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Dieser Artikel ist in der MSZ 11-1983 erschienen.

Martin Luthers "Die Bibel"
GEFÄHRLICHE ERBSCHAFTEN

Martin Luthers 500. Geburtstag in diesem Jahr wird nicht zuletzt deswegen gefeiert, weil er ein Buch ins Deutsche übersetzt hat: die Bibel.

Dabei geht es weniger um die Qualität seiner Übersetzung, die ohnehin nur der Fachmann beurteilen kann. Vielmehr wird die überragende Glaubwürdigkeit hervorgehoben, die dem oder den Verfassern des Werks bis heute eine ungebrochene Popularität beschert haben soll. Und in der Tat: Wie in früheren Jahrhunderten Philosophen oder sonst führende Köpfe zur Berufungsinstanz für Streitigkeiten dienten, so wurde erst unlängst eine ganze Raketendebatte unter wechselseitiger Anführung einander entgegengesetzter Belegstellen aus der "Schrift" abgewickelt. Was ist es also, das diesen (der Überlieferung gemäß immerhin schon über 2.000 Jahre alten) Text so einzigartig macht? Aufklärung kann nur die unvoreingenommene Betrachtung des Werks selbst bieten.

1. Das Alte Testament

Der Gegenstund, wie er aus den Überschriften der großen Hauptabschnitte des Buchs hervorgeht, ist die Geschichte zweier Hinterlassenschaften, eines "alten" und eines "neuen Testaments". Von den näheren Lebensumständen dessen, der hier seine Angelegenheten in Ordnung bringt, erfahren wir zunächst nichts. Selbst seinen Namen umgibt eine Aura des Unbestimmten: Gott. Dieser Gott, da offenbar ohne eigene Nachkommen, regelt seinen Nachlaß in der gutmütigen Art des Alters; einen wunderschönen Garten mit reichhaltigem Pflanzen- und Tierbestand vermacht er einem jungen, noch unerfahrenen Paar nur deswegen, weil die beiden ihm ähnlich sehen. (Die etwas übertreibende Metaphorik des Erzählers - weil die Erben durch ihre großzügige materielle Versorgung sozusagen "Geschöpfe" ihres Gönners sind, wird gleich die ganz Welt mitsamt dem bedachten Paar als wirkliche "Schöpfung" des Erblassers dargestellt - läßt vermuten, daß die entsprechenden Kapitel nicht von dem auf dem Titelblatt genannten Moses, sondern von dem Gott selbst verfaßt worden sind, der seine Schenkung als besonders wertvoll charakterisieren wollte.) Der Eindruck der Vertrauensseligkeit täuscht jedoch. Obwohl Gott seinen "Ebenbildern" Adam und Eva nie persönlich gegenübertritt, auf ihre Dankbarkeit also keinen besonderen Wert legt, möchte er trotzdem von ihnen nicht vergessen werden. Er verbietet ihnen deshalb, von einem gewissen Baum zu essen, läßt sie allerdings - während er sie gespannt beobachtet - über die möglichen Folgen im Unklaren. Als die beiden die Klausel verletzen, reagiert Gott mit wiederum alterstypischem Starrsinn, enterbt sie und läßt sie aus seinem Besitztum werfen; dort, in der unwirtlichen Wüstenei, geht ihnen außer ihrer völligen Mittellosigkeit auch noch auf, daß sie nackt sind, ein vorher nur mäßig interessierendes Problem. Die weitere Handlung gibt dann, zuweilen selbst in geraffter Form (Geschlechtsregister), durch mehrere Generationen hinweg den gewöhnlichen Alltag von Einödbauern wieder: das Zeugen von Kindern, die harte Arbeit, Streit zwischen Geschwistem, Inzucht, usw. Auch an Naturkatastrophen, Wanderbewegungen und ähnlichem mangelt es nicht. Wenn hier noch eins erwähnenswert scheint, so ist es die immer stärkere Hervorkehrung ein es formellen Rechtsstandpunkts bei Gott: Aus ursprünglich kaum 10 Geboten wird bis zum 5. Buch Mose eine wahre Gesetzesflut, die selbst noch die Verrichtung einer Notdurft in der Wüste kodifiziert und unter die Strafdrohung des Waschzwangs stellt. Vielleicht als Folge seiner erstaunlichen Langlebigkeit, verfolgt er jene ursprüngliche Mißachtung des ersten Erbschaftsvertrags noch an den Kindeskindern: Statt sich würdigere Erben zu suchen, schließt er mit dem immer wieder enttäuschenden Geschlecht einen "Bund" nach dem andern, verkompliziert dabei ganz unnötig ständig die Bedingungen und bleibt letzten Endes ewig unzufrieden, statt sich den Lebensabend so bequem wie möglich zu machen.

