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Nationalismus in der "Dritten Welt"
DIE NATION - PROJEKT UND IDEAL EINER SOUVERÄNITÄT VON FREMDEN GNADEN
Wenn die Bundesrepublik Deutschland Olympische Spiele ausrichtet, dann gibt es zwar manches Gemecker über die dafür verpulverten Milliarden - aber nichts davon ist wirklich ernst: außer jeden Zweifel steht für jedermann, daß sich für einen Staat wie die BRD so etwas durchaus gehört. Macht dagegen Indien einige Millionen Rupien für die Veranstaltung Asiatischer Spiele locker, so fühlt sich jeder Beobachter zu nachdrücklichen Mahnungen und Hinweisen berechtigt, wo das viele Geld weit nötiger gewesen wäre; und kaum ein Berichterstatter schenkt sich die sarkastische Aufklärung, daß Sport in Indien als verpönte körperliche Arbeit gilt und deshalb eigentlich überhaupt nicht populär ist - wie sinnlos vergeudet also die schönen Milliardenbeträge! Nationale Angeberei - die Beispiele dafür ließen sich beliebig vermehren! - wird eben als eine Sache beurteilt, die einem Souverän nur nach Maßgabe seines wirklichen und anerkannten Gewichts in der Staatenwelt zusteht.
Und das betrifft keineswegs bloß die luftigen Sphären von Sport und Spiel, Unterhaltung und Kultur, wo die Konkurrenz der Nationen in geradezu lächerlicher Überdeutlichkeit regelrecht methodisch ausgetragen wird.
Daß ein anständiger Staat ohne Waffen nicht auskommt, ein hochanständiger Souverän noch nicht einmal ohne Atomwaffen, das gilt als ausgemacht; die ärgsten Kritiker der bundesdeutschen Staatsverschuldung werden stumm, wenn die Bundeswehr ihren unabweisbaren Bedarf anmeldet, und über die exorbitanten Teuerungsraten beim Tornado wird nur geschimpft, wenn sich so dem zuständigen Minister eins reinwürgen läßt. Wenn dagegen Staaten wie Indien sich eine Atombombe basteln oder Zaire ein Kontingent Panzer ordert, dann gebärden sogar hartgesottene Rüstungsfreunde sich bisweilen wie pazifistische Philanthropen, jammern um das vergeudete Geld und befinden eine einheimische Armee, noch dazu mit solchen Waffen, für ein höchst überflüssiges Requisit der nationalen Souveränität dortzulande - es sei denn, die hätte gerade eine "kommunistische Subversion" zu bekämpfen. Ob der britisch-argentinische Krieg um die Malvinas nicht beiderseits ein genauso "sinnloser" Krieg war wie der zwischen Irak und Iran, den nun schon im dritten Jahr keine Seite für sich entscheiden kann: dieser Verdacht wurde nur so lange immer mal wieder geäußert, wie die Briten noch nicht eindeutig gesiegt hatten. Mit der Kapitulation Argentiniens war zweifelsfrei klargestellt, daß dieser Staat sich mit seinem Krieg etwas herausgenommen hatte, was ein paar Nummern zu groß für ihn war - umgekehrt hatte Großbritannien mit seinem Erfolg bewiesen, daß der Gebrauch solcher Mittel dieser Nation ganz zweifelsfrei zusteht.
Oder: Will ein afrikanisches Land Einfuhrverbot gegen Exportartikel der EG verhängen, so rauft die demokratische Expertenwelt sich die Haare über so viel ökonomische Unvernunft, mit der diese Nation damit Notwendigkeit doch bloß sich selber schade; bestenfalls gesteht man solchen Maßnahmen zu, sie wären ein völlig untauglicher Rettungsversuch. Wie ehrenwert und bei aller Freihandelsmoral doch recht vernünftig sind dagegen europäische Zollschranken und Kontingentierungen gegen auswärtige Textilien und erst recht westdeutsche Importrestriktionen gegen italienischen Billigstahl!
Dei Idealismus der Souveränität und der Materialismus ihrer Maßstäbe
Ganz offenkundig setzen die paar erfolgreichen Souveräne auf dem Globus in jeder Hinsicht die Maßstäbe dafür, was sich für eine Nation eigentlich gehört; und das hat für den gesamten Rest der Staatenwelt gleich zwei einander widersprechende Wirkungen. Keine Nation wird den Kriterien des weltweit produktiven Reichtums, der weltweiten politischen Zuständigkeit, der weltweiten militärischen Durchsetzungsfähigkeit - und dann schließlich auch eines weltweit anerkannten Geschmacks gerecht - außer der Handvoll Staaten, die gemeinsam für "die Weltwirtschaft" und deren universelle "Weltfriedensordnung " verantwortlich zeichnen. An der Durchschlagskraft und praktischen Verbindlichkeit der Machtworte, die die Anführer der großen westlichen Demokratien - und im Zweifelsfall der USA allein - in die Welt setzen, blamieren sich die konkurrierenden Ambitionen und Ansprüche der anderen Souveräne; und zwar so gründlich, daß ihnen nicht einmal in den Sphären des sportlichen, höheren oder sonstigen Blödsinns Genugtuung widerfährt, wenn sie einmal wirklich Konkurrenzfähigkeit zu bieten haben: Es ist ein großer Unterschied, ob ein amerikanischer Präsident seine Eishockey-Nationalmannschaft dafür auszeichnet, daß sie auf dem Eis durch einen Sieg über die Sowjetunion stellvertretend Afghanistan befreit hat, oder ob äthiopische Langstreckenläufer zum Ruhm ihres einst kaiserlichen, heute "sozialistischen" Vaterlandes Goldmedaillen erringen. Auf der anderen Seite existiert aber für keinen der so peinlich nachrangigen, dritt- bis fünftklassigen Souveräne real die Möglichkeit, sich einfach herauszuhalten aus dem internationalen Leistungsvergleich nach der Meßlatte der westlichen Top-Demokratien; und offenbar besteht auch in keinem Fall ein Bedürfnis danach. Sie sind ein Material des imperialistischen Erfolgs der maßstabsetzenden Nationen: sie werden als Geschäfts-"Partner", als diplomatische Mit- und Gegenspieler, als strategische Unterbastionen in Anspruch genommen, also praktisch den Maßstäben unterworfen, die diejenigen des imperialistischen Erfolgs sind, den sie genau nicht haben. Und eben das: militärische, diplomatische und ökonomische Partner und Kontrahenten der Weltmächte wollen sie auch sein. Ihre Souveränität, d.h. das Machtmonopol ihrer Regierung über Land und Leute in all seiner Abstraktheit und Formalität; aber anerkannt durch die anderen Souveräne, ist für diese Nationen Grund genug, sich auf den Standpunkt prinzipieller Gleichrangigkeit mit den wirklichen Urhebern und Managern von Weltgeschäft und Weltfrieden zu stellen. Obwohl nichts als Produkte und im Zweifelsfall Opfer des universellen Zusammenhangs und lebhaften Verkehrs aller Herrschaften auf dem Globus von heute, stellen sie sich dem Vergleich mit dessen Machern, so als hätten sie strategische Interessen in Alaska oder an den Dardanellen; so als hätten sie die ökonomische Brauchbarkeit westdeutscher Werkzeugmaschinen und japanischer Transistoren entdeckt und für sich erschlossen; so als käme ihrem Urteil über genügende oder mangelnde Kooperationsbereitschaft der Herrschenden etwa in Bonn oder Paris irgendeine praktische Gültigkeit zu. Im Namen des diplomatischen Idealismus der Gleichrangigkeit aller Staaten, den auch noch nicht einmal sie erfunden, sondern von den Garanten und Nutznießern des "Völkerrechts" abgeschaut haben, pochen sie auf den Vergleich, dem sie praktisch und sehr zu ihrem Nachteil beständig unterzogen werden, als auf ihr höchstes Recht - und erst recht überall dort, wo das bürgerliche Kultur- und Freizeitleben ihnen dafür eine Chance eröffnet, suchen sie diesen Idealismus mit Volkstanzgruppen, Boxerstaffeln und Museumsstücken wahrzumachen. Schließlich blamiert ihr Nationalstolz sich ja bloß deswegen auf allen Ebenen, weil er gerade unabhängig vom tatsächlichen Erfolg in Sachen Kunst und Krieg, Wirtschaftswachstum und diplomatischer Erpressung den Anspruch erhebt, daß die Kriterien solchen Erfolgs die seinen wären.
