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Dieser Artikel ist in der MSZ 11-1983 erschienen.

Systematik

Diplomatie im Zeichen der Waffen
GENF - DAS ERGEBNIS IST DA!

Nichts falscher als die westliche Rede vom "Scheitern" der Genfer Verhandlungen. Dieses Resultat, verbunden mit dem Hinweis auf erneut bewiesene sowjetische "Unnachgiebigkeit", ist neben der Stationierung das vom Westen gewünschte Ergebnis.

Verhandlungen, die scheitern, unterscheiden sich von erfolgreichen, aber auch von gar nicht stattfindenden Verhandlungen darin, daß beide Seiten enttäuscht nach Hause gehen; schließlich haben sich ja beide versprochen, miteinander ins Geschäft zu kommen. Die Genfer gescheiterten Verhandlungen sind allerdings anders als gewöhnliche gescheiterte Verhandlungen. Zwar haben hier nach der Meinung politischer Kommentatoren nicht nur abstrakte Subjekte, wie der Weltfrieden, das politische Klima etc. pp. eine Niederlage erlitten, sondern auch sowohl Moskau wie Washington (der arme Reagan muß mit dieser Hypothek sogar in den Wahlkampf), aber westliche Politiker selbst kommentieren das Geschehen eher mit Zufriedenheit und Zuversicht. Und zwar gleich doppelt: Erstens könne man sich nach den Jahren fruchtlosen Ringens sehr viel von den "kommenden entscheidenden Wochen" erwarten. Und zweitens soll nach erfolgtem Scheitern der Verhandlungen das Verhandeln feste weitergehen - was denn sonst?

Verhandlungen um ein fertiges Ergebnis

Zunächst ist an eine geflissentlich übersehene Trivialität zu erinnern. Daß die Verhandlungen jetzt scheitern, liegt nicht daran, daß die Schwierigkeiten der Einigung in jüngster Zeit gewachsen wären oder sonst ein Russe mit dem Schuh auf den Tisch geklopft hätte. Die Verhandlungen scheitern jetzt, weil dieser Termin dafür bestimmt wurde, bevor noch überhaupt das Verhandeln anging. In dem berühmten NATO-Doppelbeschluß wurde schließlich nicht festgelegt, daß nach dem Scheitern der Verhandlungen Pershings und Cruise Missiles aufgestellt würden, sondern umgekehrt, daß in dem Zeitraum, der zur Vorbereitung ihrer Aufstellung noch benötigt wurde - 1979 gab es diese Raketen noch gar nicht! -, auch Verhandlungen laufen sollten. Die Genfer Verhandlungen sind von Anfang an der Terminplanung für die NATO-Aufrüstung untergeordnet gewesen und zwar keineswegs aus dem verhandlungstaktischen Gesichtspunkt heraus, den sich stetig vermehrenden SS 20 doch irgendwann einmal etwas Härteres als "Raketen aus Papier" entgegensetzen zu müssen.

Denn die neuen NATO-Mittelstreckenwaffen sind nicht als ein "Gegengewicht" zur russischen "Vorrüstung" konzipiert, sondern stellen eine ganz selbständige und außerhalb dieses Kontexts begründete Reform der westlichen Rüstung dar. Die Bundesregierung begründet die Unzulänglichkeit der britischen und französischen Raketen wie folgt:

"Entscheidend ist aber, daß sie im Unterschied zu den in Europa stationierten amerikanischen Raketen kein Bindeglied zu den interkontinental-strategischen Raketen der Vereinigten Staaten darstellen, auf deren Schutz unsere Sicherheit letztlich beruht. Die britischen und französischen Systeme dienen diesen Staaten als ultima ratio zur Wahrung ihrer nationalen Unabhängigkeit und territorialen Existenz; von einer Aggression gegen Europa insgesamt können sie nicht abschrecken." (Bericht zum Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle etc., Juli 83)

Sie bemißt also den Bedarf an neuen Raketen nicht an irgendwelchen russischen Eurowaffen, sondern orientiert sich ganz im Gegenteil an den jenseits des Atlantiks stationierten allerdicksten Kalibern. Das gesuchte "Bindeglied", die Abschreckung von "Europa insgesamt", besteht darin, diesen Teil des NATO-Territoriums zu einer Bastion des Atomkriegs auszubauen, die in ihrer Funktion mit den USA vergleichbar ist. Die NATO verschafft sich mit der verkleinerten Zweitausgabe ihres "strategischen Potentials" eine -zusätzliche Option für den Krieg bis zur letzten Eskalationsstufe. Die Auseinandersetzung an der europäischen Front soll einen entscheidenden Beitrag zur Klärung des vom Westen angesagten Weltgegensatzes leisten, Darunter tun es die europäischen Frontstaaten - an ihrer Spitze die BRD - nicht mehr.

