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Dieser Artikel ist in der MSZ 2-1983 erschienen.
Neues vom Rechtsstaat
FREISETZUNG VON RECHTSCHAFFENHEIT DURCH GEWALT
Nichts ist heute, im 36. Jahr des bundesrepublikanischen Rechtsstaats, lächerlicher als ein Faschist, der die rechtliche Form staatlicher Maßnahmen kritisiert, weil in seinen Augen die Staatsgewalt sich mit dem Recht beim Ordnungsstiften und beim legitimen Niedermachen von allem und jedem, was sie als Hindernis definiert, selber Fesseln anlegt. Schließlich buchstabiert unsere Republik jedermann in aller Deutlichkeit vor, daß gerade in der Demokratie Recht und Gewalt, Erlaubnis und Pflicht, Rechtsstaatlichkeit und eine unanfechtbare öffentliche Monopolgewalt dasselbe sind.
Nichts ist, aus dem gleichen Grund, trauriger als der Demokratieidealismus, das Recht "eigentlich" für eine Schranke staatlicher Machtausübung, für ein "eigentlich" menschenfreundliches Prinzip staatlicher Ordnungsstiftung zu halten, das die SPD immer zu wenig verwirklicht habe, gegen das der jetzige CDU-Staat aber so richtig verstoße. Ein solches Recht gab es schon immer nur als frommen Wunsch nach ihm - und an den jüngsten Großtaten des Rechtsstaats liegt es zuletzt, wenn die untertänige Vorstellung einer guten Herrschaft nach wie vor als Glaube an den irgendwie doch gewaltbändigenden Charakter des Rechts existiert.
Volkszählung '83
hat der christliche Politiker und Staatssekretär im Justizministerium Waffenschmidt mit dem seinerzeit vom Kaiser Augustus angeordneten Zensus verglichen, dem der Gottessohn seinen standesgemäßen Geburtsort verdankt. Der verharmlosende Hinweis, daß schon seit Jahrtausenden Staaten ihre Untertanen zählen und diese sich von ihrer Obrigkeit zählen lassen, operiert mit einer dicken Lüge. Die geradezu idyllischen Zustände, da die Masse der Leute ganz getrennt von der politischen Gewalt ihre Subsistenz fristete und die Herrschaft sich bei ihren Untertanen erkundigen mußte, wieviel Köpfe sie überhaupt zählen, sind längst vorbei. Die Bewohner bundesrepublikanischen Hoheitsgebiets, die sich demnächst registrieren lassen müssen, sind in tausenderlei Hinsicht staatlich gezählt und sortiert, weil längst universell in die Pflicht genommen. Der Staat registriert jede Geburt und überwacht die Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht, führt Buch über Lehrstelten und Lehrlinge, Studenten und staatlich Examinierte. Als Garantiemacht des Eigentums schafft er das Geld und verpflichtet damit jeden Eigentumslosen, seinen Lebensunterhalt mit Dienst am fremden Eigentum oder als Bediensteter der öffentlichen Gewält zu verdienen. Das Einkommen dieser großen Masse der Bevölkerung kennt das Finanzamt auf den Pfennig genau, weil der Staat von jeder verdienten Mark seinen Anteil eintreibt. Die Rentenversicherüng registriert minutiös Dauer und Ertrag des ganzen Arbeitslebens, die Krankenversicherung den Zustand des Arbeitsvermögens, weil der Staat das Gesetz von der Verelendung des Proletariats kennt und sie mit der Zwangsversicherung gesellschafts- und staatsdienlich organisiert. Das Arbeitsamt verzeichnet jede Bewährung und jeden Mißerfolg eines jeden Arbeitsbürgers in der permanenten Sortierung des Arbeitsvolks nach den neuesten Maßstäben des Kapitals, weil es die abwickelt. Dank Sozialamt ist keine Existenz für den Staat"durchsichtiger" als die der längere Zeit Einkommenslosen. Personenstandsregister erfassen die Unterwerfung von Liebe und Fortpflanzung unter das Ehe- und Familienrecht. Die männliche Bevölkerung unterliegt der treffend so genannten Wehrüberwachung. Wer als Gesetzesbrecher polizeinotorisch geworden ist, dem eröffnet der Staat ein ganz individuelles Vorstrafenregister, und wer bei einem der ziemlich allgegenwärtigen bundesdeutschen Geheimdienste den Verdacht mangelnder Staatstreue erregt hat, darf sich einer sorgsamen Beobachtung jeder Lebensregung sicher sein.
Der Skandal des "gläsernen Menschen"
Die bundesdeutsche Republik kennt ihr Volk, weil sie es regiert und weil der Zugriff des Staats auf seine Untertanen nicht erst dort beginnt, wo die Freiheiten des Bürgers enden, sondern weil diese Freiheiten Resultat staatlicher Inpflichtnahme sind. Die Beschwerde grüner und sonstiger Musterdemokraten, die Volkszählung schaffe die Gefahr des "gläsernen Bürgers" - womöglich mit dem Zusatz, dies könne nicht in der Absicht eines Rechtsstaats liegen und sei nur verantwortungslosen Politikern und/oder einer "faschistischen Technik" der Datenverarbeitung geschuldet - stellt eine bodenlose Verharmlosung des Rechtsstaats dar. Bürger einer Demokratie und für den Staat ein offenes Buch zu sein, ist dasselbe, weil der Staat mit dem Recht die Bedingungen für die Verfolgung eines jeden Interesses schafft auf die sich dann jedermann unter tatkräftiger staatlicher Kontrolle einstellen muß. "Gläserne Menschen" sind die Bundesbürger schon lange, weil sie die Abhängigkeit ihrer Lebensumstände von den Beschlüssen der Nation praktisch anerkennen und wie selbstverständlich jede gesetzlich oktroyierte Existenzbedingung als ihre Decke akzeptieren, nach der sie sich zu strecken haben. Nicht, daß der Staat über seine Bürger umfassend Bescheid weiß, macht den Skandal des "gläsernen Menschen" aus, sondern, daß dieses Bescheidwissen Resultat und Mittel fortgesetzter totaler Indienstnahme ist: das Signum dafür, daß die individuelle Wohlfahrt erfolgreich zur abhängigen Variable der Interessen von Kapital und Staat gemacht und Freiheit dasselbe wie nationale Pflichterfüllung ist.