Die ständige praktische Blamage der meisten Staaten der Erde in ihrem Kampf um nationalen Erfolg in der internationalen Konkurrenz - um Macht über Einfluß auf, Nutzen von auswärtiger Herrschaft - macht diesem Bemühen keineswegs ein Ende, im Gegenteil: Sie ist dafür ein ewiger Stachel. Unerbittlich praktiziert jede nationale Obrigkeit das Gesetz, nach dem die imperialistischen Mächte sie beständig antreten und sich bewähren lassen: Sie betrachtet und behandelt ihre Souveränität - denn darin und nur darin ist sie allen ihren Konkurrenten gleich, konkurriert also mit ihnen! - als das eigentlich doch hinreichende Mittel ihres (ausbleibenden) Erfolgs. Die unterschiedlichen Wirkungen dieses Verfahrens bringen die Vielfalt der modernen "Völkerfamilie" hervor.
"Aus eigener Kraft..."
Da gibt es den Fall, daß eine Regierung, der kein anderes Machtmittel zur Verfügung steht als die Menschen, die sie unter ihrer Kontrolle hat, ihre Leute auch schon für ein Machtmittel hält, mit dem in der modernen Staatenwelt etwas auszurichten wäre - allein deswegen, weil es ganz unglaublich viele sind. Die abstrakteste Bestimmung moderner Souveränität: daß eine Herrschaft über Menschen verfügen kann, versuchen mit bemerkenswerter Konsequenz etwa die Nachkriegsregierungen Chinas - die ihre Republik deswegen auch gleich schon in der Namensgebung ihrem Volk übereignet haben - in einen Reichtum und eine Macht umzumünzen, die ihrem Staat ein Stück Weltherrschaft sichert. An dem von ihnen regierten Viertel der Menschheit soll keine Macht der Welt vorbeiagieren können: In einen solchen Antiimperialismus wurde das anfängliche Programm einer sozialistischen Besserstellung der Volksmassen sehr bald regierungsamtlich umfunktioniert.
Daß Menschen allein in der Welt von heute allerdings noch nicht viel bedeuten - auch wenn eine Partei und eine Armee sie durch ein paar elementare Erfolge bei der Organisation ihres Lebensunterhalts für sich gewonnen haben -, daß es mehr braucht als Gehorsam, um aus Menschen ein zweckdienliches Menschenmaterial zu machen: das haben Mao und seine Gefolgsleute und Nachfolger an ihrem Volk in aller Ausführlichkeit durchexerziert. Sicher, ernähren kann ein Volk sich allemal "aus eigener Kraft", sogar mit einiger Bequemlichkeit, wenn es, wie einst durch die Rote Armee, zu einer vernünftigen Kooperation angehalten und von den faux frais einer luxuriösen Herrschaft wie von kolonialistischer Ausplünderung freigesetzt wird. Die "Selbstversorgung" der Kommunen mit Stahl, Metallprodukten und anderen Industriegütern geht allerdings schon schwer auf Kosten von Rationalität und Bequemlichkeit; und erst recht kann der Überschuß, der auf diese Weise zustande kommt, nie und nimmer für die Bedürfnisse einer Regierung reichen, die sich als autonome Macht militärisch mit den Weltmächten messen will. Aktionen wie der Korea-Krieg erweisen da sehr rasch und unmißverständlich die praktische Wucht solcher Abstraktionen wie der Produktionsziffern der nationalen Stahlindustrie. Deren Förderung bringt - wieder andere Notwendigkeiten mit sich, etwa des Verkehrswegebaus, die sich zwar auch durch den Einsatz von Menschenmassen bewältigen lassen; nur geht das erstens wieder auf Kosten der "Volkskraft", aus der die Regierung doch schöpfen will, und genügt zweitens nicht entfernt der Dringlichkeit, die solchen Projekten vom Standpunkt nationaler Großmachtambitionen aus zukommt. Erst recht sind im Krieg selbst Menschenmassen ein sehr unzureichender bis überhaupt kein Ersatz für modernes großindustrielles Tötungsgerät; daß für die militärische Weltgeltung Chinas eine eigene, souverän verfügbare Atombombe wichtiger wäre als die Herrschaft über jeden vierten Erdenbewohner, dieser Gedanke ist der Führung in Peking sehr bald gekommen. Nun läßt sich auch noch eine Atombombe mit genügend "Massenkraft" zustandebringen - vorausgesetzt der sowjetische Ex-Verbündete hat sie, technologisch erst einmal auf den Weg gebracht -; und einer nationalkommunistischen Regierung fällt es dann auch nicht schwer, das als Beweis des historisch-materialistischen Gesetzes zu interpretieren, daß unter einer Milliarde fortschrittlich gesinnter Menschen jede Fähigkeit, und zwar von bester Qualität, herzukriegen ist. Die endlich hergebrachte Atombombe aber taugt wiederum militärisch nicht viel ohne die automatischen Transportmittel, über die die wirklichen Weltmächte schon längst verfügen; und auch ein chinesischer Sputnik macht noch keine respektable Raketenstreitmacht. In den Kriegen, die China tatsächlich geführt hat - nach Korea gegen Indien, dann nach dem großen Frontwechsel gegen Vietnam -, hat die Regierung den Einsatz ihres atomaren Potentials nicht erwogen, sondern auf ihr "klassisches" Machtmittel zurückgegriffen: Masse und Moral ihrer einfachen Soldaten; und das war dem begrenzten Kriegszweck auch jeweils sehr angemessen. Denn wo Macht und Reichtum einer Nation tatsächlich noch in erster Linie in der Menschenmasse als solcher liegen, die ihre Führung aufzubieten vermag - und nicht in den Mitteln und Einrichtungen, die durch den Einsatz dieser Massen effektiv werden und durch die der Einsatz dieser Massen in seiner Wirkung potenziert wird -, da reichen eben die Fähigkeiten dieser Nation, und ebensowenig ihre wirklichen materiellen Interessen, kaum über ihre Grenzen hinaus, und schon gar nicht bis hin zu den Zielpunkten moderner Interkontinentalraketen. Der Wunsch der Staatsführung nach einer wirklichen Autonomie, die sich neben der der "Supermächte" behaupten und sehen lassen kann, also nach Teilhabe an der herrschaftlichen Ordnung der Welt, bleibt so nicht bloß hinsichtlich der materiellen Möglichkeiten der Nation, sondern auch seinem Inhalt nach ein Idealismus, der nur genau