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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1982 erschienen.

Systematik


WAHLEN IN BRASILIEN

"Ordem e progresso" = Ordnung und Fortschritt. (Motto im Wappen der Vereinigten Staaten von Brasilien)

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Die vom amtierenden Staatspräsidenten General Figueiredo angeführte Mehrheitsfraktion des seit 20 Jahren herrschenden Militärs hat sich entschlossen, zur Absicherung ihrer Macht und in der Auseinandersetzung mit den konkurrierenden Gruppen innerhalb der herrschenden Klasse des Landes Demokratie zu wagen. Das Wagnis hielt sich allerdings in den Grenzen eines Wahlrechts, dessen Spezifika fürs gewünschte Ergebnis sorgten. So errang die Regierungspartei die absolute Mehrheit im Parlament und im Wahlmännergremium für die nächsten Präsidentschaftswahlen. Auch die 9 Gouverneursposten für die Opposition gehen in Ordnung: Sie werden von einer Partei gestellt, die durch eine von oben verordnete "Spaltung" der alten Staatspartei von den Militärs selbst geschaffen worden ist.

Unangenehm, wenn auch von den Ausrichtern der Wahl vorhergesehen und miteinkalkuliert, ist nur der Sieg Leonel Brizolas und seiner "Demokratischen Arbeiterpartei" im Bundesstaat Rio de Janeiro (vorausgesetzt, die dritte Nachzählung der Auszählung sorgt nicht doch noch für ein anderes Ergebnis!). Die herrschenden Militärs haben nicht vergessen, daß Brizola 1964 beim Militärputsch als Inhaber des eben wieder errungenen Amtes die Massen gegen die Generäle mobilisieren wollte. Damit die Wahlen 1982 eine hinreichend überzeugende Demonstration für die Legitimität des Regimes würden, hatte man die Behörden angewiesen, einer Rückkehr Brizolas aus dem 15jährigen Exil nichts in den Weg zu legen. Daß man allerdings auch nicht daran denkt, sich jetzt von ihm irgend etwas in den Weg stellen zu lassen, machte General Euclydes Figueiredo, Befehlshaber von Amazonien und Bruder des Präsidenten, nach Bekanntwerden von Brizolas Sieg in einer Erklärung deutlich, die auch einiges über den "demokratischen Prozeß" in Brasilien klarstellt:

"So eine Kröte muß man schlucken, verdauen und im richtigen Augenblick wieder ausstoßen." (Süddeutsche Zeitung, 24. November)

Daß Brizolas PTD ebenso wie die anderen linken Oppositionsparteien von regionalen Schwerpunkten abgesehen national nichts ausrichten können, dafür sorgen die Bestimmungen des vom Militär erarbeiteten Wahlrechts, das 1. Analphabeten vom Wählen ausschließt (macht schon die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung und die große Mehrheit der speziellen Anhängerschaft von "Volkstribunen" wie Brizola und den paulistischen Gewerkschaftsführer "Lula" aus), 2. Den sogenannten Halbalphabeten, die allein ihren Namen schreiben können, die Verpflichtung auferlegt, bis zu 40 Namen lesen können zu müssen, um gültig wählen zu können und das 3. überhaupt nur Parteien zuläßt, die auf allen Ebenen und in allen Bundesstaaten komplette Listen vorlegen. Dies macht es neben den organisatorischen Schwierigkeiten für Parteien, die erst 1 Jahr vom dem Wahltag erlaubt worden sind, problematisch, überhaupt genügend Kandidaten zu finden und dies nicht wegen ihrer Mitgliederschwäche: Nur zu gut sind noch die Maßnahmen der Militärs nach dem Putsch von 1964 bekannt, wo alle auf linken Listen aufgeführten Namen auf eine "schwarze Liste" kamen und einem abgestuften System von Repressalien unterworfen wurden: vom Berufsverbot über die Zwangsexilierung bis hin zur Verhaftung, zum "ungeklärten" Verschwinden reichten die Maßnahmen, mit denen eine komplette Politikergarnitur aus dem öffentlichen Leben eliminiert wurde. Der starke Zweifel, ob die Militärs Brizolas Ankündigung - "Wir werden die Militärs ermuntern, zu ihren normalen Funktionen zurückzukehren." - von diesen im Sinne des Redners aufgefaßt wird und nicht umgekehrt bei einem Entgleiten des "demokratischen Prozesses" sich Fraktionen im Militär durchsetzen, die zur funktionellen Normalität staatlichen Terrors zurückkehren, diese nicht unrealistische Befürchtung hält die Bereitschaft in Grenzen, sich auf den Listen der diversen "Arbeiterparteien" zu exponieren.

