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Dieser Artikel ist in der MSZ 1-1983 erschienen.

Realer Sozialismus und Nationalismus:
UNTERDRÜCKTE ODER WAHRE, MISSBRAUCHTE ODER EDELSTE VATERLANDSLIEBE

Die Thematisierung von Nationalismus im Ostblock dient grundsätzlich - egal in welcher ideologischen Variante - zur Entlarvung der sozialistischen Staaten. Allerdings nicht deshalb, weil zwischen Marxismus und Nationalismus, zwischen der Politik der Volksdemokratien und dieser Art Staatsverehrung Gegensätze bestünden, schließlich haben ja sowohl die offizielle Staatsdoktrin wie die Praxis der kommunistischen Parteien längst ihren Frieden mit der Liebe zum Vaterland geschlossen. Das Ungehörige in diesem Verbältnis entdeckt der westliche Spürsinn wie immer am Maßstab seines Interesses.

Allerdings wird nicht einfach die Tatsache kritisiert, daß der Sozialismus als eine andersartige Herrschaft einen Teil des Globus okkupiert, oder das Interesse dieser Staaten angegriffen. Vielmehr legen westliche Kritiker die Idealisierung ihrer Herrschaftsform als Kriterium an den realen Sozialismus an: Während in der Demokratie Einigkeit im Verhältnis von Staat und Volk bestehen soll, handelt es sich im Ostblock um lauter unterdrückte Völker und Nationalismus kann im realen Sozialismus unmöglich als Form des Einverständnisses von Volk und Staatsgewalt vorhanden sein. Wer aber daran glauben will, daß eine für unrechtmäßig erklärte Herrschaft unmöglich Zustimmung von seiten ihres Volkes erhalten kann, muß sich angesichts des im Osten sehr realen Nationalismus eigene Konstruktionen zurechtlegen: Entweder wird er von oben "unterdrückt", und der von unten ist ein einziges Aufbegehren, oder er wird von oben "mißhraucht" und unglaubwürdig, weil künstlich in die Welt gesetzt. Begreiflich, daß der Ostblock von westlicher Seite weder die Komplimente zu hören bekommt, die ihm Liebhaber eines gepflegten Nationalbewußtseins eigentlich schuldig wären, noch die Kritik daran, daß ausgerechnet kommunistische Staaten partout auch noch Vaterländer sein wollen.

Für den angestrebten Beweis taugt das alltäglich praktizierte Einverständnis der sozialistischen Staatsbürger selbstverständlich nicht. Daß ein Sowjetbürger einen Paß, eine Erziehung und eine Schulbildung bekommt, zur Arbeit geht und sich eine Familie zulegt, sich mit Kino, Fernsehen und Fußball unterhält, die Feiertage feiertäglich genießt und sich schließlich mit seiner Rente zur Ruhe setzt - daran läßt sich schließlich kaum Verwerfliches entdecken. Um am Innenverhältnis von Staat und Bürgern die vorab feststehende Unmöglichkeit eines anständigen Nationalismus auszumachen, kommt immer nur die Sphäre in Betracht, in der Staat und Volk das Selbstbewußtsein der Zusammengehörigkeit vortragen, das Einverständnis, wie es sich in Form von Ideologien oder in Gestalt der Pflege nationaler Traditionen, des Volkstums etc. äußert. (Als'ob dergleichen nicht überhaupt erst auf Grundlage des im normalen Leben praktizierten Zusammenspiels von Staat und Bürgern zustandekäme.) Der Kult nationaler Traditionen, die Feier der eigenen Vergangenheit, Kulturleistungen und politischen Großtaten, das alles soll im Ostblock grundsätzlich nichts taugen.

"Kein echter, sondern ein künstlicher und alberner Nationalismus"

"Die Kommunisten usurpieren nationale Traditionen..."