andersherum zur Realität wird. In ihrer hart erkämpften Souveränität war die Volksrepublik China von Anfang an auch Gegenstand des aufmerksamsten und anspruchsvollsten imperialistischen Interesses; und zwar zuerst eines entschieden feindlichen seitens Amerika, gegen das die Regierung ihren Staat mit sowjetischer Unterstützung durch den vielgeschmähten "Bambusvorhang" und eine Wirtschaftspolitik der Selbstversorgung des Volkes abschirmte. Mit der amerikanischen Unterstützung Tschiang Kai-scheks war "Rotchina" als Feind von weltweitem Interesse praktisch definiert, längst bevor seine Führer sich als Aktivisten in der Weltpolitik zu bewähren gedachten; die haben sich zum militärischen Kräftemessen mit den benachbarten Vasallen des Westens denn auch nicht aus freien Stücken entschlossen, sondern durch diese Feindschaftserklärung genötigt gesehen. Umgekehrt hat die chinesische Führung das gegnerische Interesse an ihr seit Ende des Vietnamkriegs als Chance wahrgenommen, um nicht mehr bloß "aus eigener Kraft" den Bedürfnissen nach wachsendem Reichtum und einer konkurrenzfähigen technologischen Ausstattung der Staatsgewalt gerecht zu werden, die sich ihr aus der Vereinnahmung des Landes ins weltweite "Kräfteverhältnis" zwingend aufgedrängt hatten. Tischtennis- und Turnermannschaften, die den Globus bereisen mußten, und ein umgekehrter Polittourismus für westliche Staats- und Geschäftsmänner, denen die Große Mauer als - "bis zum Mond!" - sichtbares Zeugnis chinesischen Massenfleißes präsentiert wurde, waren der kulturpolitische Auftakt zu einem nationalen Entwicklungsprogramm, das die "unerschöpfliche eigene Kraft des Volkes" nicht mehr bloß mobilisieren und ihr Aufbauwerk verrichten lassen will, sondern weltweit zur Benützung feilbietet. Dumm sei das Volk, aber lernbegierig; noch ungeschult, aber anstellig; zahlreich und noch ziemlich unbenutzt: dieses peinliche Image verbreiten chinesische Delegationen seither in den Chefetagen und in der Öffentlichkeit der westlichen Führungsmächte. Sogar mit einer "Bestrafungsaktion" gegen Vietnam, der Stationierung amerikanischer Horchposten an ihren kontinentalen Grenzen und ähnlichen Hilfsdiensten für die westliche Globalstrategie bietet die Regierung sich als unterstützenswerter Partner an. Die ersehnte "Unterstützung" wird China seither auch zuteil allerdings mit einer Maßgabe, deren Wucht offenbar sogar der "reformfreundlichen" Führung einen gewissen Eindruck gemacht hat: Sie geschieht zu den Konditionen der westlichen Polit- und Geschäftswelt; also beispielsweise als Export-"Chance", für die die westlichen Abnehmer Gebrauchswert und Preis diktieren; als Güterlieferung, für die dasselbe gilt; als Kredit, der dem Land mit jedem so finanzierten "Fortschritt" erweitere Zins- und Tilgungsverpflichtungen, erweiterten Kreditbedarf und entsprechend erweiterte Geschäftemacherei mit der "Volkskraft" auferlegt. Das politische Ideal, aus China eine konkurrenzfähige Weltmacht zu machen, wird auf diese Weise realistisch - darin nämlich, daß die souveräne Staatsgewalt in Peking sich zunehmend zum Teilhaber des Nutzens macht, den die Führungsmächte von Weltwirtschaft und Weltfrieden aus der strategischen Lage, den Bodenschätzen - und eventuell auch einer beschränkten Benutzung des umfänglichen Volkskörpers der Nation ziehen.
Macht aus Militär und Schulden
Den "Entwicklungsweg", zu dem sich die chinesische Führung im Interesse der Konkurrenzfähigkeit ihrer nationalen Macht unter dem Druck auswärtiger Feindschaftserklärungen durchgerungen hat: eine lohnende Benutzung von Land und Leuten dadurch herzukriegen, daß man sie auswärtigen Interessenten für diesen Zweck feilbietet, diesen Weg haben andere Souveräne schon ein bis zwei Jahrzehnte früher eingeschlagen. Manche Präsidenten der paar "reichen" lateinamerikanischen Länder haben sich da zwar noch lange gesträubt. Als zumindest relative Kriegsgewinnler waren Argentinien und Brasilien aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen: der Welthandel mit Industriegütern lief schlecht genug, der mit Fleisch und Weizen bzw. Kaffee und Diamanten gut genug, um einer einheimischen Geschäftswelt die Freiheit zur lohnenden Ausbeutung eines nationalen Land- und Industrieproletariats zu schaffen und der Obrigkeit genügend Pesos bzw. Cruzeiros für die Finanzierung ihrer Autonomie, die ja auch durch keine freiheitliche Feindschaftsansage gefährdet und nie zu einem militärischen Kräftemessen mit den USA und deren feindseligen Kreaturen gezwungen war. Der "Anreiz", nationale Entwicklungsprogramme aufzulegen, die die Grenzen des Staatshaushalts sprengten und die Potenzen der einheimischen Ausbeutung überforderten, erwuchs daraus, daß die weltweiten Konkurrenzverhältnisse dank GATT und IWF, den Organisationsformen der ziemlich universellen Freiheiten des Dollars, wieder "in Ordnung" kamen; nämlich sich sehr eindeutig nach den Geschäftsbedürfnissen des US-Kapitals richteten. Der Wucht der amerikanischen, der runderneuerten europäischen und der neu geschaffenen japanischen Konkurrenz, den Ausbeutungserfolgen der Siegermacht und, nicht zufällig, der von ihr in Obhut genommenen Hauptverlierer, war die lateinamerikanische Geschäftswelt nicht gewachsen. Die nationalen Anstrengungen, durch gesteigerte Ausfuhr natürlicher "Reichtümer", vor allem aus der Landwirtschaft, den Ruin der einheimischen Industrie zu kompensieren, ruinierte nur zusätzlich die klassischen Absatzmärkte im Ausland bzw. die dort zu erlösenden Preise. Höhere Maßstäbe kapitalistischer Rentabilität, gleichzeitig erschwerte Bedingungen für die nationale Selbstbehauptung im Export: Das ist seither die permanente Krisenkonstellation für die Nationalökonomie von Ländern wie Argentinien oder Brasilien.
