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Dieser Artikel ist in der MSZ 12-1983 erschienen.

Systematik


DARF EIN CSU-GENERALSEKRETÄR RENTNER ÜBERFAHREN?

"Heast, mia is do neilich ein Passant, bevor ea g'storbn is einäg'rannt..." (Helmut Qualtinger)

Der Fall:

Otto Wiesheu, alkoholisiert, rammt nachts auf der Autobahn einen Fiat von hinten. Der Fahrer ist tot, der Beifahrer verletzt.

Das Problem:

"Er muß wie jeder andere behandelt werden. Er kann nicht privilegiert sein, nur weil er eine gehobene Stellung hat." (Jasmina Merouani, 18, Arzthelferin)

"Sie haben ganz richtig geschrieben, daß hier Heuchelei fehl am Platz ist, denn sowas kann jedem passieren." (Ernestine Koller)

"Wenn hier trotzdem von Otto Wiesheu geredet werden muß, dann nur von dem Wiesheu in uns." (Das Streiflicht, Süddeutsche Zeitung)

Wie ist er nun wie jeder andere, wo er doch der Wiesheu ist? Als Mensch oder als Besoffener am Steuer, als Opfer von Umständen oder als fahrlässiger Totschläger? Verlangt ein Politikerdelikt nicht strengste Gleichbehandlung oder ist es nicht ein Unrecht, Politiker besonders gleich zu behandeln? Das erfordert die genaueste Prüfung des Falls in sämtlichen Aspekten.

Das Kräfteverhältnis:

Einerseits ein kleiner Fiat und ein großer Mercedes:

"Josef Rubinfeld war mit einem Fiat 500 auf der mittleren der drei Fahrbahnen unterwegs, als der schwere Wagen des CSU-Generalsekretärs in den Kleinwagen raste. Um die Hälfte kleiner wurde der Fiat durch den Aufprall." (tz)

Andererseits gehört ein Fiat 500 nicht auf die Fahrspur für Mercedesse:

"Urplötzlich ist auf dem mittleren von drei Fahrspuren der kleine Fiat 500 da..." (Bild)

"..daß der Fiat 500 auf der dreispurigen Fahrbahn auf der mittleren Spur, also Schnellspur, zockelte. Der getötete Fahrer hat selbst schuld." (Hubert Greiner)

Der Reisezweck:

Einerseits befand sich Otto Wiesheu auf einer ganz unschuldig menschlichen Heimfahrt:

"Um 21 Uhr war er mit Freunden essen gegangen. Jetzt ist es 2.52 Uhr. Wiesheu will nach Unterzolling, wo sein Haus steht." (Bild)

Andererseits befand sich sein Opfer auf einer noch viel menschlicheren Reise:

"Der Josef wollte zum ersten Mal seit 45 in seine Heimat Polen." (Bild)

"Zu seiner Schwester hat er kurz vor seiner Abreise gesagt: 'Ehe ich sterbe, will ich noch einmal meine Heimat sehen'." (tz) "Er wollte nach Auschwitz, wo seine Eltern und der Bruder umgekommen sind. Für Freunde und Verwandte hatte er Wurst, Schokolade dabei." (Bild)

Das menschliche Umfeld:

Einerseits hat das Opfer eine enorm tragische Familie:

"Gustava Rubinfeld: 'Ich habe meinen letzten Bruder verloren. Wir waren 10 Geschwister, alle sind sie in KZs umgekommen. Nur Josef und ich überlebten, er in Dachau, ich in Auschwitz." (tz)

Andererseits hat auch Wiesheu Familie:

"Er stand unter einer gewissen nervlichen Anspannung, da vor vierzehn Tagen seine Mutter gestorben war." (Frankfurter Allgemeine)

Die erlittenen Schäden:

Einerseits ist das Opfer tot:

"...ein Unfall, bei dem ein Mensch ums Leben kam..." ( Frankfurter Rundschau )

Andererseits hat es auch Wiesheu erwischt:

"Wiesheus Mercedes schleudert 140 Meter weit! Sein Blut klebt an der Scheibe". (Bild)

Wiesheu, der Charakter, war er zum Auffahren fähig?