"Das lächerliche Bemühen der DDR, ihren Besitzanspruch auf Goethe zu untermauern..." (passim)

Warum sollen eigentlich Marx, Engels, Kyrill und Method in einer bulgarischen Demonstration unvereinbarer sein als das Tell-Zeichen und die schweizerische Kloschüssel, auf der es angebracht ist, oder als Helmut Schmidt mit Kant und dem Kategorischen Imperativ? Schließlich gefällt sich jede Herrschaft darin, Geschichte, Kultur und Tradition ihrer Nation so zurechtzurücken, daß ihr immerzu recht gegeben wird. Und die Konstruktionen, daß die Mayflower-Besatzung ihren Nachkommen den verbindlichen Auftrag erteilt hätte, Unfreiheit jeder Art und ganz besonders die Sowjetunion im 20. Jahrhundert zu bekämpfen, oder daß das Auftreten Karl Martells gegen die Türkengefahr genauso wie Balzac und Flaubert von jedem französischen Politiker die Verteidigung der Zivilisation gegen die Barbarei verlangen würden, sind doch nicht weniger verrückt, als die historische Einordnung der Schlacht auf dem Schnepfenfeld als eine erste frühe Leistung russischer Friedenspolitik, die damals schon unter großen eigenen Opfern Europa retten mußte.

Was die Lächerlichkeit solcher Veranstaltungen betrifft, so sind die Resultate zum Verwechseln ähnlich, ob nun demokratische Wissenschaftler und Kulturapostel im freiwillig wahrgenommenen Staatsauftrag das Licht der Geschichte auf "uns" strahlen lassen oder ob dazu geprügelte und furchtbar zensierte Akademien dasselbe tun.

Ob nun ein Spanier der erbitterten Auffassung ist, daß seine Nation qua Christoph Kolumbus sehr viel für die Menschheit getan hat, oder ob ein Bulgare mit Kyrill und Method dasselbe von sich denkt, weil die den ganzen slawischen Völkern das Licht der Schriftsprache gebracht haben; ob der nationalen Identität bis in Völkerwanderungszeiten hinterhergeforscht wird und deutsche Kinder in der Schule lernen, daß die GerManen gegen die Römer gar nicht schlecht ausgesehen haben, oder rumänische und bulgarische, daß die Daker und Thraker auch nicht ohne waren; ob pausenlos Dimitroff, der große Sohn des bulgarischen Volkes, oder Kurtl Waldheim, die Mozartkugeln und der österreichische Schiedsrichter Erwähnung finden - die Frage der Würde, Berechtigung oder Qualität solcher Nationalfeiern macht immer bloß ein Nationalist gegen einen anderen auf. Welche Qualität soll das Zeug denn jemals haben als die, die in allen Staaten gleich bescheuert ist, dem Standpunkt, daß das Dazugehören zu einer nationalen Gewalt etwas Besonderes sei, Material für seinen Stolz zu verschaffen.

"Unterdrückter Nationalismus"

Andererseits soll es angeblich ein Anliegen des realen Sozialismus sein, nationale Eigentümlichkeiten zu bekämpfen und auszurotten, eine Legende, die sich hartnäckig hält, obwohl ihr jeder Augenschein widerspricht.

Der "Leistungs"katalog der realsozialistischen Staaten in Sachen kultiviertes Volkstum ist nämlich enorm.

Noch der winzigsten Minderheit in der großen Sowjetunion ist durch den Einsatz russischer Sprachwissenschaftler zu einem eigenen Alphabet, eigenen Grammatiken und Sprachlehrbüchern verholfen worden, so daß urtümliche Sippschaften, die nach der kapitalistischen Methode längst ausgerottet oder eingemeindet wären, immer noch wissen, daß sie z.B. Nenzen, Ewenken, Chanten oder Mansen sind, sowie über alle Eigenarten und Vorzüge ihrer Nationalität bestens Auskunft geben können. Die Deutsche Demokratische Republik trägt das sorbische Volkstum auf Händen und leistet sich den bezeichnenden Irrtum zu glauben, mit dieser Tatsache Vertreter des menschenrechtlichen Westens beeindrucken zu können. Nachdem die SED extra ein Treffen von US-Neger-Bürgerrechtlern und Vertretern des Bundes der Lausitzer Sorben "Domowina" angeleiert hatte, mußte sie enttäuscht feststellen, daß sich das negative Bild der DDR in der US-Presse nicht nachhaltig geändert hatte.

Das Volk hat aber nicht nur ein Recht auf seine Sprache und seine Volkstanzakademien - in dieser Abteilung höheren Blödsinns sind die Realsozialisten nämlich sehr kriterienlos, was die Bewahrung und Veredelung von "Werten" angeht -, sondern auch auf seine Mitwirkung im Staat, weshalb im ZK der KPdSU mindestens immer ein Kalmücke etc. sein muß und die CSSR in sämtlichen Regierungsorganen einen Proporz von Tschechen und Slowaken durchzieht, gegen den die Verteilung von Flamen und Wallonen in Brüssel oder die von CDU und SPDlern im ZDF unter Garantie völlig unausgewogen sind.