Der politische Zweck der Volkszählung
ist also nicht in einem bestimmten "Problem" staatlicher Herrschaftsausübung begründet. Die BRD ist nicht Polen, wo vor einem Jahr eine Volkszählung abgehalten wurde, weil dem Staat aufgefallen war, daß sich die Bevölkerung einen guten Teil ihrer Lebensmittel "schwarz" verschafft, also ein Gutteil der nationalen Produktion als Verstoß gegen die nationale Einrichtung der Produktion stattfindet. Hierzulande sehen auch die Verstöße ganz anders aus. Zwar gibt es Zigtausende von Ausländern, die ohne Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis arbeiten und daher nie auf dem Einwohnermeldeund Finanzamt erscheinen; aber gerade als schrankenlos ausbeutbare "Illegale" schmälern sie nicht den Erfolg der Wirtschaft, sondern fördern ihn. Zwar ist in den polizeilichen Melderegistern mancher gute Deutsche und legal fleißige Ausländer unter einer Adresse gemeldet, an der er gar nicht (mehr) wohnt, aber dieser bürokratische Mißstand, der jetzt restlos abgestellt wird, rührt zumeist aus Unwissenheit oder Nachlässigkeit von Leuten, die sich inner- wie außerhalb ihrer vier Wände eines sehr ordnungsgemäßen Lebenswandels befleißigen. Zwar hat mancher sein Auto bei der Oma auf dem Land angemeldet, zwar gibt es Schwarzarbeit, Mogeleien beim Wohngeld und was der kleinlichen Betrügereien mehr sind, die durch die elektronische Verarbeitung der Volkszählungsdaten zu entlarven sind. Aber all diese Inkorrektheiten sind keine Aufkündigung der staatsbürgerlichen Funktionalität für die nationale Arbeits- und Gesellschaftsordnung, sondern das Gegenteil: jämmerliche Techniken, trotz eines sinkenden Lohns bzw. der zum Lebensunterhalt schlechterdings nicht ausreichenden staatlichen "Unterstützung" ein geregeltes, die eigene Funktionalität erhaltendes Leben zu führen.
Wie gesagt: Nicht, daß die jetzt ausgeforschten Lebensumstände und -gewohnheiten des Volks eine praktische Beschränkung des souveränen staatlichen Umgangs mit ihm darstellten, ist der Ausgangspunkt der Volkszählung. Wenn der Staat, getrennt von den durch das Regieren quasi von selbst akkumulierten Datensammlungen, noch einmal "Angaben über den neuesten Stand der Bevölkerung, ihre räumliche Verteilung und ihre Zusammensetzung nach demographischen Gesichtspunkten sowie ihre wirtschaftliche Betätigung" (Begründung des Volkszählungsgesetzes) ermittelt; wenn er zugleich technische Einrichtungen schafft, die Resultate der einmaligen Ermittlung jederzeit mit allen Daten in Verbindung zu bringen, die aktuell in der Arbeits-, Sozial-, Finanz- usw. -Verwaltung anfallen, dann nimmt der Staat zusätzlich zu den längst praktizierten Erfassungen der Bürger eine Bestandsaufnahme der laufenden "Durchleuchtung" seiner Untertanen vor. Zwar hat das mit der jährlichen Inventur eines Kaufmanns wenig zu tun (zumal sie der Staat vorschreibt und nicht der Kaufmann selbst darauf kommt), wie das offizielle Volkszählungs-Propaganda-Telefon dem Anrufer weismachen wollte -
"Ähnlich wie von Zeit zu Zeit ein Kaufmann eine Inventur durchführen muß, kann auch der Staat auf eine grundliche Bestandsaufnahme nicht verzichten." -,
aber um so etwas wie eine staatliche Inventur handelt es sich schon; nur eben um eine Inventur der Inventur. Die Obrigkeit vollführt eine umfassende Kontrolle, eine Gegenkontrolle der gängigen Kontrollen ihrer Bürger. Sie erstellt ein detailliertes Gesamtbild aller Modalitäten, mit denen ihre Untertanen mit den staatlich eingerichteten "stummen Zwängen" zurechtkommen und die dem Staat keineswegs unbekannt sind. Dabei interessieren die obersten Volkszähler Leute, die sich in Nischen der Gesellschaft dem staatlichen Durchblick gegenüber sozusagen verdünnisiert haben: heute vor allem Ausländer, die ohne gemeldeten Wohnsitz, ohne Arbeit oder registrierter Arbeit trotzdem in Frankfurt oder anderswo leben; aber auch Deutsche, die entweder gar nicht oder gleich an mehreren Orten gemeldet sind; solche, die von irgendetwas leben, aber noch nie eine Lohnsteuerkarte wollten; Menschen im wehrfähigen Alter, die die Wehrerfassung nicht erwischt hat... Deshalb das Kopfgeld für Volkszähler in einigen Städten. Letztere hinwiederum haben ein Interesse daran, mehr Einwohner in ihrem Kommunalbereich zusammenzuzählen, um mehr Steuern zusammenzukriegen.
Sicher ist so diese zusätzliche Kontrolle eine Effektivierung aller sowieso laufenden Kontrollmaßnahmen. Sicher werden die erfaßten Daten nach der Aufrechnung nicht in der Datenschutzfeueranlage (Standort immer noch unbekannt) landen, sondern allen möglichen Behörden offenstehen. Und sicher werden die gewonnenen Erkenntnisse auch für Zwecke benutzt werden, von denen man heute noch gar nicht weiß. Aber deshalb ist die Volkszählung nicht der Schritt zum "Überwachungsstaat" - reicht denn da nicht schon die praktizierte Kontrolle ?-, der jetzt alles könnte - reicht denn nicht, was er tut?! Was einem an unserem freiheitlichen Gemeinwesen anläßlich der Volkszählung auffallen sollte, ist der absolute Anspruch, keinen Bürger von der staatlichen Benutzung und der staatlichen Kenntnis darüber auskommen zu lassen - zusätzlich dazu, daß eh für die kontrollierte Nützlichkeit aller Untertanen gesorgt ist. Zu den unabdingbaren Voraussetzungen des staatlichen Zugriffs auf seine Bürger gehört die Volkszählung nicht - der Zugriff ist vielmehr vorausgesetzt. Wäre das nicht so, hätte sich die dritte der ersten Gewalt im Staate sicher nicht die Freiheit genommen, die Zählung vorerst auszusetzen.