Einer, der sich nicht dafür zu schude wvar, selbst zuzupacken:

"Noch bei der Ernte hat ihr Sohn Otto wie jedes Jahr auf dem Hof mitgeholfen. Otto Wiesheu sitzt gern am Steuer. Nicht nur in seiner einmotorigen Sportmaschine 'Piper Cheyenne', sondern auch im schwarzen Dienstmercedes. Ganz im Gegensatz zu seinen Vorgängern verzichtet der Fällschirmjäger-Reserveleutnant auch bei dienstlichen Terminen oft auf den ihm zustehenden Chauffeur." (Abendzeitung)

Einer, der auf Sicherheit im Straßenverkehr achtet:

"Wie Rosenberg ferner mitteilte, ist Wiesheu normalerweise immer mit einem Fahrer unterwegs. Am Freitag habe er seinem Fahrer für einen Auto-Sicherheitskurs zum bevorstehenden Winter freigegeben."

Wer ist schuld, der Alkohol, die Umwelt oder die Aufklärung?

"...ein Mensch, der sich leicht oder schwer benebelt hinters Lenkrad klemmt und der in dieser Sekunde auch den Tod eines anderen bereits in Kauf genommen hat, auch wenn er sich das nicht eingesteht, einzugestehen vermag..." (Das Streiflicht, Süddeutsche Zeitung)

"Der hat doch nicht allein getrunken. Die mit ihm zusammen waren, hätten zu ihm sagen sollen, Mensch, fahr doch nicht." (Josef Wurmannstetter, 51, Technischer Angestellter)

"Das kann doch jedem passieren. Man muß halt unentwegt weiterarbeiten und die Leute aufklären, daß Alkohol am Steuer schlimme Folgen haben kann." (Heinz Chedorowitz, 63, Rentner)

Reicht die Reue?

"Bei der Beerdigung legte nur die SPD einen Kranz nieder. Allerdings ist es bei jüdischen Begräbnissen nicht üblich, Kränze aufs Grab zu legen, sondern Blumen. Unter den Trauergästen waren auch Wiesheus Vater und Bruder. Die CSU-Leitung war nicht vertreten." (Süddeutsche Zeitung)

"Wiesheu bat seinen Vater und Bruder Josef: 'Kümmert euch bitte um das Opfer und die Angehörigen.'" (Bild)

"Ausdrücklich widersprach der Anwalt den Auskünften der CSU, Wiesheus Vater und Bruder hätten sofort nach dem Unfall Kontakt mit seinen Mandanten aufgenommen. Das sei bis zur Beerdigung nicht geschehen." (Süddeutsche Zeitung)

Aber Wiesheu feiert seinen Geburtstag nicht, obwohl er ihn hat:

"'Gestern wurde Wiesheu 39, aber er hat seinen Geburtstag natürlich nicht gefeiert. Wir haben ihm nur einen Herbststrauß geschickt', sagt ein CSU-Parteifreund." (Bild)

Alle seine Freunde, die es wissen müssen, wissen, wie sehr er leidet:

"Marianne Strauß hat Otto Wiesheu inzwischen mehrmals Mut zugesprochen: 'Er ist ein unendlich gewissenhafter Mann. Daß er einen Menschen totgefahren hat, macht ihm ungeheuer zu schaffen. Er ist unschuldig schuldig geworden. Gott sei Dank hat er starke religiöse Fundamente, die helfen ihm jetzt sehr.'" (Bild)

"Gerold Tandler rief die Journalisten auf, 'zu sehen, in welcher menschlichen Situation sich Otto Wiesheu befindet, und was es alleine schon für eine Tortur sein muß, tagtägliche Schlagzeilen und Fotos zu sehen'." (Frankfurter Allgemeine)

Wo er doch an ganz andere Schlagzeilen gewöhnt ist. Der Schock!