Die Krisenbewältigungsstrategie, die den zuständigen Machthabern eingefallen ist und genauso dauerhaft praktiziert wird, folgt überall denselben Prinzipien. Ganz wie es sich für einen "ideellen Gesamtkapitalisten" gehört, besinnt sich auch dort die Staatsgewalt auf ihre Hoheit über das Mittel, die - bereits stattfindende, aber eben zunehmend unzureichende - Ausnutzung der nationalen Arbeitskraft produktiver zu machen: den nationalen Reichtum in der abstrakten Gestalt eines von ihrer Notenbank ausgegebenen nationalen Geldes. Daß Schulden sich mindestens ebenso gut wie bereits verdientes Bares dazu eignen, neue oder erweiterte Geschäfte einzuleiten und den Offenbarungseid über ihr Mißlingen zu vertagen, diese Weisheit brauchte das lateinamerikanische Bankwesen nicht erst zu erfinden. Ebensowenig "typisch südamerikanisch" war je der ausgiebige Gebrauch der Freiheit, die die Staatsgewalt in ihrer Eigenschaft als Urheber und Garant aller gesetzlichen Zahlungsmittel und als Bank aller Banken besitzt: Die Freiheit, sich selbst und ihre geschäftlich aktiven Bürger mit buchstäblich aus nichts geschöpften Krediten zu versorgen, deren Ausmaß sich überhaupt nicht an einer seriösen Spekulation auf einen wirklichen, damit zustande gebrachten Geschäftserfolg bemißt, in dem auch der Kredit sich bezahlt macht, sondern allein durch den Finanzbedarf bestimmt ist, den der Fiskus sich und seinen kapitalistischen Schützlingen zugesteht bzw. auferlegt. Ein entscheidender Unterschied ist und bleibt es nun allerdings doch; ob die staatliche Verschuldungspolitik die Form ist, in der der Staat sich in geschäftsdienlicher Weise am wachsenden Reichtum seiner nationalen Ökonomie bedient - oder ob so das Kapitalwachstum, das mangels Rentabilität nie zustandekommt, auf dessen Gelingen der Staat mit seiner Kreditbeschaffung aber immerzu schon vorgreift, im nötigen Maß überhaupt erst zustande gebracht werden soll. Im letzteren Fall verhindert nämlich der Staat durch den unproduktiven Gebrauch, den er von den Schulden macht, mit denen er seiner Gesellschaft zu Zahlungsmitteln verhilft, daß deren Verwendung als Geschäftsmittel sich lohnt, d.h. ihre Vermehrung dem zuständigen Kapitalisten wirkliche Vermehrung eines universell produktiv einsetzbaren Reichtums verbürgt. Dabei liegt es noch nicht einmal an der nationalen Obrigkeit und ihrer Wirtschaftspolitik selbst, ob sie mit ihrer Schuldenmacherei ihr nationales Kreditgeld untauglich macht als Geschäftsmittel ihrer, nationalen Kapitalistengemeinde. Die beurteilt ihren Geschäftserfolg und dessen Beeinträchtigung durch, die staatlich verursachte Geldentwertung nämlich nie bloß am Maßstab des nationalen Geldes - was das betrifft, sind es ja die Unternehmer selber, die durch ihre Preiseihöhungen die Geldentwertung praktisch durchsetzen; insofern haben sie sich im nationalen Rahmen immer schon gegen die Inflation schadlos gehalten. Tatsächlich können die nationalen Pesos oder Cruzeiros ihnen gar nicht das Maß aller Dinge sein, weil der darin repräsentierte Reichtum durch die Konkurrenz in aller Welt - und durch ihren eigenen kosmopolitischen Sachverstand, der Anlagesphären in der ganzen Welt vergleicht - ständig am Kreditgeld anderer Nationen und dessen Geschäftstüchtigkeit gemessen wird. Und dieser Vergleich fällt um so härter gegen den abstrakten Reichtum mit lateinamerikanischem Taufnamen aus, je freier und hoffnungsvoller die Regierung, die ihn garantiert, sich seiner bedient.
Die Gleichung, für deren souveränen Herrn die Regierung sich gehalten und als deren Urheber und Nutznießer sie sich aufgeführt hat, nämlich: Schulden gleich Reichtum, geht in zunehmendem Maße nur noch für das Kreditgeld fremder, konkurrierender Souveräne auf - an das eben deswegen nur zu immer schlechteren Bedingungen überhaupt noch heranzukommen ist. Dieselbe internationale Konkurrenz, deren ruinöse Wirkungen die nationale Staatsgewalt mit der wirtschaftspolitischen Ausnutzung ihrer Souveränität über das nationale Geld zu begegnen sucht, blamiert diese Versuche als einen Idealismus, der wiederum nur genau andersherum materielles Gewicht bekommt: Der unaufhaltsame, mit jeder Sanierungsmaßnahme doch wieder beschleunigte Niedergang der nationalen - Ökonomie ist ja die Wirkung des überlegenen Interesses auswärtiger Konkurrenten an profitablen Geschäftsbeziehungen mit diesem Land, also an seinen Liefermöglichkeiten und seiner Zahlungsfähigkeit, und in diesem Interesse liegt, gerade weil es so ruinös wirkt, auch wieder eine ökonomische Chance, die die zuständigen Potentaten allesamt sehr entschlossen - manchen Präsidenten, etwa Peron, hat sein Widerstreben dagegen das Amt gekostet! - ergriffen haben. Diese Chance heißt: Durchgreifende Effektivierung des nationalen Geschäftslebens und Ausbeutungswesens durch ausländischen Kredit in seinen verschiedensten Formen.
Die Folgen dieser großzügigen "Kapitalhilfe" sind inzwischen unübersehbar und allgemein bekannt: Staaten wie Argentinien, Brasilien oder auch Mexiko - das sich eine ganze Epoche später als die beiden großen südamerikanischen Mächte durch die Erlöse aus dem neu aufgemachten Ölgeschäft in den Rang einer konkurrenzfähigen "Industrienation" zu katapultieren gedachte - haben auf diesem "Entwicklungsweg" Auslandsschulden in solcher Höhe akkumuliert, daß ihre gesamten Exporteinnahmen, von Außenhandelsüberschüssen gar nicht erst zu reden, kaum noch ausreichen, um den Schuldendienst abzuwickeln. So gründlich diese Länder auch mit geliehenen Mitteln zum Zweck einer konkurrenzfähigen Nationalökonomie umgepflügt worden sind: auch mit fremdem Kapital ist das Großprojekt eines nach Weltmaßstäben lohnenden Geschäftslebens ein zwar regierungsamtlicher, aber ein Wunschtraum geblieben. Alle Staatsgewalt kann eben nicht verhindern, daß all das schöne Auslandskapital, für den Erwerb internationaler Konkurrenzfähigkeit verausgabt, sich genauso wie die Investitionen mit einheimisch verdienten oder geliehenen Cruzeiros und Pesos über kurz oder lang als -"nur" vergleichsweise, aber darauf kommt es eben an! - unproduktiv verausgabt erweist und nichts hinterläßt als Zahlungsverpflichtungen des nationalen Gesamtkapitalisten, denen keine rentablen Kapitalanlagen und überhaupt keine neu erschlossenen Einnahmequellen gegenüberstehen. So machen die zuständigen Regierungen, mit ihrer glanzvollen Hoheit über das Wirtschaftsleben der Nation von ihrem Idealismus des Aufbaus und Fortschritts immer nur das eine wahr, daß sie alles, was ihr Reich inzwischen zu bieten hat: Arbeitskraft und Bodenschätze, landwirtschaftliche Nutzfläche und Industrien, Staatsschulden und Staatseinnahmen, quasi als Vergleichs- oder Konkursmasse in ihre Dauerauseinandersetzung mit ihren ausländischen Gläubigern einbringen. Die ihrerseits haben schon längst nicht mehr nur, wie noch vor ein oder zwei Jahrzehnten zu Beginn dieser Epoche gedeihlicher "internationaler Zusammenarbeit", das Interesse, sich einen Zugriff auf die ökonomischen Potenzen solcher "Schwellenländer" zu verschaffen und eine aussichtsreiche Anlagesphäre zu sichern. Die Kreditwürdigkeit, die Brasilien, Argentinien u.a. längst verloren haben, erhalten ihre Kreditgeber durch neue Kredite aufrecht, nicht um der Staaten, geschweige denn ihrer Bewohner willen, sondern weil andernfalls auf die kapitalistische Bankenwelt des Westens unzumutbare Abschreibungen zukämen. In ihrem gesamten Geld- und Zahlungswesen - und das betrifft schließlich nicht bloß eines unter vielen ökonomischen "Instrumenten", sondern den Reichtum ganzer Nationen in der Form, in der er einzig und allein zählt, für ihn selbst wie für seine Gläubiger! - sind Lateinamerikas Großstaaten dank unermüdlicher "Entwicklungs"-Bemühungen ihrer Regierungen beim Status einer Unterabteilung i n den Geschäftskalkulationen des freiheitlich-demokratischen Bankwesens angelangt. Die Souveränität über das nationale Kreditgeld wird in dieser Situation ökonomisch vollends zur Farce; sie erstreckt sich ihrem ganzen Inhalt nach auf die Übernahme und Durchsetzung all der Vorschriften - des IWF, der Weltbank, "befreundeter" Regierungen, engagierter Gläubigergemeinschaften etc. - über einen forcierten nationalen Ausverkauf, mit dem die Gläubiger sich noch nach Kräften schadlos zu halten suchen.
