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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1982 erschienen.

Systematik

21. Deutscher Soziologentag in Bamberg
DIE (UN)VERDROSSENEN SCHAUMSCHLÄGER

Hat man nun etwas versäumt, wenn man den Jahreskongreß der Soziologen wieder einmal als gesellschaftliche Randerscheinung behandelt und nicht zur Kenntnis genommen hat? Das kommt darauf an!

Auf der einen Seite ist es natürlich bedenklich, daß einem so die neuesten Entwicklungen des Kapitalismus entgehen: Nach den Erkenntnissen der Soziologie handelt es sich dabei mittlerweile um eine "Arbeitsgesellschaft", die - wenn sie durch weltweite Arbeitslosenzahlen in Millionenhöhe ihr manifestes Desinteresse an jeder Arbeit beweist, die den Profit nicht vermehrt - zweifellos in einer "Krise" steckt.

Auf der anderen Seite braucht einen dieser absurde Widerspruch aber auch nicht übermäßig zu beunruhigen, geht er doch rein auf "soziologisches Denken" zurück und meldet weiter nichts an als ein Interesse dieser Wissenschaft an "der Arbeit", dessen Notwendigkeit mit einem angeblichen Abgesang seines Gegenstands begründet wird. Wen außer Soziologen sollen solche Erörterungen über die problematische Zukunft der eigenen Liebhaberei eigentlich interessieren?

Selbstzweifel - positiv

Den Zustand ihres Fachs beurteilt niemand verdrießlicher als die Soziologen selbst. Von einem Übergang der Soziologie in "theoretische Schrebergärtnerei", ja eine "Feuilleton-Wissenschaft" (Matthes) war da die Rede; ein "kollektiver Frustrationspiozeß" und ein "schwindender Lustgewinn" bei der Forschungstätigkeit wurde beklagt (Lutz); und bei manch einem der versammelten Wissenschaftler geriet "das unglückliche Selbstbewußtsein der Soziologie" gar "zur persönlichen Trauer" (Jaeggi) angesichts einer Wissenschaft, die - wer hätte das vermutet! - "zigeunerhaft durch die Welt geht".

Wer hält die Soziologen bloß davon ab, ihre offensichtlichen Ideale von den eigentlichen Aufgaben ihrer Theorie in die Tat umzusetzen? Sollen sie doch statt Schrebergärten ordentliche Landschaften entwerfen, die Beziehung zu ihren Arbeiten wieder mehr im erotischen Sinn gestalten und in der "Welt" irgendwo seßhaft werden, statt mit ihren Ideen herumzuzigeunern wie der ewige Jude, jenes Sinnbild des unglücklichen Bewußtseins! Aber das Bedürfnis nach theoretischem Lustgewinn will sich die Orgie seiner Begegnung mit der "Bezugswelt" ja unbedingt schwer vorstellen:

"Die Stagnation auf mittlerem Niveau, die wir heute an uns beobachten müssen" - wenn uns nur mal wieder was Schmissiges einfiele, so ein echter Knaller! - "ist nichts anderes als eine mühsame Balance zwischen dem Omnipotenz-Anspruch, unter den wir uns für das, was wir tun, selber gestellt haben, und der sich ständig wiederhalenden Erfahrung der Impotenz, der wir unter dem Druck dieses Omnipotenz-Anspruchs hilflos ausgesetzt sind." (Wer wird denn auch gleich, noch dazu mit bloßen Theorien, die ganze Welt vögeln wollen?) "Dieser Balanceakt verleiht unserem Tun, unseren Verkehrs- und Diskursformen untereinander" - jetzt leidet der Verkehr auch noch -"und unserem Verhältnis zu unserer Bezugswelt zwangsneurotische Züge." (Matthes)

