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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1982 erschienen.

Politologen-, Historiker- und Germanistentage
WENN DIE WISSENSCHAFT IHRE TAGE KRIEGT

Nach den Sommerferien, dann wird die deutsche Professorenschaft reiselustig. So auch dieses Jahr: Es trafen sich die Soziologen, die Politologen, Historiker und Germanisten.

Wie immer machen wir es uns in puncto Wissenschaft zu leicht, wenn wir behaupten, daß den Anreisenden außer Hotelrechnungen keine geistigen Unkosten entstanden sind. Schließlich leugnen wir glatt die Pflicht zur freien Betägigung des Verstandes und halten die Würdigungen, mit der z.B. FAZ und SZ die Ergebnisse der diversen Kongresse einer intellektuellen Öffentlichkeit vorstellten, für ein gerechtes Urteil: Sie sind kulturelle Ereignisse, die sich im Feuilleton ihren Platz mit der Kunstaktion "Pflanzt deutsche Eichen in die Landschaft!" von J. Beuys teilen müssen.

Wenn sich ein Kongreßteilnehmer im Anreiseort geirrt hätte, umsonst wäre seine Reise nicht gewesen, denn im Problem der heutigen Wissenschaft waren sich die versammelten Fächer ganz unisono einig. Ob Politologen, Germanisten oder Historiker, allen ist ihr Fach abhanden gekommen, und die Suche nach den Wegen zur Suche wollte als absurde Leistung gewürdigt sein: Trotz aller Gewißheit über den Verlust eines Gegenstandes vier Tage weiter nach ihm gesucht und diese Suche weiter beredet.

Wo das Selbstverständnis baden gegangen, da ist auch der Sinnverlust nicht fern. Ob Soziologen behaupten, der Soziologie "gehe die Arbeit aus", ob Germanisten bescheidener darauf hinweisen, daß dem Staat heute weniger an Lehrerstudenten gelegen ist, ob Politologen bekennen, sie könnten sich heute nur noch durchwursteln - und dies einem Reagan und Kohl als Huldigung vor die Füße legen, indem sie die Maßnahmen dieser Politiker zu einer "muddling-through-Politik" erklären - oder ob Historiker die Phantasie "Was wäre gewesen, wenn..." als Vehikel nehmen, um den entschwundenen Fakten nachzujagen: Immerzu weiden sich Sinnsucher an der proklamierten Ohnmacht ihres Treibens, ohne den Krempel hinzuwerfen.

Daß die "Wirklichkeit" ihnen nicht wohl will, diese Klage war allen abgelaufenen Tagen gemeinsam. Sie "sperrt sich" einfach gegen die untertänigen Bemühungen, ihr in aller wissenschaftlichen Bescheidenheit einen Sinn zu verpassen. Damit war der Realitätstüchtigkeit bereits Genüge getan und es konnte zum eigentlich schätzenswerten Problem geschritten werden: der Wissenschaft, deren "Begriffe nicht mehr greifen" - die geistigen Müllmänner der Nation kriegen keine Wirklichkeit mehr auf ihre Begriffsschaufel. Noch schlimmer: Im Zeichen der Knappheit gehen ihnen auch noch die Begriffe aus - und kein geistiges Neckermann-Versandhaus weit und breit, das diesen Mangel abstellt.

Umso wichtiger, in diesem Bemühen der Wissenschaft nicht nachzulassen. Denn die Behauptung, Denken sei heute - und müsse sein - wahnhaft, unnütz und überflüssig, ist ein Hochmut besonderer Sorte. Wenn wir als bezahlte geistige Elite der Nation schon nicht wissen können, wo's heute lang geht, wie mag's dann erst in der Wirklichkeit aussehen! Mit diesem Schluß verabschiedet sich Wissenschaft heute von jedem Anspruch, sich noch ein Urteil über die Welt außer ihr anzumaßen, setzt sich unter den Verdacht, sie distanziere sich von den Maßnahmen der Politiker, des Staates und der Wirtschaft, wenn sie sich nur noch mit sich selbst beschäftigt, um diesen Verdacht entschieden zu dementieren - dementsprechend selbstversponnen und dienstwillig fallen ihre Aussagen aus.

