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Dieser Artikel ist in der MSZ 1-1983 erschienen.
Literaturnobelpreis für Gabriel Garcia Marquez
HUNDERT JAHRE EINSAMKEIT?
Alljährlich verleiht die Schwedische Akademie der Schönen Künste den Literatur-Nobelpreis an Dichter für deren "ungewöhnliche literarische Qualitäten". Dabei achtet das Komitee sehr auf die ausgeglichene Verteilung dieser Qualitäten über den ganzen Globus. Erhielt vor 2 Jahren ein gewisser Milosz aus Polen, letztes Jahr ein Österreicher den Preis, so war es nur gerecht, daß heuer wieder einmal ein Schriftsteller aus einer entfernteren, "schwer durchschaubaren" Weltgegend an die Reihe kam.
Folglich signalisierten die Preisrichter bereits geraume Zeit vor der offiziellen Bekanntgabe des Preisträgers, daß ein Schriftsteller, der auf dem lateinamerikanischen Subkontinent beheimatet ist, sich reelle Chancen ausrechnen könnte, mit "literarischen Qualitäten" ausgestattet zu werden.
Fündig wurden sie bei einem Exil-Kolumbianer, der sein Dichterdasein ständig auf der Flucht vor "totalitären Regimes" unter erschwerten Bedingungen ausüben muß, was sein Opus geradezu prädestiniert, in den Rang eines "unübertroffenen Ausdrucks" lateinameiikanischer Wirklichkeit erhoben zu werden. Flugs wurde seinen Histörchen und Anekdoten über hodenbrüchige Diktatoren, die so einsam sind, weil ihnen niemand Briefe schreibt, die Volksaufstände provozieren, weil sie alle Häuser partout blau anstreichen wollen, eine höchst eigene Art von "Subversivität" attestiert. Diese liebevollen und einfühlsamen Schilderungen gelten als "realistische Beschreibung lateinamerikanischer Wirklichkeit".
Während im revolutionären Aufruf der "Declaracion de La Habana 1962" verkündet wurde:
- "Die lateiaamerikanischen Völker haben angefangen, Geschichte zu machen." -
steht heute fest, daß sie ein wunderbares Material für Geschichten abgeben.
Eine große Weltliteratur isf entstanden, auch und gerade weil die dort einheimischen Massen nicht lesen können und andere Sorgen haben als ein gutes Buch. Wenn die Europäer stolz sind auf ihre Geschichte, Kultur und Lebensart, dann haben die Lateinamerikaner ein Recht auf Stolz. Man braucht nicht einmal viel Phantasie, um auch den kolumbianischen Bürgerkrieg in ein farbenprächtiges Romangemälde zu verwandeln. Wo man ohne die Deutung eines Marquez nur blindwütiges Gemetzel um die Macht zwischen "Roten" und "Blauen" vermuten könnte, steckt hinter den Toten und Gemarterten nichts weniger als die Herausbildung einer authentischen kolumbianischen Identität. Das Schlimme an hundert Jahren südamerikanischer Geschichte sind also nicht die Toten, Hungernden und Verfolgten; wirklich ungerecht ist die ausbleibende Anerkennung durch die "I. Welt". Über "Hundert Jahre Einsamkeit" beklagt sich Garcia Marquez an die 500 Seiten lang und sein Ruf ward erhört: Übersetzungen in 24 Sprachen, Preise und Ehrungen jede Menge für ihn als literarischen Repräsentanten seines Subkontinents. Und auch die Welt des Kapitals hält die Kommunikation mit modernsten Mitteln aufrecht: Drei Mal täglich überprüfen die Banken der imperialistischen Metropolen den Stand des Geldverkehrs bei ihren südamerikanischen Schuldnern.
Daß diese lateinamerikanische Welt "ungerecht" und brutal ist, ist heute ein sehr langweiliges Urteil und falsch noch dazu; richtiggestellt durch Autoren wie Garcia Marquez: Es handelt sich in Wirklichkeit um eine Welt voll ungeahnter und noch ungehobener geistiger Schätze, ein literarisches El Dorado für den imperialistischen Weltgeist! Man darf sich seinen literarischen Genuß nicht durch das Elend vermasseln lassen, im Gegenteil: Gerade die verzweifelte Kunst des Überlebens der "Erniedrigten und Beleidigten" ist das pittoreske Material für diesen Genuß; die Machenschaften und Tricks der Herrschaft Stoff für poetische Psychoanalysen komplexer Charaktere, die weit mehr darstellen als brutale Gorillas, zumal sie an ihrer eigenen Herrschaft leiden und ihre Gewalt gegen die Armen und Rechtlosen mit zahlreichen, akribisch ausgemalten Deformationen der eigenen Individualität bezahlen müssen. Gelesen werden die Bücher des Garcia Marquez selbstverständlich weder von den einen, denen seine Solidarität gilt, noch von den anderen, denen er viel Verständnis entgegenbringt. Das Publikum dieser Romane sind drüben wie hier intellektuelle Genießer, die mit der Lektüre den Opfern ihre Reverenz erweisen und von der persönlichen Tragik der Täter ergriffen sind.