Diese Zwangsneurotiker! Da halten sie ihre Wissenschaft für eine Frage der Potenz, als ob sie mit ihren Gedanken die Welt aus den Angeln heben könnten; bilden sich noch eine "Erfahrung der Impotenz" ein, als ob selbst blöde Theorien am, Widerstand ihrer Gegenstände scheitern würden; und leiten daraus ab, daß sie einen riskanten "Balanceakt" vollführen, wenn sie anderen ihre halbgaren Erkenntnisse "auf mittlerem Niveau" mitteilen. Was die Soziologen tun - und sie bei solchen Selbstbezichtigungen mitnichten interessiert -, führen sie schlicht als eine Geisteshaltung vor, mit deren "schmerzhaft" zugelegter Bescheidenheit sie die Anmaßung ergänzen, jede Erklärung an den "Ansprüchen" in puncto "Niveau" zu messen, die sie sich von ihr erwarten. Und mit diesem Bekenntnis zu einer doppelten Verantwortlichkeit ihrer Theorie gegenüber ihrem Objekt - das "primär in den Köpfen der Soziologen existiert" (Lutz) und dessen Wirklichkeit deshalb nicht vorsichtig genug beurteilt werden kann - und gegenüber den selbsterfundenen (Jualitätsmaßstäben sollten die wissenschaftlichen Fans ihrer eigenen "Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit" nicht bequem durch das ganze Land kommen? Das wäre ja gelacht!

Weltzweifel - positiv

Die Beiträge zum Leitthema des Kongresses widerlegten denn auch die merkwürdige Befürchtung, einer von Wissen längst emanzipierten Wissenschaft könnte sich die "Substanz ihrer Wissensvorräte verdünnen" (Matthes). Immerhin erhalten - diese Vorräte ihre Substanz erst von Soziologen!

Soziologie ohne "Arbeit"?

- Für einen Mann wie Offe (Bielefeld) liegt das so klar auf der Hand, daß er die Lohnarbeit von vornherein nicht für eine Tatsache, sondern für eine "Schlüsselkategorie" hält, deren "Verläßlichkeit" für die Soziologie in Frage stehe:

"Es ist genau diese makrosoziologische Determinationskraft der sozialen (?) Tatsachen von Lohharbeit und Arbeitsteilung, die heute soziologisch (?) fragwürdig geworden ist."

Diesen Bescheid, daß er in "makrosoziologischer" Hinsicht mit der Ausbeutung nichts mehr anfangen kann bzw. will, wollte Offe dann als "begrifflichen Staatsverlust" und "Implosion der Arbeitskategorie" verstehen. Macht nichts, daß sich bei derartigen Metaphern schlecht was denken läßt und der Soziologie auch "soziologisch" noch kein stabilerer "Begriff" für jenes fragwürdige Tun eingefallen ist, das den proletarischen 10-Stundentag so ganz ohne "Determinationskraft" belebt. Dafür hat Offe sowohl von "internen Differenzierungen " der Arbeit Kenntnis genommen ("In der reflexiven Dienstleistungsarbeit muß Arbeit selbst bearbeitet werden"), als er auch eine "Krise der subjektiven Seite des Berufs" ausmachen konnte ("Die soziokulturelle Verortung ist rückläufig, Arbeit ist nicht mehr als subjektiv sinnvoller Lebenszusammenhang zu rekonstruieren"). Beides ist zwar kein Argument, da die Verschiedenartigkeit von Arbeiten wohl kaum ihrer Identitäi als Lohnarbeit widerspricht und diese als Erpressung von Leistungen nicht den "Sinn" hat, die "Verortung' in einem "Lebenszusammenhang" zustande zu bringen. Macht aber schon wieder nichts, da der Mann der Wissenschaft seine angeblichen Gegenstände nur aufmarschieren ließ, um anhand ihrer "unbrauchbaren Begrifflichkeit" (wenn man natürlich statt der Wirklichkeit die eigenen Fragen und theoretischen Bedürfnisse zum Kriterium - von "Begriffen" macht, gibt "Lohnarbeit" nicht viel her!) zu neuen Ufern vorzustoßen:

"Es fehlt an der ordnenden Begrifflichkeit. Auch insofern besteht Anlaß, weiter zu arbeiten."

Noch nicht einmal Ordnung im Verstand - so läßt sich die Soziologie der Zukunft auch begründen... Andererseits geht es in dieser Wissenschaft, mögen manche ihrer Vertreter in der Abgehobenheit ihrer Problemstellungen noch so oft das Gegenteil behaupten, freilich durchaus ordentlich zu, bloß falsch. Wie bei Offe ersetzt ständig das Interesse jedes Nachdenken darüber, was Sache ist.

Gesellschaft ohne Arbeit?

