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Dieser Artikel ist in der MSZ 3-1983 erschienen.

Systematik

Soziale Gerechtigkeit:
IMMER FESTE DRUFF!

Nach der Wende ist endgültig Schluß mit der immer schon rhetorischen Frage, was denn der Sozialstaat für die Bürger tun könne. Jetzt gibt's nur noch einen Ideenwettbewerb journalistischen und wissenschaftlichen Hetzverstandes, wie vom Lebendigen noch was zu holen geht.

1. Das Konzentrat der Theorie

"Bild am Sonntag" fragt ihre Leser: "Finden Sie es richtig, daß Sozialhilfeempfänger zur Arbeit gezwungen werden können?" Da geht es um eine "soziale Ungerechtigkeit" eigener Art: Es gibt eine lange Reihe von Leuten, die über sich selbst das Urteil gefällt haben (sollen), daß sie zum unbrauchbaren Teil der Arbeiterklasse gehören; an ihrer blanken Existenz sieht man ja, daß sie zu nichts taugen, also auch nichts verdienen; gerechterweise stellt der Staat klar, daß sie es verdienen, von ihm Elend verordnet zu kriegen. Bis hierher alles in Ordnung - aber: Die genießen ja den Vorzug, nicht arbeiten zu müssen!

BamS hat Erfolg mit ihrem Aufruf: Es meldet sich das Arbeitsvolk, und auch die schuldbewußten Betroffenen schweigen nicht. Vom Makel des Sozialhilfeempfängers kann man sich nur befreien, indem man kostenlos arbeitet. Manche finden es eine Unverschämtheit, daß der Staat diese faulen Gesellen erst noch zu Arbeitstrupps zusammenstellen muß, daß sie nicht "aus Patriotismus, um dem Staat zu helfen und zuletzt (!) auch sich selbst", von alleine draufgekommen sind.

Von einem ökonomischen Nutzen für die Betroffenen ist natürlich nicht die Rede bei einer "Diskussion", die sich mit dem ungerechten Zustand befaßt, daß Unbrauchbarkeit nicht gleich den Hungertod zur Folge hat. Der Nutzen der Zwangsarbeit liegt in der wohltätigen Wirkung auf die Gesellschaft:

- Vielleicht ginge die Schwarzarbeit zurück.

- "Bei allen, die noch Arbeit haben, ginge der Unmut über den Sozialstaat zuruck".

- Die arbeitende Bevölkerung kann ihre reichliche Freizeit wieder auf sauberen Straßen und in gepflegten Grünanlagen verbringen.

So nebenbei kann auch das normale Arbeiterleben mit seiner ganz normalen Armut angeführt werden "Alles in allem haben viele Kollegen, die im Arbeitsprozeß stehen, nicht viel mehr als zweihundert Mark mehr als die, die heute glauben, gezwungen zu werden..." -,

aber bloß für den einen Schluß: Die, die das "Glück" haben, daß einer noch Profit aus ihrer Armut schlägt und sie dementsprechend arm hält, haben ein Recht auf die gesellschaftliche Manifestation, daß ohne Arbeit der Ofen gleich ganz aus ist. Herr Gerhard Schattschneider aus Gütersloh faßt die zeitgemäßen Faschistereien prägnant zusammen:

"Kein Staat der Welt kann sich die soziale Humanitätsduselei leisten, die wir schon seit zu vielen Jahren praktizieren!"

