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Dieser Artikel ist in der MSZ 1-1983 erschienen.

Zeitgeschichte
WISSENSCHAFTLICHE VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG

Der 50. Jahrestag der "NS-Machtergreifung" am 30. Januar 1983 wird an zahlreichen Universitäten in der BRD und Westberlin im Lehrplan der Historiker, Politiologen und Soziologen gewürdigt, an manchen Hochschulen ist er auch Anlaß für in der Regel gutbesuchte Ringvorlesungen. Die Botschaft, die anläßlich der runden Jahreszahl verbreitet wird, kommt unter der Überschrift "Die Verfolgung und Ermordung der Weimarer Republik durch Adolf Hitler und seine Nazi-Truppe" daher und enthält als Moral der "jüngsten deutschen Geschichte" eine Feier der Demokratie anhand aller Abteilungen der NS-Herrschaft.

Schon auf den ersten Blick ein eigentümliches Interesse, das sich seinem Gegenstand öffentlich "aus Anlaß" einer runden Jahreszahl widmet - nicht gerade ein Dokument der Überzeugung, man hätte etwas Wichtiges entdeckt und mitzuteilen; eher schon ein Appell an das touristische Vergnügen des begriffslosen Anglotzens, dem die ästhetischen Zufälligkeiten des Dezimalsystems allemal ein Argument ersetzen. Und, vor allem, schon in der Ankündigung die Kundgabe der erzdemokratischen ideologischen Voreingenommenheit, in deren Licht da das Nazi-Reich interessant gefunden werden soll. Denn als

"Machtergreifung"

soll man den Tatbestand zur Kenntnis nehmen, daß Hitler und seine Partei im Januar 1933 die bis dahin demokratisch ausgetragene Konkurrenz um die Herrschaft im deutschen Reich für sich entschieden haben - ein Bild, das ausgerechnet die "ergriffene" Macht als das Sauberste und Unschuldigste von der Welt erscheinen läßt, als unerlaubt und verwerflich dagegen den faschistischen "Zugriff" auf die Macht, so als wäre ausgerechnet in den demokratischen Modalitäten ihrer Inbesitznahme die unanfechtbare Sauberkeit und Unschuld der Macht garantiert. Nicht die souveränen Machtpositionen und schrankenlosen Befugnisse, die die Weimarer Demokratie über ihre Untertanen errichtet hat und die von Hitler und den Seinen zur prt'npten Durchsetzung ihres nationalen Errettungsprogramms genutzt wurden, offenbar also noch dem radikalsten Faschisten die Verwirklichung seiner kühnsten Pläne erlauben, nicht die politische Herrschaft selbst also soll in der Erinnerung an ihre nationalsozialistische Benutzung kritisch in Betracht gezogen werden. Umgekehrt: daß dieses edle Ding sich die Inbesitznahme durch die NSDAP hat gefallen lassen müssen, das soll von vornherein als Missetat gelten - und das mit solcher Selbstverständlichkeit, daß "problembewußte" Historiker anschließend das Problem bekommen, ob Hitlers "Machtergreifung" nicht doch, genau betrachtet, ziemlich legal und demokratisch vonstatten gegangen ist! Die zentrale demokratie-ideologische Botschaft der geplanten Vortragsreihe wird dem erhofften Publikum so schon vorab zugestellt: die Macht m Staate, die eigentlich nur den demokratischen Konkurrenten um sie zusteht - denen aber ganz ohne Frage und Zweifel unbeschränkt! -, ist der erste und eigentliche Leidtragende ihrer "Ergreifung" durch Hitler. Die Auswalzung dieser Botschaft -in den geplanten Vorträgen getrauen wir uns zu prognostizieren - ohne Hoffnung, doch noch angenehm enttäuscht zu werden.

"Das Ende der Demokratie und die NS-Machtergreifung als Revolution":

Tatsächlich haben die Nazis ihre sämtlichen Herrschaftsinstrumente - die institutionalisierte Staatsmacht eben - als Produkt der schönsten Demokratie vorgefunden; nichts von dem, was sie für ihr anspruchsvolles Staatsprogramm an Macht brauchten, mußten sie erst ganz neu schaffen; was ihnen zu Gebote stand, war die zum demokratischen Reich gehörende Souveränität nach innen. Dies zuzugeben, würde aber am Ende doch ein schlechtes Licht auf die demokratischen Institutionen werfen - ein undenkbarer Gedanke! Daß die Nazis den demokratischen Konkurrenzkampf m die Macht außer Kraft gesetzt haben, hat daher als prinzipieller Bruch zu gelten, der die Staatsmacht selbst ganz und gar verwandelt - womöglich sogar "revolutionär"? Wenn's der Lüge vom prinzipiellen Gegensatz zwischen demokratischer (= guter) und NS- (= böser) Staaatsmacht dient: sogar "revolutionär"!

