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Dieser Artikel ist in der MSZ 1-1983 erschienen.

Nationale Tradition
GESCHICHTE FÜR DEUTSCHLAND

"Ökonomischer Riese und politischer Zwerg" - so schmeichelte sich das öffentliche Bewußtsein in den 70er Jahren. Mittlerweile ist man als flotter Juniorpartner der Weltmacht Nr. 1 als "Dolmetscher" zwischen Washington und Moskau unterwegs, und die trotz "Krise" unangefochtene ökonomische Weltmachtgeltung verlangt vehement nach einer Ausschmückung ihrer politischen Macht mit einer vorzeigbaren historischen Kontinuität. Das demokratische Vaterland bestellt bei seinen öffentlichen Skribenten Geschichte und Tradition.

Eine Rezension des 1982 erschienenen Buches von Helge Pross "Was ist heute deutsch?" faßt dessen skeptische Quintessenz wie folgt zusammen:

"In der materialistisch gewordenen Bundesrepublik besteht ein geistiges Vakuum. Breite Mehrheiten neigen zwar auch in anderen Völkern dazu, materiellen Bedürfnissen und persönlichen Interessen den Vorrang zu geben. Dort aber hält die Idee der Nation als übergeordnete, Verzichte legitimierende und sinngebende Einheit diese Tendenzen in Schach. Im Unterschied dazu basiert die Bundesrepublik nicht auf einer Idee der Nation: 'Sie hat keine die Gefühle erreichende Idee.' Diese kritische Bemerkung über die gegenwärtige politische Kultur hört man in letzter Zeit auffallend häufig."

Die Tradition der Bundesrepublik - eine Mangelware?

Die ganz aktuelle Variante einer "kritischen Bemerkung" in diesem Sinne durfte H. Jaenecke im "Stern" 1/83 unter dem geschichtsträchtigen Titel "Die zweite Stunde Null" als offizielle Stern-Deutung der gegenwärtigen Situation der BRD und der für sie als anstehend konstatierten "Bewährungsprobe" liefern. Roter Faden seiner pessimistischen Diagnose ist die Rede von der "Identitätsschwäche der BRD" und dem "Gefühl tiefer Schutzlosigkeit und Verlassenheit, ein deutsches Trauma nicht erst seit 1945", das aber gegenwärtig erst seine ganze Gefährlichkeit zeige.

"In den Zeiten der Prosperität war es überdeckt von der dünnwandigen Sicherheit, die materieller Erfolg und Wohlstand verleihen. Doch je mehr sich diese Sicherheit verflüchtigt, desto deutlicher tritt eine spezifische Schwäche der Bundesrepublik hervor. Ihr fehlt jener psychologische Wetterschutz, den intakte, historisch gewachsene Staaten besitzen: eine über den reinen Zweckverband hinausreichende Identität, ein kollektives Bewußtsein von Einheit, Aufgehobenheit, Zugehörigkeit, Kontinuität - etwas, das sich nicht künstlich herstellen läßt."

Als furchtbarstes Beispiel für diesen unheilschwangeren Mangel an nationaler Identität weiß der Seher von einem kürzlich in der Evangelischen Akademie in Tutzing abgehaltenen Forum zu berichten, auf dem doch tatsächlich

"mit großer Leidenschaft die Frage diskutiert wurde: Gibt es überhaupt ein deutsches Volk?"

Hatten "die Deutschen" schon immer ein besonderes Problem mit sich als der "verspäteten Nation" - England und Frankreich tun sich da angeblich so viel leichter mit gewachsenem demokratischen bzw. mit revolutionär erkämpftem Nationalbewußtsein -, so ist diese über Jahrhunderte hinweg begründete deutsche Macke "mit der deutschen Teilung und der Gründung der BRD als bloßem Provisorium" gleich noch einmal als "Geburtsfehler" auf die Welt gekommen.

"Beide Staaten" (die DDR natürlich auch!) "sind historische Verlegenheitslösungen, und in beiden Staaten ist das Bewußtsein von historischer Kontinuität abgerissen, in Westdeutschland noch mehr als im Osten."

Und da auch die "Idee der Demokratie", die ein Identitätsbewußtsein eventueil hätte schaffen können, als

"ein Geschenk der Sieger von der Masse der Bevölkerung (nur) als eine Art Trostpreis entgegengenommen"

wurde, ist die Zustimmung zu ihr "vor allem pragmatisch und nicht idealistisch begründet", kann also das nicht leisten, woran es den Deutschen angeblich so bedrohlich gebricht: an der aus Herz und Bauch kommenden ideellen Liebe zu ihrem Staat. Dabei - so offenbar die einhellige Überzeugung dieser Propheten - war sie nie nötiger als heute,

"die Idee der Nation als übergeordnete, Verzichte legitimierende und sinngebende Einheit."