Weder unterscheidet sich also die Pflege nationaler Traditionen im Osten von der im Westen, noch zeichnet sich der reale Sozialismus durch ein feindseliges Verhältnis zum Volkstum aus. Verwunderlich ist vielmehr gerade das Bedürfnis der sozialistischen Staatsmacherei nach solchen Veranstaltungen.

Die nationale Frage volksdemokratisch

Die Tatsache, daß sich ein Volk durch die Staatsgewalt definiert, die es kommandiert, wollen auch sie nicht wahrhaben. Wegen ihrer politischen Kritik des Klassenverhältnisses, die nurmehr oben und unten kennen will, die schlechte, ungerechte Staatsgewalt und herrschende Klasse, das gute, entrechtete Proletariat und eigentliche Volk, verehren sie auch das Volk als unabhängig von seiner staatlichen Organisation mit vielen schätzenswerten Eigenschaften und eigenen Interessen ausgestattetes Wesen. Sie teilen folglich den bürgerlichen Idealismus, daß Völker bislang ohne Dazwischentreten einer Gewalt ihre Eigenarten haben, ausbilden und schätzen.

Da sie nun aber mit der revisionistischen Umgestaltung von Ökonomie und Herrschaft auch einige der Lebensgewohnheiten ihrer Völker verändern bzw. mit denen kollidieren eröffnen sie sich die praktische Frage, wie der von ihnen propagierte Fortschritt mit ihrer eigenen Wertschätzung der Volkseigenheiten zu vereinbaren geht. Auch da, wo der Sozialismus sich z.B. nicht mit orientalischen Sitten verträgt, nach denen die Arbeit von den Frauen erledigt wird und den Männern die Produktivkräfte ziemlich schnuppe sind, oder wo er es mit einem katholischen Volksglauben zu tun bekommt, der das heilige Recht des Bauern auf seine Scholle proklamiert, auch da wollen sie den Gegensatz nicht wahrhaben.

Wo bürgerliche Staaten Völkerschaften samt ihren Spezialitäten, Sitten und Auffassungen unter Recht und Ordnung subsumieren und ansonsten dem Geschäftsleben anheimstellen, in dem sie entweder untergehen, sich ein paar Gebräuche bewahren oder entsprechend "zivilisieren", machen sich die sozialistischen Staaten die Frage der Duldung, Umerziehung oder Pflege als eigene politische Entscheidung auf. Und diese Frage kann ebenso seltsame Verbote, wie angebliche Vereinbarkeiten oder Erziehungsveranstaltungen nach sich ziehen.

Was

nationale Traditionspflege

angeht, so stellen sich revisionistische Parteien z.B. die aparte Frage, welche sie sich "aneignen" sollen, anstatt endlich einmal mit dem Unfug aufzuräumen, daß ein Volk immerzu von sich etwas halten will, sich also ideell für die Umstände entschädigen will, die seinen Materialismus beschränken In der Untersuchung, worauf eine sozialistische Nation stolz sein darf, machen sie eigene ideologische Fronten auf, in deren Handbabung sie allerdings auch zunehmend kritikloser werden.

Für eine KP, die ihr Vaterland liebt, also auch dessen Jubiläen, wie die polnische, besteht eine gewisse Schwierigkeit in der Frage, welche polnischen Staatsgründungsakte gefeiert werden sollen. So hat der Marschall Pilsudski zweifelsohne dem polnischen Volk zu einer eigenen Staatsmacht verholfen, sich leider aber auch als faschistischer Diktator an den Feldzügen gegen die neu gegründete Sowjetunion beteiligt. Die sowjetische Traditionspflege hat nach entschiedenen Atheismuskampagnen in der Frühzeit und einer entsprechenden Mißachtung kirchlicher Denkmalspflege sich schon seit längerem umentschlossen und läßt diese Kulturleistungen des guten russischen Volkes liebevollst instandsetzen. Und auch die DDR, die als geteilte Nation jahrelang die größte Mühe darauf verwendet bat, die deutsche Geschichte in reaktionäre und fortschrittliche Elemente auseinanderzusortieren und von den letzteren aus die notwendige Gründung der DDR abzuleiten, um mit der Erklärung, daß die SED die "Erbin alles Progressiven in der Geschichte" sei, ihren Bürgern klarzumachen, daß sie als halbe die bessere Nation und deshalb dazu berechtigt sei, für sich eine eigene zu sein, auch die DDR wird mit Zunahme ihres staatlichen Selbstbewußtseins immer anspruchsvoller oder liberaler, wie man will, was die Einverleibung von Progressivem in der Geschichte betrifft. Nicht mehr nur Thomas Müntzer gegen Luther, sondern beide, und auch Friedrich der Große, der alte Militarist, hat auf der anderen Seite sehr zivilisatorische Leistungen vorzuweisen.

