenhäusern all die Leute, die während der Arbeitszeit einkaufen - ein Riesendurcheinander. Das Fernsehen filmte an Werkstoren und interviewte die Zuspätkommer - das BRD-Fernsehen bekam schöne Bilder von wenig beeindruckten Arbeitern. Die Betriebsleitungen verlangten, von Leuten, deren S-Bahn oder Bus Verspätung hatte, eine Bescheinigung der Verkehrsbetriebe - bei den üblichen Verspätungen brach der Nahverkehr zusammen, weil an einigen Stationen die Zettel nicht so schnell verteilt werden konnten oder nicht da waren.
Es soll auch mit Strafen durchgegriffen werden, d.h. die bestehenden Sanktionsmöglichkeiten
"Verweis, Tadel, strenger Tadel, Umsetzung an eine niedriger bezahlte Arbeit für eine Frist von bis zu drei Monaten oder Versetzung in ein niedrigeres Amt für dieselbe Frist, falls der Mitarbeiter ohne triftigen Grund seine direkten Verpflichtungen nicht erfüllt; mehrfach unerlaubt bei der Arbeit fehlt, so hat die Verwaltung das Recht, ihn zu entlassen." -
sollen auch wirklich angewendet und neue; verschärfte durchgesetzt werden.
Wobei jedoch gleich die passenden Vorbehalte dazu angemeldet werden:
"Die Entlassung eines qualifizierten Mitarbeiters ist für den Staat sehr teuer."
"... falls einem Bummelanten die Prämie entzogen wird, ist das keine Lösung der Frage. Er sucht sich sofort wieder eine, vielleicht sogar besser bezahlte Arbeit im Nachbarbetrieb. Und dort wird er mit offenen Armen empfangen, da bei uns vielerorts Arbeitskräftemangel herrscht.
Damit die, die die Ordnung verletzen, sich nicht so unbehelligt fühlen, muß man im Kampf mit ihnen die Macht des Gesetzes nutzen, und wenn es in der Gesetzgebung Lücken geben sollte, diese ausfüllen."
Ein Personalleiter:
"In letzter Zeit fahren viele, die sich im Betrieb entlassen ließen, zum Verdienen aufs Land - zur Gemüse- und Obsternte, auf den Bau. Dieses Kontingent bewegt sich ungeordnet über das Land, wird von niemandem kontrolliert. Ich meine, daß die Angabe der Arbeitsaufnahme und der Entlassung im Paß verfrüht abgeschafft wurde."
So wird gleichzeitig die Ineffektivität d er eigenen Ausbeutung beklagt, das Bedürfnis nach kompensierenden Methoden des Arbeitszwangs geäußert wie auch andererseits festgestellt, daß es sich durchaus um die anerkannten Reproduktionsnotwendigkeiten handelt, unter deren privater Bewältigung die Arbeitsdisziplin leidet:
Aus Erlassen des Ministerrats der UdSSR:
"Um persönliche Fragen zu lösen, sind die Menschen gezwungen, sich oft von der Arbeit befreien zu lassen, sich mit Genehmigung der Betriebsverwaltung beurlauben zu lassen und manchmal auch die festgelegte Arbeitsordnung zu verletzen. Viel Zeit geht ihnen durch die schlechte Organisation... im Dienstleistungsbereich verloren." (Erlaß vom 17.1.83)
"Dienstleistungen sollen 'die Bedürfnisse der Sowjetmenschen besser und vollständiger, ohne Schaden für ihre Produktionstätigkeit, befriedigen'." (a.a.O.)
Während hierzulande mit der- Verarmung der Leute die unverschämte Berechnung verknüpft wird, daß sie sich an ihre Angehörigen halten, und das heißt dann: "Hier darf jeder für andere dasein!" (Kohl), problematisieren die sowjetischen Reformer ihr Sanktionsmittel mit derselben Wirkung, von wegen "ungerecht":
"Den Bummelanten das 13. Gehalt wegzunehmen ist vor allem eine Strafe für die Familie."