"Personen und Ideologien im Nationalsozialismus":

Tatsächlich haben die Nazis ihr sehr eindeutiges nationales Krisenbewältigungs- und Aufschwungsprogramm sehr rigide von oben nach unten durchgesetzt - ein Traum für einen modernen Demokraten, der von seinen gewählten - Führern nichts dringlicher verlangt als Führungsstärke. Eben deswegen darf er die Verwirklichung dieses Traumes aber auf keinen Fall ausgerechnet den Hitlerschen Antidemokraten attestieren. Ihr letztendliches Scheitern verbürgt, daß der Nationalsozialismus mit dem unklaren Pluralismus seiner Konzepte und dem intriganten Konkurrenzkampf seiner führenden Figuren nicht klargekommen ist: eine unfähige Alternative zu einer fähigen Demokratie!

"Grundzüge der gesellschaftlichen Verfassung des Dritten Reiches":

Tatsächlich sind die Nazis mit der durch die Staatsgewalt der Weimarer Republik geachaffenen Klassengesellschaft und deren Charaktermasken sehr gut klargekommen - so gut, daß sie jeden so geschaffenen "Stand" mit ihrer Gewalt erst recht schützten und in die Pflicht nahmen. Daß sie so durch herrschaftliche Gewalt ihrer (Klassen-)Gesellschaft weiterhin genau die Dienste geleistet und abverlangt haben, die die Demokratie durch herrschaftliche Gewalt eingeführt hat, kann jedoch ein Demokrat nicht zugeben, für den in der Demokratie und nur in ihr Staatsgewalt und Gesellschaft einander zwanglos entsprechen. Nix Demokratie - "also" dauernde Vergewaltigung der Gesellschaft und ihrer natürlichen Arrangements: Dieses falsche "also", die Lebenslüge demokratischer Gesinnung, will "empirisch belegt" sein!

"Partei und Staat im Dritten Reich" "Rechtssystem und NS-Justizpolitik" "Die Wehrmacht im Dritten Reich"

Tatsächlich gab es kein staatliches Machtmittel, das den Nazis, nachdem es ihnen zu Gebote stand, nicht glänzende Dienste für ihr Großmachtprogramm im Innern wie nach außen geleistet hätte. Daß Verwaltung, Recht und Militär, diese schönen demokratischen Errungenschaften, Herrschaftsinstrumente sind, darf für einen demokratischen Faschismusverächter daraus aber nicht folgen. Wenn sie in den Händen der Nazis ihre Qualitäten anders gezeigt haben als unter demokratischer Obrigkeit - und nicht einmal das ist so besonders eindeutig! -, dann hat das als Beweis zu gelten, daß sie "unter" den Nazis ganz andere Qualitäten gezeigt hätten als in einer Demokratie. Und daß unter den Nazis zu allererst sie gelitten hätten: Hitler und die Seinen hätten die Gewalt der Verwaltung, der Gesetze, des Rechts, der Polizei und der guten deutschen Wehrmacht zu deren Schaden mißbraucht!

"Presse und Propaganda im Dritten Reich" "Widerstand und Resistenz im NS-Regime"

Presse und Untertanen pflegen Kommentare zum Weltgeschehen nicht nach ihrer Stichhaltigkeit zu beurteilen, sondern nach der Wichtigkeit dessen, der sie abgibt; und im Unterschied zu den so angeeigneten Sprachweisheiten richten normale Bürger sich nicht als Fanatiker, sondern als Opportunisten der Macht in ihrer Untertängkeit ein. Das ist im Faschismus nicht anders als unter demokratischen Verhältnissen - für einen Verehrer der Demokratie aber wohl. Der mag sich keinen größeren Unterschied denken als den zwischen dem trostlosen einförmigen Pluralismus eines demokratischen Öffentlichkeitswesens und dessen "Gleichschaltung"; und derselbe Opportunismus der Untertänigkeit erscheint ihm in der Demokratie als Einverständnis, im Faschismus als passive Unbotmäßigkeit. So macht man aus einem Volk von Bürgern, die unter Hitler auch und allenfalls: erst recht! - brave Bürger bleiben, eine Heerschar heimlicher Widerständler, unter denen das bessere, demokratische deutsche Gewissen irgenwie doch ungebrochen überlebt hätte.