Die

Sprachenfrage

wird auch nicht ohne Einmischung revisionistischer Erziehungsziele gelöst. Die für die Sowjetunion geltende Verpflichtung, die russische Sprache zu lernen, gehorcht einerseits dem rationellen Gesichtspunkt, daß der Verkehr in einem Vielvölkerstaat ohne allgemeine Kenntnis einer Sprache nicht abzuwickeln geht. (Im übrigen ist es auch einigermaßen absurd, ausgerechnet Sprachunterricht zu einer besonders perfiden Unterdrückungsmethode zu erklären.) Daneben aber bringt die "Russifizierung" in der Sowjetunion durchaus auch ein ziemlich unsinniges Kriterium in Anschlag: daß nämlich das Lernen der Sprache auch ein Prüfstein dafür sei, wie sehr die anderen Völkerschaften die Russen schätzten, was sich deswegen gehört, weil die ihnen den Fortschritt gebracht hätten. Ohne ein so verdrechseltes Bekenntnis zum Fortschritt will der Sozialismus nicht auskommen. Schließlich haben die üblen Arrangements der diversen KPn mit ihren jeweiligen

Kirchen

nicht einfach den Grund, daß sie sich im Kirchenkampf nicht durchsetzen konnten. Obwohl sie gerade in dieser Sphäre am ehesten mit einem oppositionellen Nationalismus zu tun hatten, ist ihr zweischneidiger Friede mit der Kirche kein zähneknirschender Waffenstillstand, sondern beruht auf dem Opportunismus, an der Kirche gewisse gemeinsame humane Ziele zu entdecken - das sind natürlich die der kirchlichen Knechtsmoral -, die ins sozialistische Menschenbild "passen", sofern man nur von allem Unpassendem einfach mal absieht.

Wenn aus solchen Vernnstaltungen dann wirklich Konflikte resultieren, das Volk in Polen z.B. auf der Feier der unerlaubten Jahrestage besteht, die polnische Kirche reell die Macht besitzt, die Massen auf- oder abzuwiegeln, oder "großrussischer Chauvinismus" seine Verachtung gegenüber Brudervölkern betätigt, sind das Punkte, die sich die regierenden Sozialisten selbst zuzuschreiben haben.

Erziehung zur Völkerfreundschaft

Schließlich stoßen sie auch auf die Tatsache, daß ihre Völker im Bündnis oder ihre nationaler Unterabteilungen nicht bloß freundschaftliche Gefühle gegeneinander hegen. Vom wirklichen Grund dieser Gegensätze im Bereich der Volksmeinung, also von der staatstreuen Klärung der Schuldfrage wollen sie nichts wissen und schließen sich lieber der bürgerlichen Auffassung an, daß der Nationalismus leicht in Vorurteile über andere umschlägt, daß er dann leicht übertrieben wird und als "Chauvinismus" viel Unheil anrichten kann. Daher halten sie dann ein regelrechtes Erziehungsprogramm zur Erzeugung von Solidarität in der Nation und Freundschaft zwischen ihren Völkern für angebracht, das weder viel schadet noch nützt.

"Explosiver Nationalismus im Ostblock"

Mit der Diagnose, daß Nationalismus im Osten bloß als unterdrückter oder künstlich erzeugter vorkommt, jedenfalls der Herrschaft dort nicht zusteht, bescheidet sich die westliche Kritik nicht. Darüber hinaus will sie erfahren haben, daß der Nationalismus der Sprengsatz ist, der dieses "System" unweigerlich erledigt.

"Sobald die Kommunistischen Parteien an der Macht waren, forcierten sie eine umgekehrte Variante des Nationalismus, die sie mit dem Decknamen 'Internationalismus' versahen und die im Grunde auf der Unterordnung der jeweiligen nationalen Identitäten unter die Sowjetunion beruhte..."