Auf der anderen Seite stellen sie anläßlich des Problems der "Ausfallzeiten" fest, daß auch die großartigen Errungenschaften der "sozialistischen Demokratie" sehr hinderlich sein können:
Betriebsleiter klagen über das "Abziehen großer Gruppen der Belegschaft zu verschiedenen Nebenarbeiten, für offizielle Treffen und die Begrüßung von Gästen", über "Versammlungen, Seminare, Treffen, Besichtigungen" während der Arbeitszeit. Sowjetische Deputierte, Gewerkschafts- und Parteifunktionäre usw. sind für ihre Tätigkeit - mit Lohnfortzahlung - ganz/teilweise freigestellt. Die Arbeitszeitverluste, die früher in Kauf genommen wurden, um Vorposten von Staat, Partei und Gewerkschaft in den Betrieben zu haben, sollen jetzt reduziert werden - schließlich wird die Einheit von Volk und Staat ja schon verwirklicht, wenn das Volk für seinen Staat arbeitet.
Allerdings wird gleichzeitig schon einer neuen Einrichtung der sozialistischen Demokratie entgegengearbeitet. Zur Kontrolle der Arbeitsmoral die Miliz hinterherzuschicken, geht auch nur in Einzelfällen. Ganz abgesehen davon, daß Betriebe sogar mehr Arbeiter als Hilfsmiliz beurlauben mußten" als abwesende Arbeiter gesucht wurden.
Der Sowjetstaat hat inzwischen in dem Entwurf des "Gesetzes über die Arbeitskollektive" klargestellt, wie er sein Volk zur Arbeit anhalten will: Die Arbeiter sollen sich vor allem selbst darum kümmern - sie bekommen ein Betriebsverfassungsgesetz auf sowjetisch, in dem sie das Staatsinteresse als Recht und Pflicht von sich selbst als Arbeitskollektiv verwalten sollen. Sie sollen Vorschläge machen, Beschwerden über "Bummelanten" in den eigenen Kreisen und in der Betriebsleitung vorbringen, sich per "Kameradschaftsgericht" Dampf machen, z.B. indem sie den Kollegen in der Warteliste für Werkswohnungen zurückstufen lassen.
So sehr der sozialistische Staat bei seiner Disziplinkampagne zwar auf das "gesunde Volksempfinden"'rechnen kann, das sich in zahlreichen Leserbriefen über Korruption, Pflichtvergessenheiten im allgemeinen und besonderen und die Faulheit der anderen ausläßt - mit dem Einfall, die Arbeiter als "Arbeitskollektiv" mit Kontrolle und Bestrafung zu betreuen, läßt er letztlich die Sünder über sich selbst Gericht sitzen.
Die überzeugung, daß sie es mit einer Frage der allgemeinen Moral zu tun hätten, der durch staatliche Strenge und eine allgemeine öffentliche Erziehungsarbeit durch die Medien abgeholfen werden muß, geben die Sowjetoberen auch in ihrem.
Feldzug gegen die Korruption
Ausdruck. Dieser soll einerseits selbst der Volksmoral aufhelfen, indem die Arbeitsbereitschaft durch das gute Vorbild des Staates angestachelt wird, der auch alle anderen Formen der Pflichtvergessenheit bestraft. Andererseits gibt man sich der Illusion hin, bloß durch die Unterbindung der privaten Schiebergeschäfte die Versorgung nicht gleichmäßig mäßig, sondern viel besser zu gestalten.
Einige Minister, zahlreiche Funktionäre und Angehörige der staatlichen Behörden hat diese Kampagne bereits ihr Amt gekostet im Unterschied zum westlichen Berufsbeamten und Politikerwesen zahlt sich für sie nämlich der Besitz eines Amtes nicht schon automatisch aus. Die real-sozialistischen Demokratien haben mit der demokratischen Heuchelei von wegen 'größte Diener ihres Volkes' und 'selbstlose Aufopferung fürs Vaterland' soweit ernst gemacht, daß der "Anreiz", sich über die staatlich gewährten Privilegien hinaus auf illegale Weise zusätzliche zu beschaffen, kräftig "wirkt". Razzien gegen "Spekulanten", "Nichtstuer" und "Marktritter" endeten mit erheblichen Strafen für einzelne Personen. In einem Ort hatte eine Gruppe von Parteichefs und Industriemanagern 75% der Wohnungen außer der Reihe an sich und ihre Spezln verteilt - sie wurden nach einem aufsehenerregenden regelrechten Räumungsprozeß unter großem Beifall der Öffentlichkeit aus den Wohnungen geworfen.