Den Ambitionen der nationalen Souveräne, eine auch materiell wohlgegründete Sphäre weltweit respektabler nationaler Machtvollkommenheit aufzubauen, tut diese harte Wahrheit ihres ökonomischen Entwicklungsidealismus allerdings keinen Abbruch - wie auch: um nichts als dieser Ambitionen willen haben sie ihr Land ja so zielstrebig für das ökonomische Unternehmen hergerichtet, das ihnen selbst immerzu nicht gelingen will, so daß sie zu den größten "Sorgenkindern" der auswärtigen Nutznießer dieser Politik geworden sind: Schulden in wirklichen Reichtum und respektable Macht zu verwandeln. Daß der so angestrebte ökonomische Erfolg zunehmend zu wünschen übrig läßt, ist für sie daher nur ein Grund mehr, auf die anerkannte Bedeutung ihrer Nation jenseits der Sphäre der Ökonomie umso größeren Wert zu legen. Aufrüstung betreiben sie alle, auch wenn von materiellen Interessen jenseits der eigenen Grenzen, um deretwillen fremde Souveräne unter Druck zu setzen wären, kaum von erklärten Feinden gegen die eine nationale Verteidigung zu organisieren wäre, noch weniger die Rede sein kann. Die Wahrheit, daß ohne militärische Gewalt der Rang eines berücksichtigenswerten Mitglieds der Staatenfamilie auf alle Fälle nicht zu haben ist, wird auch in Südamerika sachgerecht verstanden. Sogar einen kleinen Krieg gegen das wichtigste ökonomische "Partner"-, nämlich Gläubigerland Großbritannien ist Argentinien der Versuch eines Beweises wert, daß es als regionale Macht weit mehr darstellt, als seinen defizitären Auslandsbankkonten anzusehen ist. Dafür hat Argentiniens Niederlage allerdings auch mehr klargestellt als eine Binsenweisheit über die internationalen Kräfteverhältnisse. Der Verlauf und das blamable Ende der Auseinandersetzung haben die gesamie Aktion als Spekulation entlarvt: darauf nämlich, daß die Führungsmacht der westlichen Hemisphäre auf ihren Vasallen in Buenos Aires aus aktualisierten strategischen Erwägungen heraus genügend Wert legen würde, um die Annexion der Malvinas auch gegen den wichtigsten NATO-Verbündeten abzusichern. Mit der amerikanischen Priorität zugunsten Großbritanniens war die Sache politisch gegen Argentinien entschieden, noch ehe die britische Task Force sie auch militärisch geregelt hatte. Mit all seiner militärischen Pracht steht diese Nation also gar nicht grundsätzlich anders da als mit ihrer Ökonomie: Ihr ständig praktizierter Idealismus einer Souveränität, die sich aus eigener Machtvollkommenheit ihre weltpolitischen Erfolge verschafft, wird tatsächlich nur so weit wahr, wie imperialistische Interessen sie benützen.
Kokospalmen und Ölquellen unter nationaler Selbstverwaltung
Der Standpunkt des Feilbietens an fremde Interessen, zu dem traditionsreiche Herrschaftsgebilde der westlichen wie der östlichen Hemisphäre erst - einmal hingebracht werden und sich hinarbeiten mußten und sich im Laufe des letzten Jahrzehnts auch machtvoll hinbewegt haben! -, dieser Standpunkt hat andere Potentaten, mit oder ohne vorbürgerliche Vergangenheit überhaupt erst in den Rang politischer Souveräne befördert. Auf irgendeiner politischen Weltkarte sind ihre Länder überhaupt bloß aufgetaucht als Gegenstände eines Interesses der Aktivisten weltweiten Geschäfts und weltweiter Gewalt: Gegenstände ohne irgendeine politische Identität, und eines Interesses an Siedlungsraum, Bodenschätzen, landwirtschaftlichen Exotika oder auch nur an einer Komplettierung gewisser Bastionen und Verbindungslinien von einiger, womöglich bloß potentieller strategischer Bedeutung. Menschenleer waren diese Regionen zwar nie; und auch vorpolitische Stammesherrschaften gehörten allemal mit zum Inventar. Die blieben aber nur Herren, soweit die neue, ferne Herrschaft sie als ihre Büttel benutzte; und die "Urbevölkerung" kam nie anders, in Betracht denn als Reservoir an Lohn- oder wirklichen Sklaven, als völkerkundliche Schaustücke oder als Störung. Mit der Entlassung der von den Kolonialmächten geschaffenen Ländereien in die politische Unabhängigkeit - aktiv betrieben von den europäisch gebildeten Handlangern der Kolonialherren, wahr geworden durch innerimperialistische Konkurrenzen und antiimperialistische Machenschaften der Sowjetunion - hat sich an diesem materiellen Verhältnis nichts geändert: an ökonomisch relevanten Interessen haben sie nichts aufzuweisen als diejenigen, deren Objekt sie sind. Hinzugekommen ist allerdings der "Entwicklungs"-Idealismus von Souveränen, die dieses Verhaltnis für den "Aufstieg" ihrer Staatsgewalt zu einem erfolgreichen Partner und Kontrahenten der alten und neuen Führungsmächte des Weltgeschehens auszunutzen suchen - mit unterschiedlichem Erfolg je nach den materiellen Voraussetzungen, aber stets nach demselben Prinzip.
Die berühmt-berüchtigten Ölscheichs
haben viele Petrodollars gemacht mit dem interessanten Untergrund ihrer Einöden; eine Zeitlang. Doch erstens traf sie daran wirklich nie ein Verdienst - außer dem einen, daß eben sie es waren, die die Souveränität über ihr Land; ein bürgerliches Machtmonopol in seiner abstraktesten Bedeutung, nämlich als exklusive Zuständigkeit für ein weitgehend leeres Land, von den europäischen Kolonialmächten geerbt haben. Es ist und bleibt eine politische Rente, die sie für einen natürlichen Rohstoff einstreichen, mit dessen ökonomischem Wert sie ansonsten, außer durch ihre Teilhabe daran, schlechterdings nichts zu schaffen haben. Sicher, im Feilschen darum, wie viele Dollars pro Barrel Öl ihre politische Zuständigkeit für dessen reibungslosen Abtransport wert ist, sind sie Könner. Den ökonomischen Spielraum fürs Feilschen haben aber in keiner Hinsicht sie selbst sich eröffnet. Er ergibt sich aus dem Monopolpreis, den die großen Ölkonzeme an den Märkten der kapitalistischen Abnehmernationen durchsetzen, und zwar seit jeher, durch alle Modifikationen und Preissteigerungen hindurch, nach dem immer gleichen Prinzip: niedrig genug, um jede Menge absetzen zu können, und hoch genug, um mit dee Beischaffung jedes einzelnen Liters der absetzbaren Menge auch noch bei den höchsten Gestehungskosten ihr Geschäft zu machen. Die Verstaatlichung der Ölquellen, die die zuständigen Souveräne den Ölgesellschaften abgerungen haben, hat an diesem ökonomischen Verhältnis so wenig geändert, daß jeder noch so marginale Überschuß an unverkauftem Öl sofort auf den Preis durchschlägt - nicht auf den der vielbeschworenen Kundschaft am Heizöltank, sondern auf den Abgabepreis der Förderländer.