"Im Grunde ist es aber der Kommunistischen Revolution nicht gelungen, eine völlige Umwertung aller Werte dahingehend zu erreichen, daß die einzelnen Menschen das Verhältnis zu ihrem politischen Gemeinwesen und im internationalen Bereich primär von ihrem Klassenstandpunkt aus bestimmt hätten." (George Schöpflin "Kommunismus und Nationalismus in Osteuropa", Europäische Rundschau 1, 1981, S. 73)

Auflösung des sozialistischen Lagers

"Jugoslawien und alle anderen Staaten Osteuropas haben ihren speziellen Charakter und eine eigene Dynamik. Bei unseren Beziehungen zu den osteuropäischen Ländern des Warschauer Pakts versuchen wir, einen evolutionären Wandel in Richtung auf größere Vielfalt und nationale Unabhängigkeit zu ermutigen." (Lawrence Eagleburger),

in anderen Worten:

"die zentrifugalen Kräfte zu fördern und den Block aufzulösen." (passim)

Daß der "proletarische Internationalismus" eine "Umwertung der Werte" angestrebt haben soll, widerlegt sich schon daran, daß der sich 1. selbst schon längst als Treue zur Sowjetunion definiert, 2. die Treue von als solchen extra eingerichteten Nationalstaaten verlangt und deswegen 3. auch gar nicht als bedingungslose Unterordnung und Ausnützung vonstatten geht, sondern als eine sehr normal üble Staatenkonkurrenz unter der Patronage einer Supermacht. Auf der einen Seite ist der "gerechte nationale Vorteil" in diesem Bündnis prinzipiell sehr anerkannt, und die dazugehörigen Zweifel, ob die anderen im Bündnis den auch wirklich garantieren, unterscheiden sich von derselben Veranstaltung im westlichen Lager auch nur in dem Punkt, daß die wechselseitige Benützung der Nationen bloß politisch und nicht auch als die vom Staat getrennte erfolgreiche Aktion der privaten Geschäftswelt stattfindet. Beschwerden über die mangelnde wechselseitige Tauglichkeit für den jeweiligen nationalen Fortschott richten sich daher notwendigerweise an den Bruderstaat als den einzigen in Frage kommenden Adressaten.

Auf der anderen Seite stellt die Abteilung "proletarischer Internationalismus" auch keinen unversöhnlichen Gegensatz zum je weiligen nationalen Interesse dar: Das Interesse an der politischen Rückendeckung und den ökonomischen Leistungen der Schutzmacht und die Gewißheit, daß die eigene Staatsmacht darauf beruht, halten den RGW und Warschauer Pakt zusammen.

Der Nationalismus im Bündnis und dessen besondere Verhandlung, wieweit eigene Wege und Lösungen statthaft sind, hat zwar auf der einen Seite entsprechend brutale Maßnahmen zur Herstellung von Linientreue und auf der anderen Seite die schlechten Arrangements mit "nationalen Besonderheiten" wie Kirche oder privaten Bauernstand zur Folge gehabt. Der Geschlossenheit des Bündnisblocks abträglich war er aber erst dann und in dem Maße, wie der unzufriedene Nationalismus der Oberen Angebote des Westens, entgegengenommen hat. Die wegen ihres Nationalismus abweichenden Linien in Rumänien, Polen und Ungarn haben auf den Handel mit dem Westen als das Mittel gesetzt, ein im RGW immer nicht genügendes nationales Wachstum zustandezubringen und haben in dem Maß den Ruin ihrer Planwirtschäften herbeigeführt, in Polen mit dem bekannten Resultat.

Aufstand der Völker

Auch der Nationalismus von unten muß für die Zusammenbruchsprognose herhalten:

"In der Sowjetunion werden immer mehr nationale Eliten in relativ immer ärmeren Regionen des Landes ausgebildet - eine der klassischen Voraussetzungen für nationale Spannungen."