"Emigration nach 1933" "Juden unter der NS-Herrschaft"

Jeder Klassenstaat sortiert praktisch sehr genau und unerbittlich zwischen nützlicher "Elite" und unbrauchbaren "Elementen", kennt gute Untertanen und Staatsfeinde, interpretiert beide Unterscheidungen nationalistisch am Unterschied zwischen eigenem und fremdem Volk entlang, macht so seine Übergänge in den Rassismus. Die Brutalität, mit der die Nazis die Sortierung praktiziert haben, und die "Irrationalität", daß sie dabei massenhaft Leute getroffen haben, die ein Demokrat für die falschen Opfer hält, animiert den demokratisch voreingenommenen Sachverstand zur wohlwollendsten überhaupt denkbaren "Kritik": Seiner Kultur hätte der faschistisch beherrschte Staat so geschadet; sowie zu einem höchst eigenartigen Interesse: wie, genau und im einzelnen, ist es den Opfern denn eigentlich damals gegangen - m Unterschied dazu, wie der staatsbürgerliche Rassismus heute abgewickelt zu werden pflegt -? Da gibt's was zu forschen!

"Nationalsorialistische Außenpolitik"

Sobald eine Regierung in der Welt des Imperialismus nach außen hin aktiv wird und dafür ihr eigenes Volk mit den Waffen der Konkurrenz oder zur Konkurrenz der Waffen antreten läßt, hat sie ganz praktisch jeden Unterschied zwischen Parteipolitik und nationalem "Schicksal" aus der Welt geschafft. Souveränität nach außen hat gerade , den Inhalt, daß da eine Obrigkeit mit der einheitlichen Wucht ihrer gesamten Nation operiert - im Innern ist dann ja auch ein jeder allein auf Grund seiner Nationalität entsprechend betroffen. Daß die Großmachts- und Kriegspolitik - noch dazu die erfolglose! - der Nazis in diesen Sinne die Aktion der deutschen Nation gewesen sein soll, ist für einen guten, anständig demokratisierten Deutsch-Nationalisten ein nicht hinnehmbarer Gedanke. Sogar, ja sogar erst recht hier wollen "Brüche" und Konflikte zwischen parteilicher "Machtpolitik" und eigentlicher nationaler Staatsräson ausfindig gemacht sein!

Das, wozu und wodurch Deutschland vor 50 Jahren, zum Schaden der Nation und ihres wahren Wesens, Hitler hat groß werden lassen, dasselbe geht heute, per

Demokratie,

ganz zwanglos und unvergleichlich besser über die Bühne: In dieser Weisheit wird sich die Botschaft der projektierten Vortragsreihe des "Instituts für Zeitgeschichte" "aus Anlaß des 50. Jahrestags der NS-Machtergreifung" zusammenfassen; und das nicht zum Zwecke und im Sinne einer Entlarvung des bundesdemokratischen Imperialismus von heute, sondern als "Argument" zu seiner Wertschätzung. Dabei hat das veranstaltende Institut für sein Vorhaben diese Botschaft gerade jetzt in die akademische Welt zu setzen, weit gewichtigere - nun, nicht gerade Argumente, wohl aber Anknüpfungspunkte auf seiner Seite als die alberne Jubiläumsziffer "50 Jahre". Schließlich wird schon seit einiger Zeit offiziell von oben her die - "unten" nie ausgestorbene - Unterwerfungsideologie schlechthin machtvoll wiederbelebt: die Idiotie einer nationalen Schicksalsgemeinschaft, zu der jedes individuelle Stück Menschenmaterial bedingungslos zu halten und beizutragen hat. Daß es um "Heimat", "Volk" und "Vaterland" geht: das steht fest, seit die bundesdeutsche Republik zusammen mit ihrer NATO-"Familie" für den Rest der Welt wieder einmal Schicksal spielen will und ihre Leute auf die dafür nötigen Lasten einschwört; und bei den um Deutschlands Flora besorgten Grünen wie bei den zur "Krisenbewältigung" entschlossenen Gewerkschaften, bei den schwarzen wie bei den intellektuellen Sinnhubern vaterländischer Inpflichtnahme, ist diese imperialistische Botschaft nach innen wohl angekommen. Ihr beim gelehrten Sachverstand wie beim breiten Fernsehpublikum offenbar beliebtestes Betätigungsfeld findet diese neue nationale Selbstgerechtigkeit aller guten neutschen nicht zufällig im Bereich dessen, was früher einmal "Vergangenheitsbewältigung" hieß. nenn nirgends läßt sich besser beweisen, daß ein Deutscher sich seines Deutschtums nicht (mehr) zu schämen braucht, bloß weil neulich im Namen dieser edlen Eigenschaft einige 'zig Millionen Menschen in ein umfängliches Schlachtfeld geschickt worden bzw. ihm zum Opfer gefallen sind. Ein einwandfrei "gutes Gefüll" in dieser Angelegenheit gehört, scheint's, einfach dazu, wenn demnächst ähnlich gelagerte Aufträge der deutschen Staatsgewalt an ihr Volk ergehen.