- Da mögen, wie bei Dahrendorf (London), schon mal unangenehme Wahrheiten über das Verhältnis von Arbeit und Kapital ausgesprochen werden:

"Die Arbeitslosigkeit beruht auf dem Preis der Arbeit (...) Technische Neuerungen werden eingeführt, weil sie billiger sind; und sie sind nicht an sich billiger, sondern nur im Vergleich zum Preis der Arbeit."

Aber der Entschluß, den Kapitalismus ausgerechnet als ein Produktionsverhältnis zu betrachten, in dem die Arbeit den Ton angibt, verdreht den Kostenvergleich des Kapitals in genau die entgegengesetzte Richtung auf einmal sind die Arbeiter daran schuld, daß sie ihren Ausbeutern zu teuer werden:

"Der zunehmende Erfolg der Arbeitnehmer ist daher die treibende Kraft der Arbeitsgesellschaft die am Ende zu ihrer Aufhebung führt."

Und mit der letzteren Perspektive hat sich Dahrendorf seiner ökonomisch verkehrten Erklärung der Arbeitslosigkeit auch schon wieder enthoben, womit ihre soziologische Deutung beginnen kann. Daß unrentable Arbeit überflüssig gemacht wird, soll jetzt dasselbe sein, wie daß der "Arbeitsgesellschaft überhaupt" und in jedem sonst noch möglichen Sinn "die Arbeit ausgeht"; dementsprechend wird aus der Arbeitslosigkeit - ein Symbol:

"Die Arbeitslosigkeit ist nur der sichtbare Ausdruck einer viel weitergehenden Reduktion der Arbeit in modernen Gesellschaften."

Dahinter lauert allerhand Unsichtbares. Etwa, daß die Arbeiterklasse eine "absteigende" sein soll gegenüber der "aufsteigenden Bildungsklasse": daß die Lebensarbeitszeit sinkt; mithin auch die Bereiche von Ausbildung, Arbeit, Freizeit und Ruhestand ("die vier Kästchen des Lebens in der Arbeitsgesellschaft") ihre "prägende Kraft" gegeneinander verlieren; daß manche gar nicht erst arbeiten wollen; und anderes mehr. Ob das denn auch alles stimmt, die Qualität der Ausbildung wirklich die eines "Kästchens" in einem "Lebenszyklus"'ist usw., mag man da schon deshalb nicht fragen, weil es Dahrendorf selbst herzlich egal ist. So unzusammenhängend die herangezogenen Phänomene sind, so sehr interessieren sie ihn ja nur als mögliche Belege einer "inneren Dynamik der Arbeitsgesellschaft", die ihrerseits einem Ideal des Herrn Soziologen entspricht, nämlich der

"Hoffnung, daß Arbeit in zunehmenden Maße durch Tätigkeit ersetzt, zumindest aber von Tätigkeit durchdrungen wird."

Was das nun wieder heißen soll, veranschaulicht ein letztes - charakteristisches? - Beispiel:

"Es ist bedauerlich, daß sich die in alternativen Unternehmen Tätigen gelegentlich darüber beklagen, daß sie nur auf dem Wege der 'Selbstausbeutung' auf die Dauer Erfolg haben können. Das heißt nämlich nur, daß auch sie noch das Vokabular der Arbeitsgesellschaft verwenden."

Tun sie zwar nicht, weil sie damit "nur" die ökonomische Wahrheit ausdrücken, daß man im Kapitalismus nur dann sein eigener Kapitalist sein kann, wenn man zugleich sein eigener Lohnarbeiter ist - einen "Überschuß" also dadurch erwirtschaftet, daß man an den eigenen Lebensmitteln spart und die eigene Arbeitskraft ruiniert. Diese jedem Bauern bekannte Tatsache ist für Dahrendorf nur deshalb eine Frage des "Vokabulars", weil es ihm auf viel höhere "Wahrheiten" ankommt:

"In Wahrheit gibt es nichts Schöneres als die Selbstausbeutung, nämlich die Verwendung der eigenen Kräfte zu selbstgewählten Zwecken, wenn es sein muß, bis zur Erschöpfung. Das eben ist menschliche Tätigkeit, Freiheit."