Die muß es nämlich geben, auch wenn keiner von ihnen weiß und als Grund dafür ein "Vakuum" herhalten muß:

"Als weiterer Verstärker für Nationalismus wirkt in der sowjetischen Situation ein weitverbreitetes geistiges Vakuum, das hinter der phrasenreichen Fassade der offiziellen Weltanschauung entstanden ist. Hinter dieser Fassade und auch unter ihrem Schutz gehen geistige und bewußtseinsmäßige Veränderungen vor sich, die wir nur teilweise kennen (!) und die auch die politische Führung in ihrer selbstverschuldeten Isolierung von der Gesellschaft möglicherweise nicht einzuschätzen vermag. Aber mit Sicherheit (!) strömen in dieses geistige Vakuum auch nationalistisches Ideengut und Ressentiment ein." (Gerhard Simon, "Russen und Nichtrussen in der sowjetischen Gesellschaft", S. 33)

Oder die usbekische Geburtenrate wird angeblich demnächst die Russen an die Wand drücken und ihr Reich auflösen.

Die Behandlung desselben Themas in der sowjetischen Öffentlichkeit belegt so ziemlich das Gegenteil. Neben rührseligen Auslassungen über das sympathische kinderliebe Völkchen der Usbeken im großen Kreis der sowjetischen Völkerfamilie werden sie - wie die anderen Turk-Völker - wirklich auch als Problem behandelt, aber als ein ganz anderes: Weil sie nämlich in ihrem Usbekistan viel zu zufrieden vor sich hin leben und trotz ihrer enormen Geburtervate viel zu wenig Personal für die nationalen Projekte stellen, weder daran denken, sich zu Hause als Industriearbeiter noch als Arbeitskräfte in Sibirien für den nationalen Fortschritt zur Verfügung zu stellen. Woraus zumindest soviel klar wird, daß es sich bei diesem Volk wohl kaum um einen Sprengsatz innerhalb der Sowjetunion handelt.

Anstatt am Nationalismus zugrundezugehen, regieren die KPs mit ihrem Nationalismus und sei es in der Form, daß ein eigentlich nicht erlaubter Antisowjetismus das einigende Band zwischen Regierung und Volk darstellt. Wie in Ungarn, wo die nationale Legende darin besteht, der eigene Kadar könnte wegen der sowjetischen Vorherrschaft nicht so, wie er wollte, hätte aber mit unglaublicher ungarischer Raffinesse das Bestmögliche daraus gemacht. In diesem frommen Glauben werden die Härten der sehr unabhängigen ungarischen Wirtschaftpolitik als unvermeidliches Übel genommen und man beglückwünscht sich dazu, es immer noch besser als im Rest-Ostblock zu haben.

Wie sollte auch ausgerechnet Nationalismus, die Unterwerfung unter die jeweiligen per Staat entschiedenen Existenzbedingungen und die daraus resultierende Betrachtungsweise der Gewalt als Chance somit ihrer ganzen Anhänglichkeiten an heimische Erde und Gebräuche einen eigenen Widerstandsgeist hervorrufen?

Von der staatsbürgerlichen Schafsnatur ihrer westlichen Klassenbrüder unterscheiden sich die östlichen nbtwendigerweise eben nur da, wo ihr Staat ihnen wegen seiner unterschiedlichen Anliegen eine andere Charakterbildung zuteil werden läßt. Gerade wegen seiner anderen Auffassung von dem, was er seinem Volk schuldig sei, wegen der unmittelbar politischen Regelung der Ökonomie und Entscheidung über die Lebensverhältnisse der Leute sind die Partei und ihre Einrichtungen bei der Beantwortung der Schuldfrage unweigerlich auch die einzigen Themen. Aber auch ein östlicher Staatsbürger verfügt über zahlreiche staatstreue Methoden, seine Unzufriedenheit zu betätigen, was die Normalität des Staatslebens neben dem Stolz auf die vielen "Errungenschaften" ausmacht: Es gibt eben viele Funktionäre, die schlecht oder korrupt sind, jedenfalls ihrer eigentlichen Pflicht nicht nachkbmmen, oder Schlamperei und mangelnde Plandisziplin an anderer Stelle oder eben schließlich andere Nationen im Bündnis, von außerhalb an erster Stelle immer die Russen; die der eigenen Nation die Früchte ihres Fleißes rauben, jetzt auch noch die Polen.

Schwierigkeiten mit dem Nationalismus ihrer Untertanen bekommen die realsozialistischen Staaten erst da, wo der sich auf den Verdacht verlegt, der eigene Staat sei überhaupt der falsche. Und diese Auffassung, die weder die Gewalt kritisiert, der man unterworfen ist, noch sie in der gewöhnlichen Weise am Ideal einer besseren mißt und ihr zugutehält, daß sie der Absicht nach immer auf dem Weg dazu ist, sondern sie an diesem Ideal verurteilt, diese Auffassung kommt ohne einen Vergleich nicht zu ihrer Gewißheit.