Wahn, politologisch

Fast möchte man meinen, selbst Politologen könnten noch merken, was es mit ihrem Gegenstand Staat auf sich hat, wenn ein Referent sich gegen die "naive" Lobhudelei vom Staat als besorgtem Problemlöser all dessen, womit wir, die Gesellschaft, ihn ständig behelligen, wendet.

"Es gibt ein etwas naives Verständnis von Politik, das partiell auch in der politischen Bildung kolportiert wird, demzufolge Politik eben gesellschaftliche Probleme zu lösen hat. Die politische Problemproduktion selbst, also das hier artikulierte Wechselverhältnis, gerät dabei leicht außer Sicht."

Ein Auftakt zur Frage nach Grund und Zweck jener staatlichen Problemproduktion, mit der er die Haushalte seiner Bürger verschuldet, steht freilich nicht zu erwarten. Der Staat hat nicht nur Probleme, er macht auch welche, will der Politologe sagen der Problemfall Staat ist nicht naiv einfach zu würdigen. Noch dazu kommen sich die Problemebenen wechselseitig in die Wolle und der Staat sich selbst zwischen beiden in die Quere: "Das Zerhackungssystem der bürokratischen Apparate" tut den Rest, um den Staat nicht mit sich selbst zusammenkommen zu lassen. Ohne auch nur eine Aussage darüber, wie der Staat denn nun mit der ihm nachgewiesenen ziemlichen Unmöglichkeit seiner Existenz fertig wird, und ohne mehr als viermal "Problem" gesagt zu haben, war die feste Grundlage des Politologenkongresses errichtet. Auf ihr konnte das stolze Selbstbewußtsein des Faches ausgemalt werden, daß Politologen sich mit dem Problemfall Nr. 1 in der Welt beschäftigen. Alles, was auch Politologen der Zeitung entnehmen, wurde zu "Spannungsfeldern", "gestörten Beziehungsmustern" und "verlorenem Steuerungspotential" ausgewalzt. Zur Ignoranz über alles, was westliche Politiker im Augenblick sehr problemlos und unbehindert durchsetzen, gesellte sich die Lust, doch noch einen funkelnagelneuen Begriff dafür gefunden zu haben;

Ja wenn man sich die gewaltsame Existenz des Staates erst einmal überhaupt wegdenkt, dann ist dieser doch tatsächlich gezwungen, in einem "bargaining-Prozeß " mit seinen Bürgern zu feilschen: zwei Pfund Umweltschutz gegen vier Kilo Raketen.

Den Erfolg des Kongresses sicherte Altmeister Ellwein, der seinen Kollegen drei Worte zum politologischen Wuchern nach Hause mitgab: Staat ist "Ohnmacht aus Übermacht". Und das heißt für die Politologenschar "Abkehr von Parteilichkeit und Dogmatismus und Hinwendung zur pragmatischen Bescheidenheit" - aber dieser Auftrag versteht sich für sie von selbst.

Wahn, historisch

Die in Münster versammelten Historiker stellten sich einem neuen Anspruch: "Nur wer das Mögliche denke, könne das Wirkliche erkennen". Um letzteres kann es bei der "Auslotung von Handlungsspielräumen in der Geschichte" nicht gegangen sein. Schließlich ist zumindest die Kenntnis der historischen Fakten unterstellt, wenn man sie als ärgerliche Schranken für die freie Spekulation betrachtet, in der man - von ihnen nicht mehr behindert - sie in aparte und originelle Sichtweisen taucht. Von wegen 'weniger oder mehr': "Wer Handlungsspielräume untersucht, fragt weniger, wie es eigentlich gewesen, als vielmehr danach, wie es hätte sein können" - die Erfindung von "Möglichkeiten jenseits der Wirklichkeit" hieß die Parole: Historiker durch die Faktizität der Geschichte zu bestimmten Urteilen über sie vergewaltigt, diesen Anschlag auf das freie Denken galt es abzuwehren. "Warum war Deutschland nicht England?" - ja warum nur?