Aha. Von dieser Tendenz der Geschichte ist zwar gerade als Hintergrund zu einer "nur" vordergründigen Verarmung der Massen ebensowenig zu merken, wie die Wahl von Zwecken, die gleich wieder zur "Erschöpfung" führen, so recht nach "selbst" klingt. Aber daß Dahrendorf sich "nichts Schöneres" vorstellen kann als eine Disziplin, die man sich selbst auferlegt, - das ist schon ein erzreaktionäres Freiheitsideal, das jenseits der ökonomischen Zwecke der Ausbeutung ganz prinzipiell für ihre Wirkungen Partei ergreift und deshalb zumindest die "Arbeit" - pardon: "Tätigkeit" - eines Dahrendorf in der Klassengesellschaft bis auf weiteres vor ihrer"Aufhebung" bewahrt.

Neue Bindequalität der Arbeit?

- Übrigens läßt sich (von wegen "Impotenz" der Soziologie!) aus denselben Phänomenen, die Dahrendorf zitierte, mit einer leicht verschobenen Deutung genau das Umgekehrte schließen und dieselbe Tendenz ableiten. Kern/Schumann aus Göttingen:

"Weil die modernen Arbeiter der Stammbelegschaften" (u.a. infolge neuer Technologien) "auch als intelligente und verantwortliche Wesen und nicht als bloßes konditioniertes Muskel- und Nervensystem verwertet werden, weil insofern (?) neue Aufgabendefinitionen geschaffen werden, scheint Arbeit eine neue Bindequalität zu gewinnen - eine auf Arbeit hingerichtete Kraft, die den Fluchtimpuls aus Arbeit konterkariert und Instrumentalisierungstendenzen entgegensteht."

Na, da entsteht doch "Tätigkeit" - nun "Arbeit mit Bindequalität" betitelt - schon inmitten der "Arbeitsgesellschaft" und nicht erst an ihrem Ende! Man fragt sich allerdings, ob das Wort "Verwertung" in diesem Zusammenhang nicht aus Zufall hineingerutscht ist; ernstgenommen, sieht es nämlich alles andere als "anziehend" und den Arbeiter "gefühlsmäßig bindend" aus, wenn - wie bei mancher Technologie verlangt - zusätzlich zu einem "Muskel- und Nervensystem" auch noch "Intelligenz und Verantwortung" des Arbeiters in Anspruch genommen werden. Daß er sich deshalb dafür begeistert, ist ja wohl ein Gerücht; und die interessante Deduktion der Anziehungskraft moderner Industriearbeit aus ihrem technologischen Charakter (also ganz ohne Zutun von Entscheidungen der Arbeiter und jenseits der ökonomischen Verhältnisse, auf denen diese beruhen) zeigt auch die Herkunft dieses Gerüchts - Soziologen sind derart für ihre "gesellschaftserhaltenden" Ideologien von Sinn, bindequalitäten und erfüllter Freiheit eingenommen, daß sie sich die Realität keinen Augenblick lang ohne diese (wenigstens für sie) begehrenswerten Perspektiven denken können.

Soziologie - ohne jeden Zweifel

Zurück zum Anfang: Hat man nun eigentlich was versäumt, wenn man die Zeitdiagnosen des Soziologentages verpaßt hat? Befaßt sich denn eine Wissenschaft mit aktuellen Fragen, die noch jede von ihnen nur zitiert, um sie in "soziale Tatsachen", also "soziologische Probleme", also in Material für immer dieselben Prinzipien der Gesellschaftlichkeit von Theorie und Praxis zu verwandeln? Die Antwort sei Habermas überlassen, der sie erwartungsgemäß wieder jenseits, hinter und neben all dem gefunden hat, was den Kongreß so bewegte, sie lautet: Aber immer!

"Zeitdiagnose und Suche" (wieso Suche?) "nach universellen Prinzipien schließen einander nicht aus. Alle sozialwissenschaftlichen Theorien besitzen ein zeitdiagnostisches Potential." (Schon wieder die Potenz!) "Sie können unabhängig von ihrer Intention eine zeitdiagnostische Funktion haben. Mit dem Integrationsniveau einer Theorie" (wessen Niueau meint er wohl?) "wächst die Chance ihrer zeitdiagnostischen Wirkung."

Na bitte - je wahnhafter das Ganze, desto eher auf der Höhe der Zeit. Da kann man ja gar nichts falsch machen!