Die Moral der Volkszählung
Sechs Wochen nach der Wahl - der Zählung freier, allgemeiner und gleicher Ja-Stimmen für die souveräne, vom Volk unabhängige Durchführung der Politik - sollte dem Volk schon wieder ein von der alltäglichen praktischen Unterwerfung getrennter Beweis seiner Qualitäten als Material der Herrschaft abverlangt werden. Wie vor der Wahl, so wird auch vor der allgemeinen und gleichen Selbstoffenbarung der Leute als nützlicher Volksgenossen von oben eine öffentliche Debatte inszeniert, auf daß jedermann auch das rechte Verständnis für sein Bekenntnis entwickle. Anhand der Volkszählung wird die Propaganda der Moral des guten und braven Staatsbürgers, der tut, was Vater Staat verlangt, auch wenn es eine Volkszählung ist, an den Mann gebracht. Die amtlichen "Begründungen" für die Notwendigkeit der Erhebung sind offensive Zurückweisungen jedes Verlangens nach Offenlegung ihrer Gründe. Daß der Staat seine Verfügungen über das Volk nach Belieben geheimhält, ist selbstverständlich - man denke nur an die Aufregung über grüne Abgeordnete in Bundestagsausschüssen; ebenso selbstverständlich ist, daß der Bürger sich dem Staat fraglos offenbart. Wenn der Wohnungsbauminister Schneider "unkalkulierbare Probleme für die Wohnungspolitik" an die Wand malt, die nur durch die Volkszählung beseitigt werden könnten - als ob die Regierung im Wohnungsbau plötzlich die Planwirtschaft einführen wollte -, dann soll gesagt sein und wird verstanden: Der Staat will die Daten für seine Zwecke, basta, und wer treudoofer Nationalist genug ist, der darf auch die unernste und entsprechend vage Vorstellung eines vielleicht einmal eintretenden Nutzens für sich damit verbinden - etwa, daß es jedem helfe, wenn "wir mehr über uns wissen", als wäre letzteres überhaupt der Fall. Genausogut kann er es seinlassen, denn die "Bedeutung" der Volkszählung liegt auf ganz anderem Gebiet:
"Die Fragebögen korrekt auszufüllen, sei nicht nur eine gesetzliche Verpflichtung; dies gebiete auch die Solidarität mit den Bürgern und dem Staat." (Waffenschmidt in der "Süddeutschen Zeitung" vom 16.3.83)
Der Mensch soll nicht nur funktionieren; er soll nicht nur, wie das Gesetz es befiehlt, dem Staat offenlegen, wie er funktioniert er soll diesen Akt der Pflichterfüllung als positive Tat der Solidarität mit dem Staat durchführen. Er soll nicht nur als perfekter Untertan handeln, sondern sich auch voll und ganz als Staatsbürger begreifen, der seinen Stolz darein setzt, daß er sich dem Staat offenlegt und daß der Staat ihn kennt. Das Äußern von Bedenken gegen die Volkszählung wird zugelassen, ja sogar von C-Seite betrieben, aber nur um sie kategorisch als unberechtigt zurückzuweisen. Laut Regierung ist "die Aufregung in Teilen der Öffentlichkeit rational kaum verständlich". Wenn Strauß, Barschel und die "BILD"-Zeitung zunächst mit dem Vorschlag auftreten, die Zählung zu verschieben, bis das - natürlich völlig unbegründete - Mißtrauen gegen sie zerstreut sei, dann tun sie so, als ob die Zustimmung zur Ausforschung freiwillig wäre und die Durchführung derselben vielleicht zum Hindernis für die Zustimmung werden könnte; und mit dem gleichen Vorschlag stellen sie klar, daß die staatliche Erhebung selbstverständlich kein Hindernis für Zustimmung sein kann, sondern vielmehr einen gelungenen Anlaß für einen volksgenossenschaftlichen Vertrauensbeweis darstellt.
"Wer nichts zu verbergen hat, der hat auch nichts zu befürchten" (Innenminister ZimImermann): Wer sich nicht bereitwillig der öffentlichen Gewalt offenbart, der gibt nach dieser Logik automatisch zu, daß er ein Schmarotzer an der "Solidargemeinschaft" oder gar politisch ein falscher Fünfziger ist, Kontrolle also seinetwegen nötig ist. Nach diesem infamen Muster legitimiert der zugelassene Zweifel an der Legitimität der Maßnahme ihre staatspolitische Unabdingbarkeit. 'Vertraust du dem Staat?' lautet die Gretchenfrage, mit der jeder Kritiker vor die Alternative gestellt wird, mit einem Bekenntnis zum Staat seine Einwände zurückzunehmen oder sich selber als Staatsfeind zu entlarven.
Um darüber jedes Mißverständnis auszuschließen, hat der Bundesinnenminister die Bürger aufgefordert, daß sie sich "nicht aufhetzen lassen (sollen) von Leuten, denen es in Wirklichkeit nicht um das Volkszählungsgesetz, sondern um die Bekämpfung unseres demokratischen Staatswesens geht." Die Bestandsaufnahme über die praktisch erwiesene Brauchbarkeit des Volks wird als Test auf die Staatsbürgermoral inszeniert. Die Kriterien dieser Moral werden zugleich mit den Fragebögen ausgegeben: Die erzwungene Bereitschaft, der staatlichen Statistik ein "Profil" der eigenen Zurichtung als Volksgenosse abzuliefern, ist als bedingungsloses Bekenntnis zu "unserem demokratischen Staatswesen" zu praktizieren.
Den guten Deutschen, die dem nachkommen, wird die Volkszählung geradezu als ein Mittel angepriesen, das Volk auch gleich entsprechend den neuen Anforderungen an die Bürgermoral neu zu sortieren: Der Staat brauche die Volkszählung, "um festzustellen, wo die Feinde unserer freiheitlichen Demokratie stecken" (CDU-MdB Heereman). Was wird mit dem Versprechen, angeblich verborgene Staatsfeinde zu entlarven, eigentlich versprochen? Der selbstbewußte Rechtsstaat wartet nicht darauf, daß sich jemand durch einen Verstoß gegen eine gesetzliche Vorschrift selber als unsicherer Kantonist bemerkbar macht. Er macht sich nicht davon abhängig, daß jemand erst mit einer unbotmäßigen Meinung hervortritt, um gegen den Autor derselben Verdacht zu schöpfen. Die wehrhafte Demokratie behält sich den Generalverdacht mangelnder Zuverlässigkeit vor und beansprucht die Freiheit, jedermann auf alle möglichen Abweichungen von der Normalität moralischer Lebensführung zu überprüfen, um womöglich Verdacht gegen ihn zu schöpfen und undeutsches Verhalten schon im "Vorfeld" in den Griff zu bekommen. Das ist die Genugtuung, die der Staat dem braven Volk verspricht, das ihm das Diagramm seiner Brauchbarkeit als freiwilligen Vertrauensbeweis überreicht. Das Versprechen ist keine bloße Ideologie. Zwar läßt der Staat seine Computer auch künftig nicht heißlaufen, um, wie die Oma vom Nachbarhaus, an jeder Lebensäußerung einer Wohngemeinschaft den Verdacht mangelnder Wohlanständigkeit zu bestätigen. Aber die längst üblichen Ermittlungen in jedem nur denkbaren "Vorfeld" werden künftig natürlich unter Verwendung der Volkszählungsresultate geführt. Und jedes praktische Zuschlagen, das seine Effizienz mit dem Hinweis darauf begründet, "beweist" ex post, wie wichtig die vertrauensvolle Selbstoffenbarung aller Deutschen war.