So einfach drauflos spintisieren nach Kinderherz und -laune verbietet sich freilich für deutsche Professoren, die noch ihre Phantasie, mit der sie sich von jeder Realität verabschieden, unter die Verantwortung für die Geschichte gestellt sehen wollen. Ausgerechnet die bloße Spekulation des "was wäre gewesen, wenn..." soll einer methodischen Kontrolle fähig sein, damit die "Geschichte im Optativ" den Auftrag bewältigt, weder "beim sturen Determinismus Halt zu suchen, noch sich in der vagen Spekulation zu verlieren". Wünsche an die Geschichte mit Niveau, Kontrolle und Verantwortung vorzutragen, diesen Beweis, wozu Wissenschaft heute fähig ist, diese "Gratwanderung" sollen die Historiker "sicher und mit beträchtlichem Erfolg bewältigt haben" - meint der FAZ-Kommentar.

Handlungsanleitung für dieses Handlungsspiel bot der herbeigeholte Soziologe Lepsius. Er beseitigte das "Gegeneinander von Struktur und Person" durch den "vermittelnden Begriff des Prozesses". Und so durch die Prämisse 'Geschichte ist Veränderung' methodisch verantwortlich kontrolliert, war dem Phantasieren über "den deutschen Sonderweg" der feste Rahmen abgesteckt und mögliche Aussagen über diesen möglich: "Alle Geschichte ist eine Geschichte von Sonderwegen, aber einige sind noch besonderer als andere".

Daß Heiterkeit nicht ausbricht, wenn sich Professoren dumm stellen, dafür sorgt freilich die Verantwortung für die Geschichte, wegen der sie sich kindisch aufführen. Das ganze Erfinden von Möglichkeiten eines anderen Geschichtsablaufs, wenn's anders abgelaufen wäre, verdankt sich eben nur einem einzigen Zweck, einem absolut grundlosen, aber um so unbedingteren Einverständnis mit dem Lauf der Welt: Unter den möglichen Möglichkeiten ist die Möglichkeit, die wirklich geworden ist, unschlagbar. Der Gegenpol zur Spekulation "was wäre gewesen, wenn..." ist das Bekenntnis: Es mußte so kommen, wie es gekommen ist. Die Begrüßung all dessen, was staatliche Gewalt an Geschichtsdaten wie Kriegen anrichtet, ersetzt jede Untersuchung der damit verfolgten Zwecke. "Langfristig waren die globalen Ziele der beiden Großmächte unvereinbar, der kalte Krieg also unvermeidlich". Die pure Existenz des amerikanischen Staatswillens, einen Staat wie die UdSSR nicht neben sich dulden zu wollen, ist doch guter Grund genug, und dafür stehen die Liebhaber der Geschichte ein. Bei so viel Devotion wurde den Teilnehmern nichts Neues von ihrem Vorsitzenden gesagt: "Die Beschäftigung mit den Handlungsspielräumen sei dazu geeignet, leichtfertiges und anmaßendes Verhalten zu bekämpfen".

Wahn, germanistisch

Kaum schottet der Staat seine Schulen vor den akademisch ausgebildeten Lehrerstudenten ab und reduziert damit drastisch die Zahl der Studenten, die sich für künftigen Deutschunterricht an der Universität ausbilden wollen, schon reden die Professoren dieses Fachs, denen Studenten, die sich nur wegen der Schule mit Literatur befassen, ein Greuel sind, nur noch von der Sinnkrise, in der sie stecken.

"Bei den vielfältigen Klagen über all das geht es m mehr als bloße Stellenpolitik, es geht für jeden Einzelnen um den Sinnverlust der wissenschaftlichen Tätigkeit, in der Lehre und in der Forschung".

So der Auftakt des Germanistentags, der seine Lösung schon in sich beinhaltete. Die Problematisierung ihrer gesellschaftlichen Brauchbarkeit war bei Literaturwissenschaftlern ja noch nie etwas anderes als die Behauptung ihrer Unentbehrlichkeit: Wer sollte auch, wo es um "Sinnverlust" geht, zuständiger sein als diejenigen, deren staatlich finanzierter Beruf es ist, den Sinnangeboten der Literatur jeweils die Würde historischer Notwendigkeit zu verleihen.