2. Das Neue Testament

Im zweiten Hauptabschnitt des Werks deutet sich nun die überraschende Auflösung jener Halsstarrigkeit Gottes an. Was vorher im Alter des Helden seine nur teilweise Erklärung durch plane psychologische Motive fand: das Versteckspiel bei gleichzeitigem Beharren auf Anerkennung, erfährt eine menschlich einleuchtende Begründung. Es ist die Verzweiflung eines gutsituierten alten Mannes, der für seine Reichtümer einen natürlichen Erben lieber sähe als im Grunde doch wesensfremde Adoptivfamilien. Als es ihm endlich gelingt, einer Jungfrau ihre Empfängnis zu "verkündigen" (auch in diesem verständlichen Euphemismus sehen wir eine Mitautorenschaft des Helden, der dem im übrigen verantwortlichen Autorenkollektiv bekannt gewesen sein muß), teilt er bei jeder Gelegenheit mit: "Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe!" Er verhehlt auch nicht, dieses freudige Ereignis bereits in der Vergangenheit des öfteren natürlich nur dunkel - an gedeutet und vorausgesagt zu haben. Kurz, Gott ist in der Tat vergnügt und sieht mit dem neuen Testament, worin er sein "Reich" selbstverständlich seinem "eingeborenen (!) Sohn" vermacht, sein Lebenswerk vollendet. Da überstürzt sich das Geschehen! Auf der einen Seite stellt sich heraus, daß der Sohn trotz seiner Jugend wahrlich ganz der Vater ist. Eine Neigung zu Mystifikationen, mit denen das Volk beeindruckt werden soll, ist ebenso unverkennbar wie die zur Schulmeisterei und an irgendwelche Bedingungen geknüpften Versprechen zu künftiger Beteiligung an der Erbschaft. Auf der anderen Seite hat der Sohn den Nachteil zu erfahren, daß er sich wegen der Preisgabe durch den alten Herrn nicht so im Hintergrund halten kann wie dieser. Kaum zieht er sich also den Unmut der Leute zu, deren Gutwilligkeit er sich durch das vorläufige Ausbleiben des Erbfalles verscherzt, muß er erkennen, daß sein strenger Vater von solchen neuen Testamentsquerelen alles andere als erbaut ist und von ihm mannhaftes Durchstehen der sich abzeichnenden Unannehmlichkeiten erwartet. Immerhin: Nicht minder starrsinnig als sein Vater Gott weigert er sich, wie gefordert die Verwandtschaft zu diesem abzuleugnen, selbst als dieser seinerseits keinen Schritt zur Entspannung der Lage tut; er schickt sich in Inhaftierung und Verurteilung, wobei er noch dies mit Verheißungen und als einzig "Gott gefälligen" Weg verkündet. Da endlich erweicht das Vaterherz; der Sohn, obgleich der barbarischen Strafjustiz der damaligen Zeiten fast zu lange ausgeliefert, braucht doch nicht zu sterben und wird auf etwas mysteriöse Weise befreit. Nachdem er seine - wie jeder aufgrund der Umstände glauben muß - Auferstehung einigen überzeugten Miterben mitgeteilt und ihnen günstige Vereinbarungen mit dem Vater in Aussicht gestellt hat, verläßt er mit Gott die Szene. Wie das Manuskript abschliessend feststellt, reden diejenigen, denen die geschilderten Begebenheiten die Hoffnung auf mehr geweckt haben, seither in vielen Zungen.