Die Opposition gegen die Volkszählung...
macht es den Politikern und ihren bestallten Agitatoren leicht. Sie läßt sich nicht nur auf die ihr gestellte Vertrauensfrage ein - sie hat selber keinen anderen Maßstab der Kritik an ihr - durch die Erhebung mehr oder weniger verhindertes - Vertrauen. Die Datenschützer regt an der durch die Volkszählung verdoppelten Volkskontrolle auf, daß sie die Gefahr einer Beschädigung der Rechtsstaatlichkeit darstelle, weil die Kenntnis der erhobenen Daten vielleicht nicht ausschließlich den speziell zuständigen Instanzen vorbehalten bleibt, wie das Statistikgesetz und andere rechtliche Vorschriften verlangen. Die Frage, ob mit der Verwendung der - angeblich erst jetzt möglichen! - "Totalerfassung des Bürgers" außer besagten Gesetzen vielleicht auch noch jemand anders "verletzt" wird, geht am Anliegen eines Datenschützers vorbei. So einer hält die säuberliche Trennung der "Kompetenzen", die rechtlich geregelte arbeitsteilige Organisierung des umfassenden staatlichen Zugriffs auf den Untertan nicht für eine Effektivierung, sondern für eine Relativierung der staatlichen Macht über den Bürger - und damit für einen hinreichenden Grund staatsbürgerlichen Vertrauens in die Obrigkeit. Daß Datenschützer als Illusionisten des Rechtsstaats überhaupt Bedingungen für das Vertrauen der Untertanen in die Herrschaft geltend machen, dient deren Propagandisten als Gelegenheit zu einer Klarstellung der zeitgemäßen Rechtsstaatsideologie. Politiker, die in Worten und Taten längst bewiesen haben, daß ihnen am versöhnlichen Schein rechtlich gebändigter Machtausübung nichts, sehr viel aber an deren demonstrativer Effizienz liegt, weisen jeden Verdacht gegen ihre rechtsstaatliche Lauterkeit empört zurück: das entsprechende Vertrauen ist ihnen unbesehen entgegenzubringen, andernfalls handelt es sich um die staatsfeindliche Untergrabung des vorhandenen Vertrauens in den Staat.
Die Initiativen zum Boykott der Volkszählung haben in dieser immerhin ein Herrschaftsmittel ausgemacht; leider nur ein Mittel einer Herschaft, die ihre Herrschaft mißbrauche. Ihnen ist an der Erhebung nicht aufgefallen, daß sie die durchgesetzte Indienstnahme des "ganzen Menschen" für die Politik zur Voraussetzung und deren Perfektionierung zum Zweck hat. Herrschaft, schlechte zumal, fängt für sie so richtig erst demnächst an, mit der elektronischen Auswertung der Fragebögen, und hat dann mit praktischer Indienstnahme für einen politischen Zweck nichts zu tun: "Computer beherrschen das Land". Ein absurdes Bild, das der Ausforschung jede politische Rationalität abspricht und sie zu einer praktizierten moralischen Undenkbarkeit und überflüssigen Schikane erklärt: sinn- und zweckloser Knechtung, der Unmenschlichkeit, kurz, dem Bösen soll sie den Weg bereiten. Auf diesen moralischen Schwachsinn, der in der TAZ seitenlang zu Schreckensgemälden von menschlichkeits- und gemeinschaftszersetzender Überwachung schlechthin ausgemalt wird, der auf Plakaten bis zum Erbrechen mit der standardisierten Warennummer bebildert wird, wo doch der Mensch ein Mensch sei - eben, der Bundesrepublik Deutschland, schon vor der Volkszählung -, kommen sie, weil sie das "Volksverhör" mit ihrem Ideal des Rechtsstaats vergleichen. In dessen Licht erscheint die Methode bürgerlicher Herrschaft, jeden Lebensumstand der Untertanen durch allgemeinverbindliche Regelungen festzulegen und damit die Interessen der Herrschaft dem Interesse des Bürgers immer schon vorauszusetzen, als gedeihliches Arrangement von Gewalt und Untertan, das letzterem durchaus etliche 'Freiräume' schafft. Es ist das Ideal der Heimat, die rechtschaffene Menschen unter der rechtlichen Gewalt finden könnten, und entsprechend ziehen sie ihren "Kampf" gegen das Unrecht, zu dem sie die Volkszählung verharmlosen, als Selbstvorführung aufrechter staatsbürgerlicher Gesinnung auf: "Wir wollen diese Gesetzesübertretung auf zivile Weise tun, nicht als Bösewichter, sondern als Bürger, nicht heimlich, sondern offen und guten Gewissens." ( Boykottaufruf aus Bremen). Sozusagen als Angebot eines guten Volks an eine liebe Obrigkeit, die dem ihr vorgeschossenen Vertrauen gerecht werden soll. Und wenn Linke ausgerechnet an der Volkszählung staatliche Repression entdecken, einen Kampf dagegen für eminent wichtig halten, dabei die Niederlande als Beweis der Stärke der Volksmassen ansehen, dann haben sie wohl mal wieder das Ohr am Puls der Bewegung von Bürgern, die alles mitmachen, dabei nur keine durchsichtige Nummer sein wollen.
...Material geistiger Führung
Die Opposition von Datenschützern, Grünen und Boykotteuren ist deshalb so ein dankbares Material für eine ideologische Offensive von oben, weil sie sich wie die Verkörperung einer offiziellen sozialliberalen Staatsideologie aufführt. Insofern eine hübsche Gelegenheit für die neuen Herren in Bonn, sie der Form nach niederzumachen, um sie dem Inhalt nach fortzuschreiben - gemäß den Fortschritten in den Anforderungen der Politik an das Volk. Es war eine typisch sozialdemokratische Heuchelei, bei der Interpretation sozialliberaler Gesetzgebung eine grundsätzliche Harmonie von (irgendwie von Natur aus) rechtschaffenem Bürger und (wahrem) Recht zu fingieren, der zu genügen die wirkliche Rechtsetzung immerzu strebend bemüht sei - wenn auch unvollkommen und auf das Machbare beschränkt. Diese Manier, eine Differenz zwischen rechtlichem Machtwort und Bürger einzuräumen, um sie zugleich für unwesentlich zu erklären, und das potemkinsche Dorf, die schädliche Verpflichtung des Rechts auf den Bürger vorzuspiegeln, ist den regierenden Christen ein Dorn im Auge. Ihnen ist an der genau umgekehrten Staatsheuchelei gelegen. Mit dem zynischen Verweis auf die erzwungene Botmäßigkeit des Volks wollen sie die Sache so verstanden wissen, daß nicht erst ein noch zu schaffendes, sondern das existente Recht das Ideal des Bürgers ist; daß er gerade dann vom Staat sein Recht erhält, wenn er sich der Macht und seinen Pflichten ihr gegen; über aktiv anheimstellt. Nicht mehr Kritik als vertrauensbildende Maßnahme, sondern bedingungsloses Vertrauen zeichnet den mündigen Bürger aus, auf den die BRD nach der Wende setzt.