Und so wenig die Scheichs und ihre Kollegen in aller Welt die Herren des Ölpreises sind, so wenig verfügen sie auch - zweitens - über die kapitalistische "Kunst", das angesammelte Geld zu produktivem, sich vermehrendem Reichtum zu machen. In den ölfördernden Wüstenländern fehlt dafür alles, von einem einheimischen Proletariat angefangen über einen nationalen Produktionsapparat bis zu einem Markt, auf dem die Produkte sich wieder in Geld verwandeln. Und wenn das alles importiert werden muß - wobei die Unkosten für Gastarbeiter noch den geringsten Posten ausmachen -, bleibt schon allein deswegen die Rentabilität wieder auf der Strecke. Zur wirklich rentablen Kapitalanlage werden die schönen Petrodollars wieder nur in ihren Herkunftsländern, soweit ihre Besitzer sich damit also in den Akkumulationsprozeß der kapitalistischen Nationen einkaufen - übrigens ohne Interesse daran, aber auch ohne Aussichten darauf, es von dort jemals wieder abziehen zu können. Der Reichtum der Ölstaaten bleibt auf diese Weise seiner Natur nach privat; er ist nicht das Material einer nationalen Wirtschaftspolitik, mit der ein Souverän sich zum Herrn und Nutznießer einer gesellschaftlichen Reichtumsproduktion macht, sondern so lange ein toter Schatz, wie er nicht wieder in die Hände ausländischer Kapitalisten gelangt.
Seine politische Verwendung findet er noch im Ankauf der Waffen, die die Herrscher ölexportierender Nationen genauso wie alle ihre Kollegen für unentbehrlich halten als letzten Grund und Ausweis ihrer wirklichen Autonomie. Dabei brauchen sie sich über den materiellen Zweck und Nutzen ihres militärischen Gewaltapparats genausowenig eigene Gedanken zu machen wie über die Ausbildung ihrer Soldaten und die Verstärkungen im Ernstfall: Ihr Interesse, sich als Öllieferländer zu erhalten - und sonst sind sie ja nichts! -, fällt genauestens zusammen mit dem zweifachen Interesse des Westens, über zuverlässige Öllieferanten und über hochgerüstete vorgeschobene Bastionen und Stützpunkte in aller Welt zu verfügen. Umgekehrt bleibt die "wirkliche" antiwestliche Autonomie, die eine Figur wie Libyens Gadafi sich mit seiner Militärmacht herausnimmt, genau so lange bestehen, genau so lange aber auch ohne jeden materiellen Inhalt und Zweck, wie da kein Vorposten des sowjetischen Antiimperialismus entsteht - kein Wunder, daß die regierungsamtlichen Zweckbestimmungen der libyschen Nation und ihrer souveränen Macht denn auch mehr in den Gefilden heiliger Bücher und einem daraus abgeleiteten oder jedenfalls dorthin wieder zurückzuführenden Idealismus einer Vereinigung der arabischen Staaten liegt.
- Die Gewaltherrscher der anderen afrikanischen Ex-Kolonien
stellen insofern den Normalfall von Ölscheichs dar, als sie das Geld gar nicht erst haben, das im Bereich ihrer souveränen Zuständigkeit ja ohnehin keine konkurrenzfähige Anlagemöglichkeit als produktives Kapital auftut. Von den unterschiedlichen Interessen, die die paar Nationen mit weltumspannenden materiellen Anliegen und Bedürfnissen an exotischen Staatswesen nehmen, bleibt in ihrem Fall bisweilen nur noch das sehr prinzipielle und abstrakte an der Existenz einer gewaltsamen Zuständigkeit überhaupt für eine - ansonsten nutzlose Region übrig, durch die zumindest das eine gewährleistet sein soll, daß der weltpolitische Gegner sich auch dort nicht einnistet. Die Souveränität, mit der die einschlägigen Gewalthaber diplomatisch als die Gebieter über Kupferminen, Kakaoplantagen und eine Armee auftreten, ist da ansonsten ohne jeden materiellen Inhalt - was ihrer idealistischen Selbstherrlichkeit aber auch nicht weiter schadet. Sie gerät zu einer Sorte Willkür, auch was den Einsatz bewaffneter Untertanen gegen genauso glanzvolle Nachbarn betrifft, die frei ist sogar noch von der Spekulation auf die Chance, der eigenen Nation eine größere Aufmerksamkeit seitens der maßgeblichen Mächte zuzuwenden. Für letztere sind die beständig anfallenden staatlich produzierten Leichen sowieso nur dann von Interesse, wenn sie sich für eine Beschuldigung der kubanischen Armee oder ihres sowjetischen Auftraggebers eignen; ansonsten stellen sie allemal den billigsten Teil an den faux frais einer bis in den letzten Winkel gelungenen Weltherrschaft dar.
"Demokratie und Menschenrechte" - drittweltstaatlich
Die Vielfalt staatsidealistischer Variationen über das immer gleiche Thema: Dienstbarkeit für die Belange einer Weltherrschaft, deren Urheber und Nutznießer Kapital und Staatsgewalt einiger anderer Nationen sind, als Geschäftsgrundlage eines staatlichen Materialismus, diese trostlose Vielfalt ist mit den angedeuteten - Beispielen noch lange nicht erschöpft. Liebenswerte Varianten sind in der Produktenpalette des demokratischen Imperialismus allerdings auch andernorts schwerlich zu finden. Und das nicht etwa insofern, als die Staatswesen der "Dritten Welt" es mit "Menschenrechten" und demokratischen Umgangsformen nicht so genau nehmen. Dieser Maßstab wird ja nicht einmal von professionellen Demokraten ernst genommen. Die Verachtung, mit der eine demokratische Öffentlichkeit die brutalen Manieren und den wenig freiheitlichen Nationalstolz manches Verbündeten kommentiert, geht allemal einher mit einem fachkundigen Verständnis für gute oder schlechte Notwendigkeiten, aus denen es dortzu lande anders gar nicht zugehen kann, soll nicht am Ende alles nur noch schlimmer werden und womöglich der Kommunismus siegen. Ungeschminkte Berichte über die Greueltaten mittelamerikanischer Gorilla-Regimes mit US-Auftrag oder auch der von Vietnam vertriebenen alten Pol-Pot-Regierung in Kambodscha führen deswegen auch keineswegs zu einem öffentlichen Erschrecken über die Selbstverständlichkeit, mit der bundesdeutsche Außenpolitiker gegen den "vietnamesischen Imperialismus" geifern und auf der alleinigen völkerrechtlichen Legitimität des "Steinzeitkommunisten" von gestern bestehen, oder über die Gelassenheit, mit der da über die Zukunft ganzer Kleinstaaaten befunden wird - sobald der Bürgerkrieg erst einmal "zu Ende" ist. Wenn ein demokratischer Kommentator sich im Namen der "Menschenrechte" bis zu dem Ideal versteigt, ein verbündeter Gewalthaber sollte seine Untertanen, zumindest die notorisch "unschuldigen" "Frauen, Kinder und Greise" besser am Leben lassen, dann bleibt er den gemeinten Maßstab und Gesichtspunkt seiner Kritik selten schuldig: Böses Blut könnte es geben, wenn mit dem Abschlachten weiterhin so hemmungslos fortgefahren wird; mit solchen Verfahrensweisen schade das Regime am Ende bloß sich selbst. Außer bei erklärten Gegnern der imperialistischen Weltordnung, den paar regierenden Kommunisten vor allem, haben demokratische Kritiker bei all ihrer geheuchelten Empörung ja doch immer etwas viel Handfesteres im Sinn als ihren heißgeliebten demokratischen Zirkus, nämlich die Stabilität und Effektivität des jeweiligen auswärtigen Vorpostens der Weltwirtschafts- und "Weltfriedensordnung". Und wenn schon Berufsdemokraten so urteilen: weshalb sollte dann ausgerechnet ein Untertan im Reich der Freiheit, dem doch die mustergültig verwirklichte Demokratie selbst praktisch gar nicht besonders gut bekommt, deren Ideale - die hierzulande fast schon als subversiv gelten! - zum Beurteilungsmaßstab aüswärtiger Staaten machen?