3. Die Offenbarung

Es ist an der Zeit, nun auch die Form der vorstehenden Erzählungen näher zu beleuchten. Dem Autorenkollektiv, von dem schon die Rede war, schwebte die Geschichte von den beiden Testamenten und den Schicksalen ihrer Begünstigten nämlich als etwas Außergewöhnliches vor. Mochte sich der Stoff sowohl als Heldenepos wie als orientalischer Schelmenroman verarbeiten lassen, beides war nicht das Ziel der Verfasser. In echter Begeisterung für den einmal aufgefaßten Gegenstand ihrer Kunst, wie sie sonst eigentlich nur der Moderne eignet, verschrieben sie sich im wörtlichsten Sinne dem "Dienst am Wort". Ob eine Beteiligung des beschriebenen Gott (wie wir für manche Passagen annehmen) hier den Ausschlag gibt, wissen wir nicht. Was sich allein feststellen läßt, ist eine bis dahin nicht - und seither nie wieder - erreichte, unerhörte Durchdringung von fiktionaler und historisch kolportierender Erzählperspektive, die aus der Geschichte Gotts ebenso Objekt wie Subjekt der Erzählung macht. In der Schöpfungsmetaphorik des ersten Teils wird z.B. ganz auf den von Th. Mann ironisch so genannten "allmächtigen Erzähler" verzichtet; das Werk setzt err:itisch ein: "Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde." Da wird von Gott etc. nichts weiter ausgeführt, der Autor schreibt eine Chronik wie von einem Bekannten. Man vergleiche die suggestive Wirkung dieser Erzählweise mit der kindlich-traditionellen: "Es war einmal ein Gott, der..." Auch andere Varianten - Matthäus spricht als Historiker ("Dies ist das Buch von der Geburt Jesu Christi..."), Lukas aus persönlichem Drang ("...daß ichs zu dir, mein guter Theophile, mit Fleiß ordentlich schriebe"), etc. - benutzen das Stilmittel, dem Leser das Erzählte zumindest der Quintessenz nach als bekannt vorauszusetzen, zu einer Steigerung der Glaubhaftigkeit. Es kommt dadurch zu solchen Verunsicherungen wie der, daß oft nicht mehr genau unterschieden werden kann, ob gerade eine Prophezeiung geschildert oder tatsächlich prophezeit wird. Wir nehmen den Aufbau der Handlung hinzu: Durch die Besonderheit des Helden Gott, der sowohl als unsichtbarer Motor wie als Agent des Geschehens selbst auftritt, wird es möglich, daß die Handlung sich auch selbst bestätigt. Die Projektion eines Geschehens in die Zukunft (Warnung, Verheißung) beweist, wo diese Zukunft Gegenwart wird, daß sie tatsächlich eine Konsequenz der Projektion ist (Urteil, Gericht). So verwandelt sich unterderhand eine einfache Geschichte in "die" Geschichte selbst, was wiederum das Bedürfnis nach einer solchen "eigentlichen" Geschichte, einem Hintergrund aller sonstigen, dazu benutzt, das von den Autoren Gebotene für das "Eigentliche" 'zu nehmen. Zuletzt die biblische Sprache: Ihr - von Luther kongenial übertragenes - überirdisches Pathos überzeugt in eben dem Maße vom in ihr vorgetragenen Inhalt, wie der von ihr vorausgesetzte Leser (am einfachsten in der Gestalt der Verfasser selbst) diesen Inhalt schon vorher für irgendwie bedeutsam hält. "Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wer nicht zur Thür hinein gehet in den Schafstall, sondem steiget anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Mörder." (Joh. 10, 1) Der Kunstgriff besteht allerdings darin, daß sich mit den Worten der Bibel die gewöhnliche Bedeutung einer Redensart in die außergewöhnliche Bedeutung einer Offenbarung verwandelt! Mit einem Satz: Dieses Werk hat den Wunschtraum jedes Literaten tatsächlich verwirklicht, nämlich die in Interesse und Glaubwürdigkeit begründete Distanz zwischen Leser und Erzähler tatsächlich überwunden. Weil es einer schon fertigen Botschaft nur angemessene Form gibt, braucht man, um diesem Buch zu glauben, es noch nicht einmal zu kennen!

4. Die christliche Botschaft

hat deshalb mit dem "Buch der Bücher" nur indirekt zu tun. Wer bestätigt haben will, daß alles, was er macht, einer höheren Notwendigkeit folgt - und weiter nichts -, der wird zweifellos auf jeder Seite des Folianten fündig. Für die ohnehin beliebte Manier, sich und andere moralisch zu bespitzeln, stehen mit Gott samt Familie und Nachlaß lauter unbezweifelbare Autoritäten zur Verfügung. Ganz automatisch darf sich, wer etwas tun muß, in seiner Bescheidenheit und Hoffnung durch sein "sündiges Erbe" gerechtfertigt sehen. Und wer gegenüber anderen das Sagen hat, kann seine Erwartungen und Forderungen als "Verantwortung und Zuversicht" rechtfertigen. Insofern ist es wirklich eine blöde Frage, ob die Klassengesellschaft eine Erfindung "Gottes" ist oder umgekehrt: Dazu schweigt sogar die Bibel!