Nicht einmal bei Demokratiefans hierzulande und in Brasilien schon gleich gar nicht konnte der Eindruck aufkommen, daß die von Ex-Präsident Geisel eingeleitete und jetzt von Figueiredo bis zu Wahlen vorangetriebene "Öffnung des Systems" ein Zugeständnis der Herrschaft an brodelnden Unmut im Volke ist, geschweige denn ein Zurückweichen vor staatsgefährdendem Widerstand. Die Ausschreibung von Wahlen wird ganz offen als Idee des "technokratischen Flügels" unter den herrschenden Offizieren verhandelt, durch eine Erweiterung ihrer politischen Basis um demokratische Institutionen und mehr zivile Politiker die "douros" in den eigenen Reihen niederzuhalten, die politische Opposition in die Formen eines konstitionellen Apparats einzubinden und das "Image" Brasiliens gegenüber den internationalen Bündnis- und Handelspartnern aufzupolieren, Gewinne für die Opposition gehören folglich zum Gelingen der Operation Wahlen und ein Wortführer dieser Opposition, der erwähnte Brizola zeigt sich dafür auch erkenntlich:

"Die Geschichte wird ihm (Figueiredo) einen Platz einräumen wegen der Zähigkeit und Festigkeit seiner Haltung."

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Daß die Brasilianer mehrheitlich und hierin geschlossen das Angebot der Militärs begeistert aufgriffen - eine Begeisterung, der mit zalilreichen kleinen Geschenken der konkurrierenden Politiker nachgeholfen wurde: In Brasilien, zumal in den Favelas von Rio und Sao Paolo sind eine kostenlose Schüssel schwarzer Bohnen, ein Glas Rum und ein T-Shirt wirklich ein Wahlgeschenk - führte zu einem Wahlkampf, der Beobachter aus den westlichen Demokratien an die Farben pracht des brasilianischen Karnevals erinnerte. Insgesamt, so der Tenor freiheitlicher Kommentatoren, ein sehr nobles "Zugeständnis" der Generale, die eine Konsultation des Volkes gar nicht nötig gehabt hätten - immerhin sind die Verhältnisse in Brasilien seit dem Militärputsch von 1963 notorisch "stabil". Die angeführten Merkwürdigkeiten brasilianischer Demokratie für die "Probleme" ordentlicher Herrschaft in einem Staat wie Brasilien, andererseits ergehen sie sich in "kenntnisreichen" Schilderungen des "emotionalen Verhältnisses" der brasilianischen Massen "zur Politik", angesichts dessen die Wahl selbst ein "mutiger Schritt" der amtierenden Gorillas und die Modalitäten ihrer Durchführung der "gegenwärtigen Etappe der Demokratisierung" angemessen gewesen sein sollen. Auffallend an solchen, "sachverständigen" Gutachten ist die Selbstverständliclikeit, mit der heutzutage der Demokratie in Brasilien andere Voraussetzungen und damit auch Formen zugestanden werden, die hierzulande als Außerkraftsetzung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gegeißelt würden; andererseits die überhebliche Schilderung exotischer Wahlkampfbräuche aus Rio und Sao Paolo, die den Kanaken wieder einmal ihre "mangelnde Reife" für eine Demokratie nach westlichem Vorbilde hinreibt. Letzteres nichts anders als der Respekt vor der eigenen Herrschaft (und Wahlen in der BRD haben schließlich auch nur die Funktion, die Herrschaft per Stimmzettel zu akklamieren, die solche Tricks nicht nötig hat).

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Was mit und ohne Wahlen, gleichgültig ob schnörkellose Militärdiktatur oder Herrschaft des Militärs mit "demokratischem Prozeß" gewährleistet ist, das bleibt auch nach dem Wahlgang gewiß:

Die "Art und Weise, wie in Brasilien Jahr um Jahr ein immenser Reichtum produziert wird, was dabei die außenwirtschaftlichen Beziehungen vom Lebensmittelexport bis zum Import von Automobilfabriken leisten, wie die politische Verwaltung der brasilianischen Wirtschaft vor sich geht, eben welche tatsächlichen Zwecke und 'Probleme' die Herrschaft dieses Landes hat." (MG, Imperialismus IIl, Resultate, Heft 6, p. 219 f.)

Deshalb kann man getrost die Militärs zu ihrem "Mut" beglückwünschen, ihnen vorhalten, daß sie so mutig doch nicht gewesen sind, wie man sich das für ordentliche Demokraten eigentlich wünscht oder auch das Abschneiden der Opposition als "Schritt auf dem richtigen Weg" begrüßen" bzw. ihr "überraschend gutes" Abschneiden als "Gefährdung" der guten Absichten Figueiredos kritisch registrieren - das alles lebt von der Sicherheit, daß es auf die Spezifika von "ordem" im Brasilien des Imperialismus nicht ankommt, um seinen "progresso" zu gewährleisten.