Als diese für absolut notwendig erachtete Vervollständigung der NATO-Rüstung sind die Pershings und Cruise Missiles nie Verhandlungsmasse gewesen, die in ein Geschäft mit der Sowjetunion eingehen und gegen deren Gerät aufgerechnet werden sollten:

"Die NATO braucht eine beträchtliche Anrahl dieser 562 Abschußvorrichtungen (oder ein Äquiualent zu ihnen), egal, ob die Sowjetunion die SS 20 reduziert oder nicht." (NATO-Stratege C.S. Gray)

Mit der Verwendung dieser Raketen für Genf ist also eher die Anfrage an die Russen gerichtet worden, was ihnen denn wohl zu diesem westlichen Aufrüstungsschritt einfällt. Dem Westen liegt nämlich einiges an der Erkundung der sowjetischen Antwort auf seine Kriegsdrohung. Er weiß sehr genau, daß sein "Nachrüstungs"beschluß für die andere Seite die ernste Frage aufwirft, ob sie sich diese Bedrohung gefallen lassen will oder nicht. Alle Auseinandersetzung um ein "eurostrategisches Gleichgewicht"' war nie etwas anderes, als der diplomatische Schein für den westlichen Anspruch, frei in der strategischen Planung des Sieges fortfahren zu können. Solange nämlich die Russen nicht auf ihr berühmtes "Njet!" zu den Verhandlungen verfallen, nimmt sich die NATO diese Freiheit ausgiebig heraus.

Das westliche Ringen um die "Gleichheit" der Eurowaffen bestand eben nur darin, den "Vorrüstungsvorwurf" bitter ernst zu nehmen und die SS 20 für überhaupt ganz unvergleichlich zu befinden. Jedes Angebot der Sowjetunion, ihre Mittelstreckenwaffen an den schon längst um ihr Territorium herumstationierten westlichen Potentialen zu bemessen, wurde mit dem Argument zurückgewiesen, "kein Angebot" zu sein. Ob englische, französische oder U-Boot-gestützte Raketen oder frontnahe US-Bomber, stets wurde der russischen Seite vorgehalten, "künstlich" einen neuen Gegenstand aufs Tapet zu bringen und die Verhandlungen "komplizieren" und "torpedieren" zu wollen. "Schritte in die richtige Richtung", aber niemals ausreichende, gab es ebenfalls, nämlich soweit von einer Zurücknahme der SS 20 die Rede war. Verhandlungsthema waren in Genf nur die SS 20, der einzige ins Auge gefaßte Kompromiß war ihre Verschrottung. Die eigentliche Verhandlungsmasse war also die militärische Selbstbehauptung der SU. Das westliche Verhandlungsziel war also kein Kompromiß, sondern der Beginn der Kapitulation der Sowjetunion: der Verzicht auf ihre militärische Option gegen das an ihrer Westgrenze konzentrierte "taktische" konventionelle und nukleare NATO-Potential, das Europa ganz vorn bei Moskau zu verteidigen fähig ist.

"Rüstungskontrollverhandlungen" sind das keine mehr. Da vergleichen nämlich nicht erklärte Feinde ihre Kriegsmittel, um ihre Rüstung künftig besser planen zu können. Hier benutzt nicht länger die NATO das Sicherheitsinteresse der Sowjetunion, um Vorteile zu erpressen. Die Verhandlung besteht in der Nichtanerkennung des sowjetischen Sicherheitsinteresses, festgemacht an einem seiner wichtigsten Kriegsmittel. So wenig die NATO ihre eigene eurostrategische Aufrüstung von russischen Aktivitäten ahhängig macht - sie wäre allenfalls im unrealistischen Fall einer friedlichen Kapitulation der SU, der Null-Lösung, verzichtbar -,so sehr ist es ihr umgekehrt gelungen, die Pershings und Cruise Missiles zu einem Mittel politischen Drucks gegen die Sowjets zu machen, bevor diese Geschosse überhaupt existierten. Die neuen Raketen über "gescheiterte Waldspaziergänge" einführen und stationieren zu können, ist der Erfolg der Verhandlungen für den Westen, weshalb jetzt dort niemand traurig ist. Erstens waren alle Verhandlungsbemühungen der Sowjetunion ein einziger Beweis dafür, wie sehr sie die laufenden Kriegsvorbereitungen des Westens fürchtet. Und zweitens konnte dieser Beweis inszeniert werden als schlagendes Beispiel für die Unnachgiebigkeit der Sowjetunion, die auf ihrer "Überrüstung" besteht und damit die westliche Aufrüstung schon allein dafür notwendig macht, daß überhaupt Abrüstungsgespräche stattfinden können. Der Höhepunkt der Inszenierung findet in der Endphase statt: Während der Westen seine Verhandlungsbereitschaft beweist, indem er die kühnsten Hoffnungen hinsichtlich eines Ergebnisses (welches wohl!) heuchelt, soll der Osten sich als verhandlungsunwürdig blamieren, weil er angesichts der beginnenden Stationierung die Gespräche als überflüssig abbrechen will.