Am 13. April wurde die Volkszählung einstweilig ausgesetzt, weil mit ihr "Grundfragen" des "grundgesetzlichen Schutzes des einzelnen aufgeworfen" seien. Wenn die Obrigkeit das Volk im Griff hat, kann sich ihre Dritte Gewalt so etwas leisten. Oder glaubt jemand, eine breite Volkszählungsopposition habe dieses vorläufige Ergebnis erzwungen? Seit dem 13. April also - muß man ja nach der gelaufenen Debatte annehmen - ist die Repression eine Zeitlang ein Stück reduziert, dürfen sich die Bürger eine Zeitlang freier, weil nicht gläsern fühlen, werden - gemäß dem Fernsehspot zur Volkszählung, in dem gemeinsames Wissen als so nützlich vorgestellt wurde - Millionen Salate versalzen werden, weil Mama nicht weiß, was Papa und Sohn schon dazugetan haben. - Wer hat wohl einen Sieg davongetragen, wenn der Zimmermann sehr unbeeindruckt wieder einmal einen Schlag gegen die jetzige Opposition landet, die damals beschloß, was der Zimmermann bis zum 13. April durchführen wollte?
Und wie bei allen Richtersprüchen aus Karlsruhe läßt sich das Resultat des erst für Herbst zu erwartenden Urteils in Sachen Volkszählung jetzt schon angeben: Die statistische Volkserfassung wird auf eine neue, hieb- und stichfeste rechtliche Grundlage gestet werden. Das ist schließlich die Funktion des obersten Verfassungshüters: die Perfektionierung des Rechtsstaates.
Im Namen des Volkes
Gemäß dem Geist der geistigen Führung nach der Wende werden die Bedingungen für die Erlaubnis abweichender Meinung mit demonstrativer staatlicher Gewaltanwendung und deren öffentlicher Interpretation neu definiert. Für seinen Aufruf zu einer Demonstration am Frankfurter Flughafen wurde Alexander Schubart, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Volksbegehren gegen die Startbahn West, wegen Nötigung von Verfassungsorganen mit zwei Jahren Gefängnis auf Bewährung, den Gerichtskosten sowie der Zerstörung seiner bürgerlichen Existenz bestraft. Die Lehren aus Urteil und Urteilsbegründüng:
- Daß Schubert ausdrücklich zur Gewaltfreiheit aufgerufen hatte, sei einem Aufruf zur Gewalt gleichgekommen, weil eine Demonstration am Frankfurter Flughafen nicht nur gewaltsam habe enden müssen, sondern auch ohnedies wegen der Behinderung der normalen Abläufe einen "Gewaltakt an sich" dargestellt habe. (Eine eines Freisler würdige Logik, aber eben auch eines demokratischen d: Richters, weil es nicht auf die Logik, sondern darauf ankommt, daß sie dem richtigen "System" dient. Merke: Die demonstrative Äußerung einer 'von den Beschlüssen des Staats' differierenden Meinung ist nur erlaubt, wenn zugleich mitdemonstriert wird, daß damit keinesfalls Druck zur Berücksichtigung dieser Meinung ausgeübt werden soll. Nur wer einen Anspruch schon aufgegeben hat, darf ihn vortragen.
- Straferschwerend schlug zu Buche, daß Schubart auch im Prozeßverlauf nicht einsehen wollte, daß sein Plan einer "gewaltfreien Demonstration" ein Aufruf zur Gewalt war. Ihm wurde vorgeworfen, daß er einet "eigenmächtigen Festlegung der Gewalt" erlegen sei und sich "anmaßt, zu entscheiden, was Gewalt sei". Merke: Wer das staatliche Gewaltmonopol achten, aber mit dem Staat rechten will, wo die Mißachtung anfängt und wo noch nicht, der verletzt schon das staatliche Gewaltmonopol.
Wie moralisch und kriterienlos dabei die geforderte Achtung vor der Staatsgewalt gemeint ist, unterstrich zu allem Überfluß die rigide polizeiliche Verfolgung aller, die einen Protestaufkleber gegen das staatliche Vorgehen an der Startbahn West - einen hessischen Wappenlöwen, der einen Knüppel schwingt - an ihrem Auto anbrachten.
Dieses Vorgehen gegen öffentliche Bekundungen von Unzufriedenheit, wie sie noch vor einigen Jahren geduldet bzw. nicht mit solcher Schärfe geahndet wurden, vollzieht eine Klarstellung über das Freiheitsrecht der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit. Allen oppositionellen Geistern wird ins Stammbuch geschrieben, daß die Erlaubnis, eine andere Meinung sagen zu dürfen, schon immer dasselbe war wie eine berechnend erteilte Gnade der Gewalt, verbunden mit der Mitteilung, sie könne auch anders. Dem sowieso einverstandenen Rest der Menschheit zur gefälligen Kenntnisnahme durch Presse und Fernsehen zugestellt! Diese sehr untheoretische Kritik sozialliberaler Demokratieillusionen dient nämlich der Durchsetzung der spezifsich christdemokratischen Lüge über den menschenfreundlichen Charakter rechtlich geregelter Gewalt zur gültigen Staatsideologie. Die einschlägigen Gerichtsurteile werden nicht nur "im Namen des Volkes" verkündet, sie berufen sich explizit auf eine pflichtbewußte, gegenüber ihrer Obrigkeit schrankenlos duldsame und jeder "Unordnung" verständnislos gegenübetstehende "Mehrheit". Mit dem richterlichen Verdacht, Demonstranten könnten den Vollzug ihrer alltäglichen Pflichterfüllung stören werden Demonstrationen wie die am Rhein-Main-Flughafen zu einem "Gewaltakt an sich" erklärt - einer Tat, die als Gewalt gelten soll, ganz unabhängig davon, ob der Täter Gewalt ausüben will oder ob jemand tatsächlich durch eine Gewalt getroffen wird: als ob die Mehrheit des Volks, trotz aller Demonstrationen, ohne die Hetze der Presse und ohne den Prozeß gegen "Aschu" von diesem jemals etwas gemerkt hätte! Daß das Volk für jeden Verwaltungsakt Gebühren zahlen muß, wird als Rechtfertigungsgrund dafür angeführt, daß Demonstranten nach polizeilicher Sonderbehandlung mit DM 36 pro Knüppel und Stunde zur Kasse gebeten werden. Das gute Volk, das sich brav für den Aufschwung und die Sanierung der Staatsfinanzen verarmen läßt, hat ein Recht darauf, daß Demonstrantenkarteien angelegt, von allen Teilnehmern öffentlicher Kundgebungen Videoaufnahmen angefertigt und entsprechend ausgewertet werden und daß im Demonstrationsrecht der Tatbestand des Landfriedensbruchs ausgeweitet wird. Zwar kennt das Volk weder den alten noch den neuen Tatbestand des Landfriedensbruchs - aber es wird ja auch nur als unwiderlegliche moralische Berufungsinstanz des Staats vor dem Volk selber zitiert. Kohl, Strauß und Genscher sowie ihre juristischen Vollzugsbeamten und journalistischen Dolmetscher machen sich doch nicht von Stimmungen des Volks abhängig - sie machen seine Stimmungen doch. Mit unverfrorenen Lügen über angebliche Anträge der "Menschen draußen im Lande", vermischt mit Erinnerungen an die faschistische Ordnungsliebe der demokratischen Basis, verkünden sie zusammen die frohe christdemokratische Staatsbotschaft: Siehe, die Einheit von staatlicher Gewalt und den ihr Unterworfenen existiert - im Recht, das es gibt! Es muß nur rücksichtslos genug angewandt werden, dann tritt die vorausgesetzte Identität der allgemeinen Gewalt mit der natürlichen Rechtlichkeit der Bürger offen zutage! In den Worten des Verfassungsministers Zimmermann: "Das Recht dient dem Menschen." Die Frage, wozu, ist unerlaubt, denn sie wäre schon der Zweifel am rechtsstaatlichen Dogma: Wenn der Mensch der allgemeinen Gewalt untertan ist, dann ist ihm in jedem entscheidenden Belang immer schon geholfen.