Und jetzt soll dies nicht mehr verfangen, weil, wie ein Teilnehmer behauptete, zur Zeit alle Kollegen um eine zeitgemäße Bewältigung der historischen Materie bemüht wären, aber über keinerlei schlüssige "Perspektive" verfügten? Für Germanisten ergibt sich doch allenfalls, diese Feststellung in einen eindrücklichen Appell an eine höhere Instanz zu fassen: "Wir wissen nicht mehr, was wir meinen oder meinen sollen in Bezug auf Literaturgeschichte und Gegenwart". Dem Mangel, als germanistische Leerstelle noch keiner Bestimmung durch den Zeitgeist teilhaftig geworden zu sein, versprach der Referent dann wenigstens vorläufig von sich aus abzuhelfen durch eine demonstrativ gutwillige "Mimesis des Suchens und vielleicht des Findens".

Daß die Anbiederung an das Ideal der Funktionalität für den jeweiligen historischen Zweck die Interpretenmannschaft erst so recht wohlig im Lob ihres Gegenstandes versinken läßt, war Botschaft Nr. 2 des Germanistentags. Ein Referat über "Biographie zwischen Kunst und Wissenschaft" ging von der Feststellung aus, daß sich Literaten vom hermeneutischen Unsinn der siebziger Jahre haben befruchten lassen und in ihren künstlerischen Biographien über Mozart, Hölderlin u.a. die verfügbaren Quellen von vornherein nur dazu benutzt haben, "Gegenwartserfahrungen nach hinten in die Vergangenheit hinein zu vollziehen". Begeistert von solch literaturwissenschaftlich inspirierter Praxis der Dichter schlug der Referent vor, diese nun wieder umgekehrt für die Wissenschaft fruchtbar zu machen. Weit entfernt davon, von der Geschichtswissenschaft noch eine Erklärung der Geschichte zu verlangen, forderte er, die Geschichte als eine "Vielfalt von Möglichkeiten" aufzufassen, d.h. sich wie die Literaten auf sie als eine pure Fiktion zu beziehen. Zur Beglaubigung seiner Erfindungen bedürfe er zwar des obligaten Hangs zur Empirie, vor allem aber gewisser dichterischer Fähigkeiten wie "Phantasie und Imagination", sowie "normativer und narrativer Fähigkeiten". Denn das einzige Argument, mit dem Dichter sonst ihre Vorstellungen von der Welt für gültig erklären, die Form, soll nun auch für den Literaturwissenschaftler als Beweis seiner Wahrheiten gelten. "Die Historie ist adäquat nur zu erkennen, wenn erzählerisch repräsentiert."

Die Germanistik hat also die vom Historikertag aufgeworfene rhetorische Frage entschieden mit ja beantwortet. Der Offenheit dieser Wissenschaft für alles Mögliche - entspricht die Gier, ihre Sinndeutungen durch eine gesellschaftlich sanktionierte "Perspektive" verbindlich zu machen. Wie sie, programmatisch und radikal, jede historische Erscheinung und jedes Kunstwerk zu einer Funktion des Zeitgeistes erklärt, folgt sie selbst dienstfertig jeder seiner Wendungen.

Deshalb war dem Kongreß nichts leichter, als die einst so hochgehaltenen Werte der klassischen Literatur "Emanzipation" und "Mündigkeit" für überholt zu erklären, weil sie, ganz im Gegensatz zu den Anforderungen unserer Zeit, das "Ich" in seiner selbstischen "Unersättlichkeit" allzusehr betonten.

Statt die Erfüllung individueller Ansprüche gegebenenfalls auch gegen die Gesellschaft für möglich zu erklären - wenn auch nur im Ideal -, käme es heute darauf an, "mehr soziale Werte" zu berücksichtigen. Ein Mehr an "sozialen Werten" ist vom Interpreten gefordert: Nicht mehr "Ordnung" solle es heißen, sondern "Sorgfalt", nicht mehr "Disziplin", sondern "Hilfsbereitschaft", nicht mehr "Fleiß", sondern "Hingabe", nicht mehr "Leistung", sondern "Intensität des sich Einlassens".

Die ganze Unbescheidenheit des Interpreten ist also gefordert für eine Interpretation zur Bescheidenheit, die das Lob der Pflicht zu einem Lob der Neigung ausmalt.