Tatsächlich kommen die Spezialformen politischer Brutalität, mit denen die Regenten der "Dritten" Staatenwelt sich so auffällig empfehlen, ohnehin nicht dadurch zustande, daß sie selber so auserlesene Sadisten wären oder - dies dasselbe Urteil in "verständnisvoller" Wendung - in schwierigen Zeiten über ein so unhandliches Volk zu herrschen hätten. Brutal ist ihre Herrschaft gerade darin und dadurch, daß sie allesamt in der praktisch entscheidenden Hinsicht dem Vorbild der Demokratien nach besten Kräften nacheifern, nämlich genauso großzügig, problemlos und effektiv mit ihrem Volk wollen umspringen können, - wie sie das beispielsweise am Mutterland der "deutschen Wertarbeit", die ihren einheimischen Maschinenbau ruiniert, oder am Vaterland der Fallschirmspringerbrigade, die mit anarchistischen Unruhen in einer ihrer Hauptprovinzen schneller fertig wird als ihre gesamte eigene Volksarmee, so bewundern. Denn eins stellt sich bei ihren entsprechenden Versuchen noch allemal heraus: In Ländern wie Brasilien läßt sich durch freie Wahlen nun einmal nicht das politische Eldorado freiwilligen Gehorsams und staatsbürgerlicher Pflichterfüllung herkriegen, in dem bundesdeutsche Staatsmänner sich so wohlfühlen; geschweige denn in afrikanischen Staaten mit 80-prozentiger Analphabetenquote durch eine freie Presse und Parteienpluralismus oder in China durch die Einrichtung eines bürgerlichen Rechtswesens mit regulärem Instanzenweg und einem obersten Verfassungsgericht. Und das aus einem sehr einfachen Grund. Schließlich sind auch in der BRD und ähnlichen Staaten die demokratischen Verlaufsformen der nationalen Gewalt nicht der Grund dafür, daß das politische und Arbeitsleben läuft wie geschmiert. Fortschrittliche kapitalistische Staaten zeichnen sich dadurch aus, daß in ihnen das alltägliche Arbeitsleben, die ganz normale Beschaffung des Lebensunterhalts, die materielle Seite politischer Pflichterfüllung, den Arbeits-"Dienst an der Nation" per se mit einschließt. In dieser permanenten praktischen Nötigung, dem eigenen Staatswesen zu nützen, hat der explizit politische Ansfruch, sich auch noch ein konstruktives Urteil über den Gang der Politik zu bilden und dieses in Wahlen bei den selbstherrlichen Kontrolleuren der nationalen Macht abzuliefern, zwar keinen guten, aber einen praktisch wirksamen materiellen Grund. Und genau daran fehlt es in den Staaten der "Dritten Welt" - d a ß e s daran fehlt, in unterschiedlicher Weise und unterschiedlichem Maß, macht geradezu den Inhalt der blödsinnigen Abstraktion "Dritte Welt" aus. Die Dienste, die in Ländern wie Brasilien oder auch Argentinien und sogar demnächst in China von den Volksmassen oder auch bloß Teilen des Volkes in Fabriken und Kasernen geleistet werden, sind allemal nur höchst bedingterweise lohnende Dienste fürs "Vaterland", abhängig nämlich davon, ob inwiefern und wie die Gläubigerstaaten und militärischen Weltmächte einen solchen Nutzen überhaupt zustande kommen lassen, weil erst einmal sie davon den Nutzen haben. Deswegen kommt es auch umgekehrt nie dazu, daß die nationale Gewalt dort ihr Volk so vollständig als Menschenmaterial zu einem für sie lohnenden Einsatz mobilisiert, wie das in den Weltwirtschaftsmächten der Fall ist, die bekanntlich sogar ihren Menschenüberschuß, die Entlassenen und Dauerarbeitslosen, registrieren und den Pauperismus ordentlich verwalten. Die alltägliche Brutalität einer funktionierenden Klassengesellschaft, daß der Lebensunterhalt der nationalen Arbeiterklasse mit ihrer profitbringenden Ausbeutung grundsätzlich zusammenfällt, rangiert in solchen Ländern als wirtschaftspolitisches Ideal - sofern die ökonomische Nutzlosigkeit der einheimischen Bevölkerung nicht von vornherein als ausgemachte Sache gilt, so daß eine ärmliche Selbstversorgung mit vormodernen Mitteln zum kompensatorischen Ideal mitten in einer Staatenwelt aufrückt, die alle vormodernen Lebensverhältnisse, selbst im tiefsten afrikanischen Busch, längst gründlich ruiniert hat. Und wo der aus den Arrangements einer ordentlichen Klassengesellschaft erwachsende "stumme Zwang", sich zweckdienlich untertänig und "verantwortungsbewußt" aufzuführen, immer nur als Projekt existiert, da bedarf der staatsbürgerliche Gehorsam auch einer etwas anderen Pflege als in den Musterländern der üblen Nachrede und der freiwilligen Selbstkonttolle. Wie die Armut der Massen, so ist dort auch die Gewalt, die sie kontrolliert, um einiges weniger funktional, also hemmungsloser in ihrer Willkür und frei von dem bürgerlichen Vorbehalt, sie müsse sich ihr Zuschlagen immer zuvor in allgemeinen Gesetzen erlaubt haben. Das Wegräumen "störender Elemente" - störend in den seltensten Fällen, weil ein paar Leute um ihres Überlebens willen Widerstand leisten; meist weil sie das Pech haben, irgendeinem Entwicklungsvorhaben ihrer Regierung im Wege zu stehen - ist dort, wo sich der Idealismus der "Volkskraft" mit seiner Beimischung von sozialistischer Rückrhtnahme verliert oder nie bestanden hat, das meist blutige Äquivalent für die disziplinierenden Wirkungen durchgesetzter Lohnarbeit. Eindeutig zu beantworten ist nur die überflüssige Frage, welche Form staatlicher Ordnungsgewalt spektakulärer ist...