Das Ideal geordneter Verhältnisse
Daß diese Rechtsstaatsideologie die Lebenslüge einer überaus erfolgreichen Gewalt ist, liegt auf der Hand. Sie beruft sich ja nicht nur auf die praktische Unterwerfung des Volks unter die ihm staatlich diktierten Nöte. Sie verweist auch zweitens stolz darauf, daß die Untertanen aus dieser Not beständig die nationalistische Tugend bedingungsloser Zustimmung machen, und das muß auch eine moderne Demokratie sich erst einmal trauen können. Drittens nämlich enthält das zynische Lob des funktionalen nationalen Fanatismus für die Leute die Ankündigung, daß ihr Staat für sie auch in Zukunft nichts anderes vorgesehen hat als die maßlose Inanspruchnahme der ihnen aufgenötigten Tugend. Viertens aber verkündet das staatliche Programm von Not und Gewalt, das sich seinen Opfern als staatliche Entsprechung zu ihrer nationalistischen Moral präsentiert, ein Versprechen: Der Staat erklärt sich als in die Pflicht genommen, der nationalistischen Moral überall und gegen jedermann Geltung zu verschaffen - so, wie er sie haben will.
Das ist kein faschistisches, sondern ein demokratisches Programm. Wie es geht, hat Kanzler Kohl gleich am Wahlabend in der Bonner Runde vorexerniert. Er begründete das als Wahlkampfschlager der C-Parteien gehandelte Vermummungsverbot folgendermaßen: "Das Demonstrationsrecht ist ein hohes Recht des freien Bürgers. Wer es wahrnimmt, der sollte sich nicht verbergen, sondern sich offen bekennen." Wer nicht "versteht", daß auch bei der staatlichen Kontrolle über die Äußerung einer abweichenden Meinung "das Recht dem Bürger nützt", und durch sein Verhalten die gegenteilige Auffassung dokumentiert, der verdient das Recht nicht, weil er sich dadurch selber außerhalb der Gemeinschaft der "freien Bürger" stellt. Kohl realisiert nicht einfach den Untertanenmoralismus, daß demonstrierende Faulenzer und Schmarotzer kleingemacht gehören, sondern er lehrt sie - während er die praktische Verfolgung Unbotmäßiger energisch betreibt - das rechte Verständnis von Recht und Freiheit (die soll ja verteidigt werden und nicht, wie bei Hitler, eine in ihrem Bestand gefährdete Ordnung). Freiheit wird heutzutage buchstabiert als freies Bekenntnis zu geordneten Unterordnungsverhältnissen - und dazu, daß sie nicht "wehrlos" sein darf. Zwar ist weit und breit nirgendwo ein Gegner der realen Unterordnung zu entdecken, der diese auch nur im mindesten in Gefahr bringen könnte. Aber das macht das Betreiben des Ideals geordneter Verhältnisse gerade so bequem. Nach der Logik: Wer nicht, wie doch alle, dafür ist, der ist eine Gefahr für die Gemeinschaft, beweist jedes beliebige Opfer von staatsschützenden Umtrieben die Existenz einer solchen Gefahr wie auch die Entschlossenheit des Staats zur wehrhaften Demokratie, die die Loyalität ihrer Bürger auch verdient.
Diesem doppelten Beweiszweck verdankt Schubart die Härte seiner Strafe. Um ihm zu genügen, werden in allen Bereichen des öffentlichen Lebens neue Maßstäbe für die Sortierung von Mißliebigen und unschuldigen Schäflein zur Anwendung gebracht. Daß die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften und das Nichtvorhandensein "gerichtsverwertbarer Tatsachen " noch nie ausreichten, um für eine staatliche Anstellung zu qualifizieien; daß der Beweis positiver Einstellung verlangt war, das haben z.B. Referendare nicht zuletzt in SPD-regierten Ländern schon immer zu spüren bekommen.
Jetzt hingegen werden alle paar Wochen Fälle bekannt wie der eines Ulmer Lehrers, der unter Verweis auf seine Sammlung von Unterrichtsmaterialien - es handelte sich um Ausschnitte aus so respektablen Zeitungen wie dem "Spiegel" und der "konservativkatholischen Schwäbischen Zeitung" über "Atomwaffen und Abrüstung, Frieden und Ökologie, Homosexualität und Ausländerproblematik, Bürgerinitiativen und Demonstrationen" (Spiegel) - aus dem Dienst entfernt wurde. Der gute Mann, den Grünen nahestehend, hatte offenbar schon zuviel kritisiert und seine Verantwortlichkeit für Staat und Gesellschaft zu sehr dadurch unter Beweis gestellt, daß er sich vornehmlich ihrer in der Öffentlichkeit gehandelten "Probleme" annahm. Gegen ihn wurde die neue Devise geltend gemacht, daß Positivität gegenüber den "Grundwerten" - den idealistischen Formulierungen westlicher Herrschaftsprinzipien - als bekennender Glaube a n sie und als Optimismus bezüglich ihrer Realität hierzulande aufzutreten habe. Die Grundwerte als"Orientierungen" anzuerkennen, die über alles, was sonst noch zählt, per se erhaben sind, ist eine siegesbewußte Kampfmoral, mit der verglichen, die sozialdemokratische Problematisierung von allem und jedem mit dem Maßstab dieser Ideale sich den Verdacht der nur halbherzigen Parteilichkeit für sie, wenn nicht gar der heimlichen Feindschaft gegen sie zuziehen muß. Daß die Unterscheidung zwischen (noch) parteilich und (schon) feindlich eine Frage der puren Willkür des Beurteilers ist-, macht die Selektion nach den neuen Kriterien erst so richtig spannend und stachelt den Opportunismus der Betroffenen an, freiwillig jede Veränderung des "Klimas" zu beachten.