2. Wirtschaftswissenschaftliche Bebilderungen

In ihrem Gutachten "Die Lage der Weltwirtschaft und der westdeutschen Wirtschaft im Frühjahr 1983" beanspruchen 5 deutsche Wirtschaftsinstitute einen nicht unbeträchtlichen Teil des gesellschaftlichen Reichtums dafür, die "Einsichten" der Bild-Zeitungs-Leser auf 20 Seiten bestem 80-Gramm-Papier auszuwalzen. Der ganze Unterschied besteht darin, daß sie - schließlich handelt es sich um Ökonomen - die "Gerechtigkeit" in "Aufschwung" umtitulieren. Für die Herstellung dieses äußerst immateriellen Gutes gehört sich ein Zentralangriff noch auf die bescheidensten Formen des Materialismus, wo immer man ihn in einem Mauseloch zu entdecken vermeint:

- "Kürzung und Einschränkung der Wohnungsbauförderung"

- "Abbau der Förderung der Geldvermögensbildung"

- "Nettoanpassung bder Besteuerung der Renten"

- "Ausbau der Selbstbeteiligung in der Sozialversicherung."

Undsoweiter undsofort bis zum Erbrechen. Auf 20 Seiten die immergleiche Botschaft: Geld weg hier - abliefern dort!

Neben dem Unterschied in der Ausdrucksweise kennen die Wirtschaftswissenschaftler gegenüber der Bild-Zeitung noch einen Unterschied in der Methode. Während die Briefschreiber das Elend der Betroffenen unmittelbar mit deren Natur identifizieren, die schlecht und zu disziplinieren sei, wollen die Herren Ökonomen zwar ebenfalls diese menschliche Natur per Gewalt sich zusammenreißen lassen, drücken dies aber auf einem Umweg aus: Entgleisungen in den (angeblichen) Materialismus sind zwangsläufig, wenn die "Rahmenbedingungen", der "Sachzwang", nicht wirklich zu ihrem Recht kommen. Die Beschimpfung der Arbeiter, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger verläuft bei den Theoretikern also so, daß sie lauter Versäumnisse im Staat entdecken, die nur auszumerzen sind, um dann als wieder-installierte "ökonomische Gesetzmäßigkeiten" eine ganz objektive und sachzwangsmäßige Korrektur der Menschennatur herbeizuführen. Das ist das vornehme Verfahren, welches für die gebildeten Schichten reserviert ist, sind die doch imstande, einen saufalschen und hundsgemeinen Gedanken auch um zwei Ecken herum zu goutieren. Denen leuchtet zum Beispiel sehr ein, daß es in Deutschland an Differenzierung mangelt, nämlich an einer "Differenzierung der Löhne, die der unterschiedlichen Gefährdung der Arbeitsplätze Rechnung trägt".

Zu dumm die Vorstellung, ein Arbeiter arbeite notgedrungenermaßen dafür, sein Leben fristen zu können. Es ist doch genau umgekehrt: Er muß seinen Lohn darauf einstellen, daß der Arbeitsplatz nicht gefährdet wird. Ergo: Der sicherste Arbeitsplatz ist der, wo überhaupt kein Lohn gezahlt wird. Wenn man einmal den gesellschaftlichen Zwang für notwendig und richtig erachtet, daß ein Arbeiter ohne Arbeitsplatz zu nichts kommen kann, dann ist es auch nur logisch, daß die Spitze des Wohlergehens dann erreicht ist, wenn er neben lauter ganz sicheren Arbeitsplätzen krepiert.

3. Schluß mit dem Gerechtigkeitswahn

"Es ist so leicht, etwas zu fordern, was andere bezahlen müssen."

Klaus Besser von der BamS meint damit nicht etwa sich oder die Politiker. Nein, "die Leute" haben bequemermaßen immer von anderen "gefordert", und so ist es schließlich dazu gekommen, daß die Mütter Mutterschaftsgeld, die Arbeitslosen Arbeitslosengeld usw. bekommen haben. Zu was hat das geführt? "Die Leute" wollten unbedingt Mütter und Arbeitslose werden, so daß schließlich nichts mehr geleistet wurde und nichts mehr zu verteilen da war. So muß nun das Mutterschaftsgeld und die Arbeitslosenunterstützung gestrichen werden. Bis hierher eine bekannte "Argumentation " nun aber geht die Journaille einen Schritt weiter:

"Kürzungen bei Mutterschaftsurlaubsgeld und Arbeitslosenunterstützung als Entlastungen auf der Ausgabenseite des Etats, weniger Vermögenssteuern und bessere Abschreibungskonditionen als Mindereinnahmen auf der Einnahmenseite des Haushalts - macht diese finanzwirtschaftliche Rechnung auch in sozialpolitischen Kategorien einen Sinn?"