Die Zustimmung der Massen ist begeistert und ungeteilt: Sie setzen sich darüber hinaus lebhaft mit dem Problem auseinander, ob auch genügend "hohe Tiere" in den Ministerien zur Rechenschaft gezogen, auch wirklich alle "Arbeitsscheuen" und Säufer, "Marktritter", Parasiten und ausgeflippte Jugendliche einer entsprechenden Behandlung zugeführt werden. Aber diese warmempfundene Gehässigkeit, die läuter Schuldige als Grund der eigenen Misere bestraft wissen will, ist wiederum nur die trostvolle Begleitveranstaltung zur Einrichtung unter Verhältnissen, unter denen jeder einiges, was er braucht, nur unter Umgehung der legalen Möglichkeiten bekommen kann.
Auch wenn die Praktiken der Wohnungsvergabe aufgedeckt und Bösewichter verurteilt werden, vermehren sich die Wohnungen dadurch nicht, und ein Schmiergeld an der rechten Stelle ist immer noch das beste Mittel, sich eine Wohnung zu verschaffen, so sehr man gleichzeitig diese Methoden verurteilt - wegen des Verdachts, deren erfolgreiche Anwendung durch andere sei der Grund für die eigene Benachteiligung. Dieses Karussell setzen die neuen Saubermänner unter Andropow nicht außer Kraft. Moral wie Korruption sind nun einmal die notwendigen Begleiterscheinungen rechtlich geregelter Armut. Und die allergerechteste Gesellschaft hat um so mehr Gründe für Korruption in die Welt gesetzt, als sie die private Bereicherung vom Nutzen der "Wirtschaft" getrennt hat; oder umgekehrt: weil "die Wirtschaft" für die Befriedigung der Bedürfnisse der Produzenten nicht eingerichtet ist.
Allerdings geben weder die Korruption noch die Disziplinarmaßnahmen der Sowjetregierung ihren westlichen Kritikern auch nur in einem Punkt recht. Die nachgerade widerwärtige Heuchelei von "Spiegel" und Konsorten widerlegt sich selbst, wenn sie einerseits düstere Stimmungsbilder einer nun völlig polizeistaatlich geknebelten Gesellschaft malen, als ob hierzulande Gesetzgebung, Polizei und Justiz unter Beschäftigungsmangel leiden und in eitel Harmonie mit der Bevölkerung verkehren würden, und wenn sie andererseits ihre Belustigung gerade aus der Betrachtung gewinnen, wie wenig die besprochenen Maßnahmen "greifen", und wie "elegant" sich die notorisch arbeitsscheue russische Rasse über die Versuche ihres Staates hinwegsetzt, sie zu mehr Leistung anzuhalten. Diese Heiterkeit beruht auf dem Vergleich mit der Härte des hiesigen Lohnsystems, in dem die Betriebsleitung den Arbeitern keine Polizisten nachschicken muß, um sie an den Arbeitsplatz zu bringen. Weder die polizeistaatliche Wirklichkeit der westlichen Demokratien noch die Selbstverständlichkeit ihres Leistungszwangs taugt zu einem Kompliment für diese "Ordnung". Und die Hetze auf, die Verachtung für die andere Ordnung, hat mit Objektivität nichts zu tun, sondern erfreut sich ganz unschuldig daran, daß der hiesige Staat sich in seinen Kriegsvorbereitungen ganz anders auf die Tauglichkeit seiner Ökonomie, den Gehorsam und die Leistung seiner Untergebenen verlassen kann. Deshalb werden die auch ganz anders verarmt als ihre sowjetischen Klassenbrüder, um einmal den Maßstab aufzumachen, der neben der Freiheit dem gemeinen Volk hierzulande immerzu seine "Verteidigungsbereitschaft" schmackhaft machen sollte.