Gerade weil Garcia Marquez Literatur nicht zum politischen Sprachrohr degradiert - so die Dialektik hiesiger Kulturbetrachter -, ist er so "subversiv": Seine Geschichten vermitteln mit unbändiger Vorstellungskraft Einblicke in das "rückständige" und doch so "schillernde" Wesen dortiger Eingeborener. Anläßlich der Ehrung des G.G. Marquez erging sich so der demokratisch geschliffene Verstand in schwärmerischen Rezensionen über die "Mentalität" der Bewohner dieses Landstrichs. So wird einerseits die Karl May-Romantik in den Romanen Marquez' herablassend goutiert als "stagnierende Zeit", also als "Rückstäodigkeit" dortiger Zivilisation, über die sich geschmäcklerisch die Nase rümpfen läßt. Andererseits macht die zur Natur dieser Leute erklärte Ausgelassnheit und Wildheit diese "Exoten" zu interessanten Kulturträgern und bestätigt zugleich den Stolz über die eigene Zivilisiertheit.
Als wollte Marquez diesen modernen Rassismus bekräftigen, verkündigte er in seiner Rede anläßlich der Preisveileihung voller Stolz, daß er zu Recht zu dem Kulturdeppen geadelt wurde, der die "gespenstige Wirklichkeit" Lateinamerikas aus tiefem Herzen aufs Papier fließen läßt: Natürlich gehören Kriege, Elend und Unterdrückung zu "unserer Wirklichkeit". Das wollte er allerdings nicht einfach als Kritik an den dartigen Zuständen verstanden wissen. Im Gegenteil: Marquez rührte seine Zuhörer damit, daß diese Wirklichkeit,
"die eine Quelle unersättlicher Schöpferkraft voller Unglück und Schönheit speist",
nicht nur hervorragendes Material für seine poetischen Ergüsse sei, sondern das ganze Volk großartig antörnt:
"Dichter und Bettler, Musiker und Propheten, Krieger und Bösewichte, die wir alle Geschöpfe dieser Wirklichkeit sind, müssen die Einbildungskraft kaum bemühen..."
Auf einen Mißstand bei dem Genuß seiner Romane wollte Marquez allerdings schon hingewiesen haben: Wenn Lateinamerika mit "Schädigungen des Lebens", die Spitzenmaterial für den Dichter abgeben, "von der Geschichte" reichlich gesegnet ist, dann darf es sich ein einheimischer Literat nicht nehmen lassen, selbst, ganz authentisch, über die eigene "Identität" zu berichten. Andernfalls, so die Sorge des Dichters, können die Europäer nicht verstehen, was sie an den Lateinamerikanern haben und leisten dieser Weltgegend den Bärendienst, daß sie sich selbst immer weniger kennt und darüber schließlich in Trauer versinkt. Also sollten die Europäer bedenken,
"daß die Schäden des Lebens nicht für alle gleich sind und daß für uns die Suche nach der eigenen Identität ebensn hart uad blutig ist, wie es für sie war. Die Deutung unserer Wirklichkeit mit Hilfe fremder Schemata trägt nur dazu bei, uns immer unbekannter, immer unfreier, immer einsamer zu machen."
Während sich die '"europäische Seele" nach blutigen Kriegen zu einer korrekten "nationalen Identität" emporgearbeitet hat und sich in aller Seelenruhe auf die Dritte Große Schlacht vorbereitet, tappt die "lateinamerikanische Seele" noch im Dunkeln: "Erkenne dich selbst!" ruft der Colonel Aureliano Buendia in "Hundert Jahre Einsamkeit", gequält von "fremden Ideologien". Aber die Lateinamerikaner werden es schon noch schaffen, so wie es die Europäer geschafft haben. Dazu brauchen sie jedoch die Anerkennung des alten Kulturkontinents. Die Suche muß sich lohnen, zumindest für diejenigen, die, wie Garcia Marquez, fündig geworden sind.
Also, Wikinger, von Uppsala, schafft ein, zwei, viele Nobel-Latinos! Und wenn ein Garcia Robles amtierender Friedensnobelpreis ist, ein Garcia Marquez den Literaturnobelpreis bekommt, dann ist der Wunsch jenes bolivianischen Intellektuellen nur allzu verständlich, der für Garcia Meza, den letzten "einsamen" Diktator Boliviens, den Nobelpreis für Chemie gefordert hat. Denn, "oh schwer durchschaubare und phantastische lateinamerikanische Wirklichkeit", hat er doch den bolivianischen Peso in Scheiße verwandelt...