Nichts für ungut

Wei der Westen mit seinen Abrüstungsbemühungen den Krieg auf die Tagesordnung setzt, wenn auch nicht gleich anfängt, leistet er sich auch Beschwichtigungsbemühungen. Dieselben Politiker, die den Kommunisten Verständnis nur für die "Sprache der Gewalt" nachsagen, bestehen endgültig darauf, daß ihre Gewalt wirklich nur ein Kommunikationsmittel sei.

Das betrifft einerseits die eigene Mannschaft daheim. Die Raketenaufstellung wird heruntergespielt zur überfälligen Aufgabe der eigenen Zurückhaltung, gewissermaßen zur Überwindung einer Ausnahmesituation - das "Moratorium läuft aus", die "Raketenpause" ist zu Ende. Und von den Russen will man wissen, daß denen sowas auch (fast) nichts ausmacht - von Gromyko selber und aus allen Abzugskanälen der Ostblockgerüchteküche sei das Signal gekommen, daß die Sowjetunion "die politische Tür nicht zuschlagen will". Die Schlaumeier im "Spiegel" rechnen sich sogar aus, daß dies auch wohl so sein müsse; denn die einzige Alternative zum Dialog der Großmächte wäre der Krieg - und der kann bekanntlich nicht wahr sein: "Die UdSSR kann kaum in Genf weiterverhandeln, als ob nichts geschehen wäre, noch aber neue Verhandlungen für alle Zukunft verweigern. Das Ergebnis dürfte eine Pause sein."

Mögliche Reaktionen der Sowjetunion werden jetzt schon unter dem Titel "Zwischeneiszeit" gehandelt - eine Vorstellung, für die die Vergänglichkeit russischen Unmuts ebenso felsenfest feststeht, wie, daß allenfalls der bekannte kalte, aber nicht der heiße Krieg zu erwarten ist.

Fürsorge wird andererseits auch den Russen zuteil. Damit sie nämlich ihre eigene Zwischeneiszeit richtig verstehen und sich, "frustriert" wie sie sind, in der "kritischen Phase nach der Stationierung" nicht zu Handlungen hinreißen lassen, die vom Westen (noch) nicht vorgesehen sind. Auch ihnen wird also gesagt, daß die Sache mit den Raketen nicht so schlimm sei. Denn erstens könne man über die Nichtstationierung genauso gut verhandeln, wenn die Dinger schon stehen, und zweitens sind sie ja nur ein klitzekleiner Ausschnitt aus der großen bunten Welt der Ost-West-Beziehungen: "Genscher betonte nach seiner Rückkehr noch einmal, der Westen wolle auch nach der Stationierung neuer amerikanischer Raketen weiter verhandeln. Zu solchen Verhandlungen gehöre es, daß man sich in anderen Bereichen um ein gutes Verhältnis bemühe..."

Das Angebot, das dem Osten gemacht wird, heißt 'Dialog pur und trotz allem'. Der in Genf noch gewahrte Schein, über einen bestimmten und beide Seiten interessierenden Gegenstand ins Geschäft kommen zu wollen, wird hier explizit abgelöst durch die Perspektive, über alles und jedes miteinander im Gespräch zu bleiben - aber ohne daß es auf den Inhalt ankäme. Bei solcher Gleichgültigkeit geht es nicht um die Interessen des Ostens - diese sind damit prinzipiell abgewiesen, wie in der Raketenfrage vorexerziert - noch um die Interessen des Westens - für deren Realisierung ist hinfort und ebenso prinzipiell nicht mehr der Verhandlungsweg vorgesehen.

Die umfassende Gesprächsbereitschaft des Westens bedeutet also den Abbruch der Beziehungen - dies aber als Inhalt von weiterlaufenden Beziehungen. Es nützt der Sowjetunion nichts, wenn sie jetzt einen Nach-Nachrüstungsbeschluß mit den Staaten des Warschauer Pakts verkündet. Dahinter steht die Absicht, sich für die europäische Front, die ihr der Westen neu aufmacht, durch moderne und neue Gefechtsfeldwaffen mit Kernsprengköpfen fit zu machen. Dies als Reaktion auf die NATO-Aufrüstung ins Spiel zu bringen und damit politischen Druck zu machen, beeindruckt die Gegenseite wenig.

ist es dem Westen klar, daß es sich hier um keine Raketen handelt, sondern um eine "längst geplante und vorab beschlossene Maßnahme".

kann deshalb dieser Beschluß nicht den Bonus einer Reaktion auf die NATO-Aufrüstung beanspruchen. Und

legt die SU damit einen weiteren "Beweis" vor, wie richtig die Härte der USA bei den Genfer Verhandlungen gewesen ist, wenn sie jetzt schon, mitten in der Schlußphase der Verhandlungen, bereits wieder "vorrüstet".