Das fragt sich der notorische Klaus Barbier in der "Süddeutschen Zeitung". Die Antwort seines Kollegen Besser lautet kurz und knapp: "Das große Geld kommt nun einmal von der großen Masse". Es macht also Sinn, da das Geld den Kapitalisten abzuknöpfen sich gar nicht lohnt. Bekanntlich handelt es sich bei denen nur um eine kleine Minderheit:

"Die paar Millionäre und die sogenannten Besserverdienenden anzuzapfen, macht sich zwar gut, bringt aber wenig". (Besser)

Ein virtuoser Umgang mit der Klassengesellschaft ist das. Gegen die Gerechtigkeitsfanatiker von SPD und Gewerkschaft - denen es in "schweren Zeiten" dringend erforderlich erscheint, eine gerechte Verteilung dadurch herbeizuführen, daß allen gleichermaßen weggenommen gehört, und damit ausdrücken, daß Gerechtigkeit das glatte Gegenteil von Wohlergehen ist -, halten diese Kommentatoren der Wende, daß es in unserer Gesellschaft doch eh kaum welche zu Wohlstand bringen. Wenn man jetzt einfach behauptet, an dieser Grundtatsache sei gerüttelt worden, eine Zeitlang hätte die Massen sich einen bescheidenen Wohlstand einbilden können, und

"über ein Jahrzehnt lang haben verantwortungslose Politiker natürlich auf unsere Kosten Schulden gemacht, um ihre leichtfertigen Versprechungen zu finanzieren." (Besser),

dann ist eine wunderschöne Apologetik der Klassengesellschaft fertig: Weil man an ihrem Naturgesetz, daß die "große Masse" einfach arm bleiben muß, (angeblich) gedreht habe - bringt sie Armut hervor. Die ganz richtige Verlängerung des Gerechtigkeitsgedankens heißt also: Ungerechtigkeit muß her!

"Das heißt, daß Unausgewogenheiten auf nun ebenfalls unausgewogene Weise korrigiert werden müssen." (Barbier)

Die Vorstellung, daß "man" davon irgendwie was habe, ist aber auch hier nicht verschwunden. "Soziale Ungerechtigkeit" mit "sozialer Ungerechtigkeit " bekämpft, ergibt - "soziale Gerechtigkeit". Die heißt in ihrer fertigen Form, daß der kleine Mann noch ein weiteres Recht beanspruchen kann, nämlich daß es Kapitalisten gibt:

"Wer nach dem Osten schaut, wird schnell einsehen, daß es im 'sozialistischen' (angeblichen) Gleichheitssystem noch viel ungerechter zugeht. Die Abwesenheit eines wohlhabenden Bürgertums bedeutet eben noch lange nicht soziale Gerechtigkeit." (Besser)

Ergo: Die Anwesenheit eines "wohlhabenden Bürgertums" ist soziale Gerechtigkeit! Dies als sehnlichsten Wunsch der Arbeiterklasse selbst zu deuten, überlassen wir als Schlußwort Herrn Barbier:

"Das Wahlergebnis vom 6. März kann die Regierung in Bonn als einen auch aus der Facharbeiterschaft kommenden Auftrag deuten, der Umverteilung nicht weit er mit enteignungsähnlichen Beiträgen und wachstumserschlagenden Steuern hinterherzulaufen."

Das ist eben eines der Geheimnisse der Demokratie: Sie schafft es, selbst noch ihre größten Sauereien als unmittelbaren Ausfluß des Volkswillens vorzustellen, erst recht dann, wenn das Volk mal wieder ordentlich gedeckelt wird.