Zwar gibt es Beobachter der Szene, die dem "pragmatischen Konsens" der Bundesdeutschen und der Abwesenheit einer "affektiven Leidenschaft für die politische Ordnung" auch Positives, abgewinnen, wie sie umgekehrt

"die Sehnsucht nach eindeutiger Identität des Ganzen, jene Hoffnung auf die glanzvolle Idee, die alle politischen Beschwernisse überstrahlen könnte", im Auge behalten wissen wollen, weil sie "fragwürdige Traditionsbestände der deutschen Geschichte wieder verlebendigen könnte".

Doch herrscht selbstverständlich unter diesen Patrioten der BRD die Überzeugung vor, daß das leider und gleich mehrfach - Faschismus und (!) Teilung - abgerissene "Bewußtsein von historischer Kontinuität in Deutschland" mit allen dafür nur irgend aktivierbaren Traditionselementen deutscher Geschichte an die Vergangenheit anzuknüpfen ist, weil der "Mangel an ideellem Kitt" sonst

"Frustrationen schafft, die die Bundesrepublik eines Tages ebenso wie die Republik von Weimar, wenn auch auf ganz andere Weise, zu einem mit sich selbst zerfallenen Land machen könnten."

So die Heuchelei eines Liebhabers der starken wehrhaften demokratischen BRD, die sich ständig dafür lobt, nicht Weimar zu sein.

Mehr davon - es gibt sie doch!

Der Preußen-Boom von 79-81 (siehe dazu ausführlich MSZ 4/80) war eine erste Welle dieser Reaktivierung nationaler Traditionen, die vordem eher als nicht ganz koscher bzw. sogar als offiziell zu eliminieren galt (Kontrollratsbeschluß vom 25.2.47). Sicher kein Zufall, daß im Herbst des vergangenen Jahres ein sechsbändiges Geschichtswerk zu erscheinen begonnen hat mit dem zeitgemäßen Titel "Die Deutschen und ihre Nation" (Werbe-Slogan: "Seit Jahrzehnten die erste Nationalgeschichte"), das seine Traditionsbelebung mit dem Jahr 1763 beginnen läßt, einem Kerndatum der preußischen Geschichte. Seit dem in diesem Jahr geschlossenen Frieden von Hubertusburg, der den 2. Schlesischen Krieg, ein reines Annexionsunternehmen Preußens, beendete, ist Friedrich II. ein auch für die demokratische Nation BRD vorbildlicher König: Nach innen entwickelt er sein Reich zum effektivsten Beamtenstaat Evropas, nach außen treibt er weiter Machtpolitik, kommt dabei aber bis ans Ende seiner Tage ohne neuerlichen Krieg aus. Wie die Titelfrage dieses ersten Bandes - er behandelt den Zeitraum bis 1820, also bis zum Rückfall in die sog. Restauration - "Fürstenstaat oder Bürgernation" - beantwortet werden wird, ist auch nicht schwer zu erraten. Der aufgeklärte Monarch hat die Bürgernation, die damals als fortschrittlicher Wunschtraum einiger weniger erst zu ahnen war und heute BRD heißt, mit überlegenem Weitblick, aber auch mit der patriarchalischen Strenge, die staatlicher Gewalt niemals fehlen sollte, und sogar mit militärischer Disziplin auf den richtigen Weg gebracht; zu der Überzeugung nämlich, ohne die sie den langwierigen und beschwerlichen Weg bis heute gar nicht hätte zurücklegen können, daß die Bürger dieser Nation um des preußischen Staates willen alle an einem Strang zu ziehen hätten und daM diese Überzeugung sich in der Praktizierung der sprichwörtlich preußischen Tugenden wie Treue, Gehorsam und Pflichterfüllung niederzuschlagen habe.

Daß diese Phase nationaler Tradition auch ihre Schattenseiten hatte - Kadavergehorsam und Militarismus gehören zum Preußenimage wie Friedrichs "Ich bin der erste Diener meines Staates" -, gilt - als erledigt und daher ungefährlich einerseits durch die und nach der in Bezug auf ihre Mitschuld an der "deutschen Katastrophe" gelaufenen Preußendebatte der vergangenen dreißig Jahre, andererseits durch die intakte "politische Kultur" eben jenes deutschen Staatsprovisoriums, das das nationale Selbstbewußtsein seiner Bürger durch den - im positiven wie im negativen Sinne - lebendigen Bezug auf seine staatlichen Vorläufer mit mehr Substanz ausstatten will.

Nach demselb en Muster verfahren alle wiederbelebenden Begutachtungen nationaler Tradition, wobei zur Zeit, entsprechend der aktuellen nationalen Lage und Stimmung, die Elemente besonders herausgestrichen werden, die das Nationale, das Einheitlich-Gemeinschaftliche, Vaterländische betonen.