Die imperialistische Moral des Rechtsstaats
Die Trendwende, durch den demonstrativen Einsatz von Gewalt genährt, stellt die Modernisierung des Rechtsstaats wie der dazugehörigen rechtlichen Gesinnung für die Zwecke des westlichen Kriegsbündnisses dar. Das Verbot und die Verfolgung von Devrimci Sol (Revolutionäre Linke), eines Vereins türkischer Oppositioneller gegen die dortige Militärdiktatur, Hausdurchsuchungen bei angeblichen Mitgliedern und Inhaftierung von ca. 200 Leuten - das war ein Akt zur Normalisierung der Beziehungen zur Türkei, gegenüber der heute selbst geheucheltes Bedenken gegen undemokratische Zustände dort unangebracht sind. Und es war ein demonstrativer Akt der ach so feinen Geistigkeit des neuen geistigen Klimas: Ausländer gehören entsprechend angepackt, aufmüpfige erst recht. Zuschlagen gegen "extremistische" Ausländer, das schafft Vertrauen bei deutschen Arbeitern, damit ihr Opfer einen Sinn hat. Rechtsstaatlich genial war die Begründung der Verhaftungen. Flugblätter, Plakate etc. der Dev Sol wurden als Vereinsvermögen definiert, das sofort nach dem Verbot einzuziehen sei, so daß jeder, der einmal beim Verteilen von Flugblättern oder Anbringen von Plakaten registriert worden war, völlig rechtlich von der Polizei durchsucht und als Mitbesitzer von Vereinsvermögen kassiert werden "mußte". Vom Gesetz erlaubte und von der Exekutive geduldete Oppositionstätigkeit schafft schon einen Spielraum - aber nur für den Staat, sie bei geänderter politischer Beschlußlage unter andere Gesetze fallen zu lassen und streng rechtlich zu verfolgen. Als Anlaß der Verbotsverfügung gab das Innenministerium die Besetzung der türkischen Botschaft vom 11. Februar durch angebliche Dev-Sol-Leute und eine "nicht angemeldete Versammlung vor der türkischen Botschaft am 25. April 1982" an. Nicht angegeben wurde, daß es sich in beiden Fällen um Protestaktionen gegen die Folterung von über hundert Dev-Sol-Mitgliedern in türkischen Gefängnissen und gegen deren drohende Hinrichtung handelte. In der demokratischsten aller je existierenden deutschen Republiken als Ausländer öffentlich gegen die türkische Diktatur aufzutreten, ist kein Schutz vor dem Verbot, sondern der Grund für es, weil die türkische Diktatur ein geschätzter Bündnispartner für das Anliegen bundesdeutscher Freiheit, die Befreiung der Welt von der Unfreiheit, ist. Daher schließt die offizielle Verbotsbegründung aus a) dem Verbot der Dev Sol durch das Militärregime, b) dem Umstand, daß die Vereinsmitglieder, statt sich in Ankara aufknüpfen zu lassen, "den gewaltsamen Umsturz in der Türkei" anstreben, daß c) "durch ihre politische Betätigung... die innere Sicherheit, die öffentliche Ordnung und sonstige erhebliche Belange der BRD (!)" gefährdet werden. Unbefangen dekretiert ein Zimmermann, daß 200 Türken, die auf deutschem Boden "Gewaltanwendung als Mittel zur Erreichung politischer Ziele" propagieren, "in einem unvereinbaren Widerspruch zum Bestreben der BRD (stehen), als aufrichtiges friedliebendes Mitglied der Völkergemeinschaft geachtet zu werden". (Als internes geheimdienstliches Gegenstück zu Polizeiaktionen gegen Dev Sol hat der Innenminister alle Aktionsgruppen gegen die "Nachrüstung" als "verfassungsfeindliche Bestrebungen" in den Verfassungsschutzbericht aufgenommen, die neuen Raketen damit in den Rang eines Verfassungsguts erhoben und entsprechenden Polizeiaktionen schon einmal vorgearbeitet.) Aus Gründen solch' freiheitlicher Völkergemeinschäft entschied kürzlich ein bundesdeutsches Gericht, daß der türkische Staat das Recht hat, Staatsfeinde zu foltern, das Folteropfer somit keineswegs als politisch verfolgt gelten könne und des bundesdeutschen Asylrechts nicht würdig sei. Deutsche Stellen, die Asylanträge bearbeiten, verfahren nach dem Motto: Jeder Nicht-Afghane, der einen Antrag stellt, berechtigt dadurch zu dem Verdacht, in seinem Heimatland "erhebliche Belange der BRD" verletzt zu haben; ein Verdacht, dem offenbar regelmäßig unter Amtshilfe des türkischen Geheimdiensts und zu dessen Zufriedenheit nachgegangen wird. Zu diesen Spitzenleistungen imperialistischer Kumpanei und imperialistischer Selbstgerechtigkeit paßt es sehr gut, daß hierzulande die inhumane Todesstrafe abgeschafft ist und nicht nur die Dev-Sol-Leute streng nach Ausländergesetz in die Türkei abgeschoben werden. Gegen die "Beeinträchtigung" unserer Interessen an der Türkei ist ein türkischer Henker gerade recht.
Richter oder Henker?