Nationalismus fürs Volk
Auch in den Diktaturen der "Dritten Welt" treibt das Wirken der Staatsgewalt die Untertanen keineswegs von selbst in den Widerstand, geschweige denn in eine Opposition gegen den Nationalismus, den die Obrigkeit so unerbittlich praktiziert. So viel "Respekt" hat noch der blutigste Gorilla vor seinem Volk, daß er es an seiner "Sicht der Dinge" beteiligen, für die "nationale Sache", so wie er sie definiert, einnehmen will - dem so ähnlich, wie das die Demokratien so vorbildlich beherrschen. Daß die Untertanen bekannt und vertraut gemacht werden mit ihrer Herrschaft, das halten die Staatsmänner in der "Dritten Welt" wie in der "Ersten Welt" für unbedingt erforderlich; und das geschieht überall nach demselben Muster. Bilder von der Obrigkeit werden den Menschen vorgezeigt und vorgeführt, in Amtsstuben und auf Münzen und Briefmarken, auf Wahlplakaten oder in Form von Denkmälern, im Fernsehen und in Wochenschauen; und die übermitteln im afrikanischen Busch oder in Teheran im Prinzip dieselbe Lüge wie in Hamburg und im Bayerischen Wald: die Botschaft "Wie menschlich ist doch meine Herrschaft!" Allemal wird mit der puren aufdringlichen Vorstellung des Personals der Herrschaft der Schein erzeugt, auf die Figuren an der Spitze käme es, wofür auch immer, ganz ungeheuer an, und so für die Herrschaft selbst geworben als ein ungemein schwieriges und kostbares Ding, das nur den bedeutendsten Persönlichkeiten an vertraut werden dürfe; deswegen findet andererseits aber auch nirgends eine Überprüfung des vorgeführten Personals der Macht statt: vorgeführt wurden sie zum Zwecke der Bewunderung als Figuren, die umgekehrt durch die Wichtigkeit ihres Amtes persönlich geadelt werden. Allen ihren Nachahmern hat die Demokratie hierin aber einen entscheidenden Vorteil voraus. Sie bringt an ihren Bürgern Freiheit als die Gewohnheit hervor, sich in der Auswahl von gleichgültigen Alternativen innerhalb der ihnen vorgegebenen klassengesellschaftlichen Verhältnisse als deren ideelle Urheber aufzuführen. So hat selbst noch die Bestellung politischer Herren die Verlaufsform, daß den Untertanen das Urteil abverlangt wird, welche der verschie denen konkurrierenden Figuren ihnen ganz persönlich die liebste wäre. Der Aberglaube an die Menschlichkeit der politischen Gewalt und die persönliche Bedeutsamkeit des Gewalthabers geht auf diese Weise gleich in die Besetzung der höchsten Ämter konstitutiv mit ein; die Bereitschaft des Volkes mitzumachen ist ja schon zu Beginn einer Amtszeit festgestellt und unwiderruflich abgesegnet. Wo dagegen nicht schon die praktischen Nötigungen einer fertig eingerichteten kapitalistischen Arbeitswelt für einen pflichtgemäßen Gebrauch der staatsbürgerlichen Freiheit sorgen, da entfällt auch sofort das staatliche Vertrauen auf den Untertan als konstruktiv gesonnenen Wähler, auf die Zuverlässigkeit seiner Illusion, Schiedsinstanz der politischen Konkurrenz zu sein, und damit die demokratische Auswahl selbst. Auf die zuverlässige Bereitschaft zum Mitmachen kommt es den undemokratischen Machthabern deswegen aber nicht weniger an. Soweit sie die Schaustellung ihrer gewichtigen Persönlichkeit auf Wahlplakaten scheuen, legen sie um so mehr Wert auf Denkmäler und denkmalsähnliche Auftritte vor dem Volk. Zu Wahlkampfzwecken mischen auch demokratische Politiker sich von der Prominententribüne aus in sämtliche Volksbelustigungen ein; ihre Kollegen aus der "Dritten Welt" befinden es ohne Wahlkämpfe für nötig, ihrem Volk eigens Festlichkeiten zu inszenieren, um sich dort huldvoll zu dessen Vergnügungen herabzuneigen, so auf den eigenen Rang aufmerksam zu machen und für die Elementargleichung staatsbürgerlicher Botmäßigkeit zu werben, daß der stärkere Wille auch der höhere sei. Das Fähnchenschwingen nimmt einen ziemlich großen Raum im öffentlichen Leben ein, eben weil die Zustimmung zur Amtsgewalt in der Person ihres Inhabers sich nicht schon zu Beginn ihrer Amtszeit in einer freien Wahl als unwiderrufliche Ermächtigung betätigt hat. Die Unterscheidung zwischen sich als Person und ihrem Amt, so wie die demokratische Konkurrenz sie mit Vorteil für beide Seiten, das Amt wie das Personal, organisiert, trauen sie ihrem Volk nicht zu; Kritik ist daher verboten - doch mögen auch Diktatoren den sozialfriedensfördernden Nutzen des Meckerns nicht missen: Ganz ohne institutionalisierte Arbeitsteilung der Herrschaft fingieren sie eine Gewaltenteilung innerhalb der eigenen Person und empfehlen sich ihren Untertanen zugleich als höchste Beschwerdeinstanz mit einem weiten Herzen für alle Erniedrigten und Beleidigten.
Fürs Gemüt der Bürger wird also auch in der "Dritten" Staatenwelt einiges getan von den Obrigkeiten. Der kosmopolitische Weitblick des Staatsbürgers imperialistischer Nationen, der als Tourist womöglich schon am Mittelmeer war, geht den einfachen chinesischen und brasilianischen Volksgenossen zwar sicher ab. In den unteren Rängen der großen Völkerfamilie, wo womöglich die Sprache gar keinen Ausdruck für die heutzutage maßgeblichen Abstraktionen Staat, Kapital, Nation und Bürger bereithält - außer blumigen Umschreibungen, ist vielleicht sogar einer Mehrheit ihre eigene Nationalität ganz unbekannt, weil sie sich aus dem ökonomisch längst zerstörten Stammeszusammenhang weltanschaulich noch gar nicht herausgearbeitet hat. Wenn der Mensch aber dahin kommt, sich mit den Verhältnissen, in denen er kaum überlebt, auf dem Niveau aber auch ein paar Chancen hat, theoretisch bekannt zu machen, dann hat die Regierung ihm ihre maßgeblichen Deutungen immer schon längst zugestellt. Sie hat ihren Massen das größte Fußballstadion der Welt spendiert; wenn es schon eine nationale Schlagerkultur gibt, dann werden nicht die psychologischen Selbstzweifel eines demokratisch verdorbenen Virtuosen der Selbstkontrolle besungen, sondern all die Schönheiten der Nation, Küste, Gebirge, Frauen, Sonne usw., in deren Genuß der Hörer nie gelangt; und für jede Vorstellung von der Welt ist das nationale Personalpronomen schlechthin, das "Wir", zuständig. Das Elend mag zum Himmel stinken wie es will - auf die Propagierung der nationalistischen Gleichung für den Gebrauch des Untertanen verzichtet keine Regierung: Wem n i e überhaupt eine andere Würdigung seiner Person zuteil wird als die höchst abstrakte im Namen der Nationalität, der soll das gefälligst als Würdigung seiner Person nehmen!
Und wenn dieser Schwindel - dank seiner praktischen "Überzeugungskraft" - sogar bei den gebildeten Ständen europäischer Kulturnationen auf bedingungslose Zustimmung stößt: wieso sollten ausgerechnet die auswärtigen Opfer der demokratischen Weltherrschaftsordnung sich den Trost dieses verrückten Selbstbewußtseins versagen?
P.S. Die nationalen "Revolutionen",
an deren emanzipatorische Potenzen und antiimperialistische Tragweite noch vor einem halben Jahrzehnt mancher kritische Intellektuelle geglaubt hat, haben immer nur falschen Hoffnungen Nahrung gegeben; heutzutage lassen sich selbst die nur gegen besseres Wissen noch aufrechterhalten. Zu offenkundig sind Härte und Heimtücke, mit der die imperialistischen Führungsmächte und ihre Kreaturen vor Ort jedem Verzweiflungsakt, jedem Volksaufruhr und erst recht den zwei oder drei abweichenden Staatsexperimenten eine blutige Rechnung nach der anderen präsentieren, von Mittelamerika bis Palästina. Ebensowenig sind Mißverständnisse über die perfiden Berechnungen in den "Hilfsangeboten" möglich, mit denen konkurrierende imperialistische Mittelmächte oder sogar Abgesandte des Hauptfeinds selbst den Opfern kommen.