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Dieser Artikel ist in der MSZ 11-1983 erschienen.

Systematik

Mittelamerika
EIN 'SOZIALES PROBLEM'

Darin scheinen sich alle Manager und Begutachter des mittelamerikanischen Elends einig zu sein: Mittelamerika ist ein Problemfall, ein ganz gewaltiger und brisanter sogar.

Fragt sich nur: Für wen und inwiefern?

Da reisen führende Politiker aus den Führungsländern der Weltwirtschaft, von Willy Brandt und den besorgten Anführem der "Sozialistischen Internationalen" bis hin zu Henry Kissinger, von US-Präsident Reagan zum Vorsitzenden einer Extra-Kommission zum Thema eingesetzt, nach Mittelamerika und kommen mit der überraschenden Erkenntnis zurück: Schlecht geht es dort den Leuten. Die Sorge schließt sich an: Wie lange mag das noch gutgehen? In selbstkritischen Rückblicken werden Versäumnisse gebeichtet. Und der Schluß heißt: Mehr kümmem will man sich um die Region.

Wenn im Ostblock irgendetwas nicht klappt - in einem Leipziger Kaufhaus fehlen Druckknöpfe, in Moskau sind die Bananen teuer und schrumpelig, Autos haben jahrelange Lieferfristen -, dann ist die freiheitlich-demokratische Diagnose gleich klar. Das ist nie und nimmer eine Panne im System, das System selbst ist schuld, die Planwirtschaft ist eine einzige riesige Panne.

Wenn in der westlichen Hemisphäre, in die die USA niemanden hineinregieren lassen, das Verhungern an der Tagesordnung ist, dann trifft das westliche System nie eine Schuld. Beweist es denn nicht an den New Yorker Hochhäusern und der bundesdeutschen Autoproduktion zur Genüge seine "Leistungsfähigkeit"? Wenn ganze Erdteile verelenden, die der Westen unter seiner Kontrolle hat, dann - so lautet der absurde Schluß - wird das eigentlich segensreiche freiheitliche System nicht genügend angewendet; oder es paßt nicht zu den exotischen Verhältnissen; oder es sind gar die Natur, Ackerboden und Kinderreichtum, die seine wohltuenden Wirkungen behindern. Irgendwelche Gesichtspunkte lassen sich noch immer finden, unter denen das massenhafte Elend unter westlicher Obhut nur eines "beweist ": Das freiheitliche Wirtschaftssystem funktioniert dort nicht richtig.

Dabei liegt das haargenaue Gegenteil eigentlich offen zutage. Der Weltmarkt funktioniert so perfekt, daß er noch dem letzten Bauern in Mittelamerika einen für ihn ruinösen Preisvergleich mit industriell erzeugter Ware aufzwingt. Die Gesetze der Grundrente gelten so unbeschränkt, daß die Landpächter dort aus jeder Ernte noch ärmer hervorgehen, als sie vorher schon waren. Der Kredit "arbeitet" so wirksam, daß noch der äußersten Armut ein in Geld bemessener, als Zins eingeheimster Überfluß abgewonnen wird. Von Nicht-Funktionieren keine Spur - im Gegenteil. So sehr ist alles, was sich in diesen verarmten Ländern wirtschaftlich tut, das Produkt des marktwirtschaftlichen Systems, so zuverlässig und wie von selbst stellen sich die verheerenden Resultate des Preis- und Kreditsystems dort ein, daß die Sachwalter dieses Systems sich vor diese Ergebnisse wie vor lauter Naturereignisse ganz unschuldig hinstellen und aller Welt treuherzig versichern können: Das haben wir nicht gewollt - also sind wir auch nicht daran schuld. So bombensicher sorgen die "marktwirtschaftlichen Mechanismen" für die Realität des Elends, daß Bankiers und Wirtschaftspolitiker sich aufspielen können als die leider ohnmächtigen, verhinderten Idealisten einer besseren Welt. Die Werke ihres Systems geben sie als Problem aus, unter dem sie selbst am meisten leiden und seufzen.

Zu solchen unverschämten Verklärungen ihrer "Weltwirtschaftsordnung" sehen westliche Politiker sich durch den Alltag des Elends allerdings nicht gedrängt. Der normale Hunger reicht allenfalls für die Caritas und für ausgewählte Festtage hin, um ihn zum "Problem" auszurufen. Zu einem politisch ernstzunehmenden Problem, dessen ein Kissinger sich annimmt, wird das Elend überhaupt nur, wenn um des Überlebens willen ein Aufstand gegen die örtlichen "Vorposten" des marktwirtschaftlichen Systems organisiert wird wie in EI Salvador - oder sogar die Regierungsmacht in die falschen Hände gerät - wie in Nicaragua. Dann hat jeder schon längst gewußt, was für ein dringliches und "explosives" "soziales Problem" Hunger und Not sind.

Damit ist allerdings auch schon alles darüber entschieden, inwiefern das Elend als Problem gewürdigt wird und welche "Lösungen" es erfährt. Das wahre Problem heißt "Kommunismusgefahr"; und die liegt überall dort vor - nach der maßgeblichen Problem-"Definition" -, wo Leute mit Gewalt ihr Überleben zu retten versuchen. Und dementsprechend fällt die angemessene "Antwort" des marktwirtschaftlichen Systems aus. Sie besteht in der gewaltsamen Klarstellung, daß so erst recht nicht zu überleben ist.

In diesem Sinne werden in El Salvador Vernichtungsfeldzüge gegen die Partisanen organisiert, wirkliche und mögliche Sympathisanten gleich miterledigt; alles unter sachkundiger Anleitung amerikanischer Experten. In Nicaragua wird dieselbe "Überzeugungsarbeit" von Überfallkommandos und Sabotagetrupps in CIA-Diensten geleistet. Das Land in offener Feldschlacht für die Freiheit zurückzuerobern, steht den USA immer noch offen. Durch Kleinkrieg und den Zwang zu kostspieliger Gegenwehr wird einem Volk, dem der verjagte Freund der USA das Hungern beigebracht hat, der imperialistische Lehrsatz eingeprügelt, daß es sich als Feind der Freiheit allemal noch schlechter (über)lebt.

Während CIA-Söldner dieses schmutzige Geschäft erledigen und weil sie es so zuverlässig tun, sondern demokratische Moralapostel die dazugehörigen idealistischen Phrasen ab. Praktisch wird von außen dafür gesorgt, daß es den Nicaraguanern unter ihrer sandinistischen Regierung noch schlechter geht als vorher. Das Ideal dazu heißt: Ohne Sandinisten würde es den Nicaraguanern gleich viel besser gehen.

Tatsächlich garantiert wäre durch eine "sozialliberale" Kreditdiplomatie nur eines - und genau darauf bereiten die CIA-Trupps das Land gerade vor: Die Nicaraguaner dürfen dann wieder so hungern - so iwie früher und so wie ihre Nachbarn -, daß es sich für geschäftstüchtige Interessentern lohnt. Dann ist das "soziale Problem Mittelamerika" endlich wieder unter Kontrolle. So daß auch die strategischen Probleme der Region wieder konjunkturgemäß in Angriff genommen werden können.