Ein Vergleich, der zuweilen sehr direkt zustandekommt, indem eine andere Staatsmacht sich für zuständig erklärt: wie der Staat Israel für die Juden, die BRD - für Wolga-Deutsche, Polen-Deutsche, Banater Schwaben und - nicht unbescheiden - für die ganze DDR. Der dadurch überhaupt als solcher erst richtig geschaffene Verdacht, man habe es mit einer falschen Herrschaft zu tun, macht ziemlich mittelalterliche Bauern oder schlichte Arbeiter aufsässig, läßt sie auf ihrem "Recht" bestehen bis hin zum völligen Ruin ihrer realsozialistischen Existenz.

Oder die Abteilung, die der reale Sozialismus ganz eigens mit der wissenschaftlichen und künstlerischen Pflege seiner Ideale beauftragt hat, nimmt diesen Auftrag so bitterlich ernst, daß sie Verstöße der Politik gegen die postulierten höheren Zwecke gar nicht übersehen kann, und nimmt die Tatsache, daß dann doch nicht sie, sondern die Partei der Sittenrichter ist, zum Anlaß, das westliche Interesse an ihren Gewissenskämpfen konsequent mißzuverstehen und den freien Westen als das Eden eines ungetrübten Idealismus und wirklich freien Geisteslebens zu betrachten.

Dann kritisieren idealistische Patrioten den Sozialismus damit, daß er gar nicht wirklich Selbstlosigkeit und Opfersinn fördere, sondern Materialismus und Egoismus. Oder sie werfen der Partei einen ganz unrussischen Teufelsgeist vor und plädieren für die "Heimführung der Romanovs", die Abschaffung des Benzin-Autos und die "Erneuerung von Volkskampfspielen an Feiertagen, Faustkampf, Wand gegen Wand, Einnahme des Schneestädtchens, Dschigitorka", um den "Alkoholismus" zu bekämpfen. (Aus den "12 Prinzipien der russischen Sache. Brief an die russischen Patrioten" von Sergej Soldatov, den mittlerweile die "Gesellschaft für Menschenrechte" in die BRD befreit hat, wo er nun auch ohne Monarchie, mit vielen Benzinautos, Bundesliga statt Volkskampfspielen und viel Alkoholismus leben muß.)

Oppositionell wird schließlich der Nationalismus im Ostblock dann, wenn sich die Herrschaft ganz grundsätzlich vor ihren Untertanen ins Unrecht setzt, indem sie eingerichtete und bewährte Existenzgarantien außer Kraft setzt und damit den schon immer existenten Verdacht bestätigt, im Namen der Schutzmacht nationalen Ausverkauf zu betreiben. Auch an diesem Übergang in Polen war aber der Westen maßgeblich beteiligt, nicht nur dadurch, daß seine guten Handelsbeziehungen zur rapiden Verarmung der Bevölkerung geführt haben, sondern ironischerweise vermittels der Taktik der polnischen Regierung. Die ist den Forderungen ihres unzufriedenen Volks ja gerade in der Spekulation entgegengekommen, für sich damit ein günstigeres Verhältnis zum Westen herausschlagen zu können. Die 'Solidarität' und ihre Führer haben sich dadurch nur um so mehr in ihr Recht gesetzt gefühlt und die falsche Annahme zugelegt, Hindernis für ihre Machtübernahme sei bloß die Rote Armee und ihr aufrichtigster Freund und Anwalt der freie Westen.

Daß der angefeindete Kommunismus "von sich aus" zusammenbricht und an seinem inneren Kampf mit dem Nationalismus der auseinanderstrebenden Staaten und der aufbegehrenden Völker zugrunde geht, ist ein frommer Wunsch. Wahrheit hat er keine auf seiner Seite - es sei denn die, daß der Nationalismus westlicher Politik über Mittel verfügt, seinem Wunsch zur Durchsetzung zu verhelfen. Die haben aber mit Sprache, Kultur, Volkstanz, Tradition und Geburtenraten wenig zu tun. (Vgl. MSZ 6, 82: Systemvergleich theoretisch und praktisch)