Nein, im Deutschland des Grundgesetzes gibt es keine Henker mehr. Ganz im Gegenteil. In den Reihen der Eigentumsschützer und Ordnungshüter bieten sich zuhauf Leute an, die zur Tat schreiten, nur weil das Gesetz es befiehlt. Die BILD-Zeitung verfertigt inzwischen aus der auffälligen Häufung der Fälle Sensationsberichte: "3 tote Jungen in 14 Tagen", dazu Jagdszenen aus der Welt der Erwachsenen: "Hamburg: Pistole am Hinterkopf - ein Schuß"; "Augsburg: Fahrerflucht, Reifen heil, 19jähriger tot"; "Frankfurt: Anruf, Polizei - Wachmann erschossen", alles in einer Ausgabe. Es ist nichts Neues, daß beamtete Vollzugsorgane den kürzestmöglichen Rechtsweg einschlagen und den Begriff des bürgerlichen Strafvollzugs - die Brechung des dem Gesetz nicht konformen Willens - augenblicklich und radikal vollziehen. Schließlich sind sie von ihrem Dienstherrn mit Tötungsinstrumenten und einem Schießbefehl versehen, wenn anders die Gefährdung, die sie für jeden ihnen Verdächtigen darstellen sollen, nicht zur Geltung gebracht werden kann. Es darf sich auch kein Anhänger des Rechtsstaats darüber empören, daß Polizisten in großer Verantwortung entscheiden, daß der Waffengebrauch angebracht ist. Gerade in einem perfekten Rechtsstaat ist das doch angebracht, wo das Verhalten der Bürger so umfassend geregelt ist, daß man selbst für die Überquerung einer Straße fünf Meter neben einem Zebrastreifen polizeilich zur Rede gestellt werden kann; wo es umgekehrt Berufspflicht des Polizisten ist, als demokratischer Ordnungshüter niemanden vom prinzipiellen Verdacht möglicher ordnungswidriger Absichten auszunehmen, und zu entscheiden, welchem Verdacht er nachgeht und welchem nicht; bei einer durchgesetzten Staatsbürgermoral und -heuchelei, wo Flucht ebenso wie demonstrierte Untertänigkeit Indiz verdachterregenden schlechten Gewissens sein kann. Wenn dann wie heute das Klima von oben so ausgestaltet wird, daß Recht und Ordnung wieder (was war denn gestern?) voll und ganz zu ihrem Recht kommen müßten, sich der Staat um der Ordnung (natürlich zum Schutz des Bürgers) willen keine Sanftheiten mehr leisten dürfe, dann erfüllt selbstverständlich jeder kleine und mittlere Ordnungshüter seine Pflicht dementsprechend. Weil die Zeiten vorbei sind, wo der allzu hitzigen Ausübung der Aufgaben des Rechtshüters von offizieller Seite Hemmnisse und Aufforderungen zur Zurückhaltung vorgesetzt wurden, weil die "Polizei, dein Freund und Helfer" heute an Konjunktur verloren hat, vielmehr der gewissenhafte Ordnungshüter der beste Rechtspfleger ist, da ist es kein Wunder, daß ganz normale Polizisten, denen ja faschistisches Gedankengut nicht fremd ist, ihrer Berufung von oben voll und ganz nachkommen: Im Zweifel für die Ordnung. Gehört doch offiziell und erklärtermaßen das gute Gewissen der Vollzugsorgane, die Skrupellosigkeit, mit der sie den Knüppel oder den Drücker betätigen, zu ihrem Beruf. Die Wahrheit des Rechtsstaats, die Identität von Recht und Gewalt, ist für die bestallten Anwender des "unmittelbaren Zwangs" die Identität des Rechts mit ihrer persönlichen gewaltsamen Durchsetzung. Deshalb gehört eine ganze Latte von Leichen, die hinterher als eigentlich überflüssige Opfer eingestuft werden (ganz zu schweigen von der Mehrzahl der nachträglich sanktionierten Fangschüsse), zu den faux frais rechtsstaatlicher Humanität, die von der Öffentlichkeit Jahr für Jahr in zynischer Unbeirrbarkeit als bedauerliche Mißgriffe abgehakt werden.
Was derzeit öffentliche Aufmerksam keit erregt, ist denn auch nur die außergewöhnlich hohe Zahl der "tragischen Fälle". Auf die Idee, daß, die Zunahme radikaler "Lösungen" im öffentlichen Dienst ihren Grund in der geistigen Führung hat, kommt ein Freund des Rechtsstaats dabei zuallerletzt. Dabei kennt jedermann die ziemlich einheitliche Berufsauffassung, vor allem aber nicht nur der unteren Chargen des Ordnungshüterstandes: Daß sie immer wieder tätig werden "müssen", "erklären" sie sich noch viel ernsthafter als sonst ein braver Mann damit, daß man sie das erste Mal nicht nachhaltig genug zuschlagen ließ. Wenn jetzt von oben der Schein fallengelassen wird, der Staat betrachte die Gewalt als möglichst zu vermeidende ultima ratio bei der "Integration" der Untertanen; wenn von den Machern des Rechtsstaats und geistigen Führern der Nation die umgekehrte Lüge zur Leitlinie erklärt wird, daß nur die rücksichtslose Gewalt gegen jeden, der ihr Mißtrauen erregt, die rechte Nestwärme zwischen dem Recht und den wahrhaft Rechtschaffenen stiftet wie soll das auf die personifizierten Gewaltwerkzeuge wirken, wenn nicht als Aufforderung, endlich die Sau rauszulassen?!
Den Rechtsstaat stimmt diese "Entwicklung" keineswegs bedenklich, ebensowenig wie die analog zustandegekommene Häufung von Schikanen in der Bundeswehr, die statistisch auffällig gewordene Bereitschaft von Polizei, Staatsanwaltschaft und Haftrichtern -zu massenhaften Inhaftierungen und dergleichen mehr. Er sichert diese zunächst etwas eigenverantwortliche Gestaltung des "Verhältnisses" von Staat und Bürger sogar gewaltsam ab, wenn ihm das in seine Linie paßt. Demonstranten, die nach der letzten großen Gorleben-Demonstration Polizisten wegen Mißhandlung anzeigten, bekamen ihrerseits Verfahren angehängt, da sie mit ihrer Anzeige die Teilnahme an einer verbotenen Demonstration und womöglich weitere Straftaten wie Widerstand gegen Vollzugsbeamte eingestanden hätten. Wer sich gegen den Staat auf das Recht beruft, der beschuldigt eben niemanden als sich selber.
Bedenklich gestimmt gibt sich hingegen die Öffentlichkeit - in Maßen, versteht sich. An den gehäuften polizeilichen Todesschüssen gilt nicht die Leichenproduktion selber als kritikabel, sondern daß die Schützen so viele "Falsche" erwischen. Nach bewährter demokratischer Manier wird an den Folgen des polizeilichen Schießauftrags herumgemäkelt, um ihn selber als sehr prinzipiell unschuldige Angelegenheit hinzustellen. Die bayerische SPD behauptet, der "erfahrene Zivilfahnder", der in Gauting einen 14jährigen erlegte, sei dabei von unzureichenden Vorschriften im Stich gelassen worden, und Journalisten setzen sich für eine bessere Schießausbildung der Polizei ein. Das bei einer Quote von 1 Mann auf 2 Schuß. So fordert die besorgte freie Meinung angesichts der Konsequenzen aus dem Fortschritt des Rechtsstaats energisch die Sauberkeit dieses Fortschritts. Sie ist schon längst da!