Wiesheu und das Gesetz

"Oberstaatsanwalt Otto Heindl bekam gestern unerwartet Post. Den Führerschein des Politikers, aus der Klinik an die Justiz geschickt, freiwillig!" (Bild)

Wiesheu, das Gesetz und die Partei

"...da mir selbst am allermeisten an der raschen Aufklärung des Sachverhalts und an einer fairen Abwicklung des Verfahrens liegt, bitte ich Sie, meine Amtspflichten als Generalsekretär der CSU vorläufig ruhen zu lassen. Ich will damit meinerseits alle Voraussetzungen für eine vollständige und objektive Klärung schaffen. Da ich mein Amt als Dienst für die gemeinsame politische Sache unserer Partei verstehe, möchte ich mit diesem Schritt auch jede nur denkbare Beeinträchtigung der politischen Arbeit der CSU vermeiden helfen..." (Wiesheu)

Wiesheu und Strauß

Ein Mann, der solche Freunde hat:

"Strauß nickte stumm, schüttelte Wiesheu die Hand. Marianne Strauß hat Otto Wiesheu inzwischen mehrmals Mut zugesprochen: 'Wir halten weiter zu ihm.'"

Wo hat der Mann die Freunde sitzen!

"Daß Franz Josef Strauß seinem verdienten Mitarbeiter in schwerer Stunde Trost zuspricht, daran kann niemand Anstoß nehmen. Wohl aber ist die eilfertige öffentliche Verbreitung dieses Zuspruchs durch den CSU-Pressesprecher skandalös..." (Süddeutsche Zeitung)

Ein Opfer seiner Freunde:

"Daß er Amt und Person einsetzen würde, Wiesheu herauszupauken, kann Franz Josef Strauß damit nicht gemeint haben. Aber genau,so haben es viele aufgefaßt. Glücklich läuft der Fall Wiesheu nicht.." (tz)

Ein Opfer von was für Freunden!

"...ein an das Übermaß streifender Sinn für das, was sich gehört, gibt zu denken... So kommt man auf den Gedanken, die CSU habe sich wiederum ein schönes Podest für eine moralische Rede, eine Position für neuen Koalitionskrach verschafft..." (Frankfurter Allgemeine)

Das Opfer?

"Ein Rentner."

"Unfall stoppt die CSU-Karriere von Wiesheu" (tz)

"Der Generalsekretär gilt als der beste Mann von Strauß. Viele CSU-Veteranen sagen, daß es Wiesheu am besten gelingt, die Politik des Chefs an der Basis zu verkaufen." (Bild)

"Probleme werden sich sehr bald in aller Schärfe stellen, weil die Personaldecke der CSU inzwischen eher dünn ist. Die schweren Jahre der CSU, scheint es, haben gerade erst begonnen." (Süddeutsche Zeitung)

Das sind die vorläufigen Antworten auf die Frage, was ist, wenn ein besoffener Politiker einen Rentner totfährt. Geführt wird die Debatte überhaupt bloß, weil Wiesheu Politiker ist, und weil sich damit zwei hohe demokratische Werte ins Gehege kommen: Verdient der Wiesheu-Verkehrsrowdy seine Strafe wie jeder andere oder verdient der Wiesheu-Politiker einen solchen Karriereknick? Daß er Politiker ist, will ihm keiner der Diskutanten ankreiden. Dann wären gegen die Person Wiesheu Argumente von anderem Kaliber fällig, auch wenn er nicht gerade Rentner überfährt. Was aber jeder anständige Demokrat wissen will, ist, daß sich bei uns auch ein Politiker nichts rausnehmen darf - im Straßenverkehr. Aber nachdem ein Politiker wiederum ein Politiker ist, also schon ein besonderer Mensch, weil er ein besonderes Amt hat, ist es wiederum sehr tragisch, daß er behandelt wird "wie jeder andere". Aber das ist gerade seine Pflicht, sich behandeln zu lassen wie jeder andere - damit sich die anderen behandeln lassen wie jeder andere.

Das meint das Volk auch. Vom Säuferstandpunkt Hildegard Drechsel, 29, Hausfrau:

"Das ist eine Sauerei! Die Politiker setzen bei uns die Promillegrenzen runter. Dann sollen sie sich auch selber daran halten."

Vom Sleuerzahler-der-sich-Vorbilder-zahlen-will-Standpunkt Dr. med. Kurt Weidner:

"Vorbilder sind also nicht gefragt. Vorsicht Herr Dr. Strauß! Das Ansehen der Demokratie beim Wähler und Steuerzahler ist nicht unbegrenzt."

Man braucht sich also um die Karriere der Wiesheus letztlich doch keine Sorgen zu machen.