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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1982 erschienen.

Systematik

Gewerkschaften
TARIFRUNDE '83: REIN OHNE LOHN

Zu den Resultaten der Kritik der politischen Ökonomie gehört die Bestimmung des Lohns als einer Summe Geldes, die der Kapitalist dem Arbeiter für die Überlassung seiner Arbeitskraft zahlt. Was so als "Preis der Arbeit" erscheint, ist in Wahrheit dem Umstand geschuldet, daß Arbeitskraft in kapitalistischen Verhältnissen eine Ware ist, die wie jede andere Ware einen Wert hat. Dieser bestimmt sich aus den Lebensmitteln, die zur Reproduktion des Arbeiters erforderlich sind. Daß der Lohn in aller Regel nicht höher ist, als daß man gerade so davon leben kann, sorgt für das ständige Vorhandensein von Arbeitern, die sich immer wieder verdingen müssen, um leben zu können. Jedes Sinken des Lohns hat beim Lohnabhängigen die Konsequenz, daß die Summe seiner Lebensmittel kleiner wird - er also schlechter lebt. Für den Kapitalisten hingegen ist der Lohn, den er für die profitable Benutzung der Arbeitskraft bezahlt, Kost und als solche Abzug vom Gewinn. Der Interessengegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital ist also einer des Konsums der arbeitenden Klasse gegen den Profit der Kapitalisten.

Die in den letzten Jahren erfolgreich vollzogenen Lohnkürzungen (Abschlüsse noch unter der offiziellen Inflationsrate bei vermehrten Leistungen des Arbeiters und verringerten "Leistungen" des Staates in den Sozialversicherungen plus weitere Verminderung des Geldes der Arbeiter in Folge höherer Steuern und Abgaben) wurden in der Öffentlichkeit als Notwendigkeit im Interesse "unserer" Wirtschaft kommentiert, wobei das Possesivpronomen im Plural den Umstand einschließt, daß es unserer Wirtschaft gut geht, wenn die einen mehr haben und die anderen weniger kriegen. Die westdeutschen Gewerkschaften haben die Reallohnsenkungen nicht nur akzeptiert, sondern durch ihre Tarifverträge mit durchgesetzt. Lohnforderungen werden von ihnen nicht mit dem Interesse ihrer Mitglieder aufgestellt, sondern mit einer alternativen Theorie vom Nutzen "unserer" Wirtschaft begründet. Der Lohn sei doch volkswirtschaftlich nützlich, weil Kaufkraft. So stand in der Tarifrunde '82 das Kaufkraftargument für die wirtschaftspolitische Rechtfertigung gewerkschaftlicher Lohnforderungen und damit auch schon fest, daß die Forderung aus wirtschaftspolitischer Einsicht nicht realisiert werden "kann". Auch die anlaufende Tarifrunde '83 wird mit dem Kaufkraftargument eingeläutet, und diesmal steht es von vornherein für die "Unmöglichkeit" der Durchsetzung von Arbeiterinteressen. Außer der wie in den letzten Jahren längst von allen Verantwortlichen 'prognostizierten' Lohnhöhe (diesmal ca. 3,5%) steht diesmal ein weiteres Ergebnis der Tarifrunde nämlich im vorhinein fest: Die gewerkschaftliche Anerkennung, daß der Lohn sinken muß. Auftakt dazu ist

Die gewerkschaftliche Kritik der Tarifrunde '82

Diese verlief für die IG Metall - und als anerkannter "Tarifführer" steht sie für alle übrigen Branchengewerkschaften - in der nachträglichen Einschätzung nicht zufriedenstellend. Nicht vom materiellen Ergebnis her, den 4,3%, mit denen weder die offizielle Preissteigerungsrate noch, was schon gleich gar nicht zur Debatte stand, der staatliche Zugriff auf den Geldbeutel ihrer Mitglieder kompensiert und dem unternehmerischen Umgang mit Arbeitskraft und Lohn Paroli geboten worden ist.

Die krisengemäße Zurichtung der arbeitenden Klasse war für die IG Metall kein Problem. Das Lob für ihr Tarifrundenergebnis, das ihr von Seiten der bürgerlichen Öffentlichkeit, der damaligen Regierung, der Opposition und den Unternehmern gespendet wurde, hat sie schließlich nicht als Zynismus der gegnerischen Parteien, als Schadenfreude, der eindeutigen Sieger, zurückgewiesen. Sie hat es als Lob genossen. Ihre Unzufriedenheit hat sie so formuliert:

"Als tarifpolitisches Ziel der IG Metall war von vorneherein die Sicherung der Realeinkommen in den Vordergrund gestellt worden." Genau das wird jetzt problematisiert und die Frage nach "dem Stellenwert gewerkschaftlicher Lohn- und Einkommenspolitik" aufgeworfen; die Frage also, "ob der Streit um die Zehntelstelle hinter dem Komma noch geführt werden soll oder überhaupt darf."

Daß eine Lohntarifrunde nur ein Schaukampf um Zehntelprozente sein kann, wegen der Wichtigkeit des Lohns für die Wirtschaft (und nicht für die eigenen Mitglieder!), setzt die IG Metall als eines der Hauptaxiome ihrer Tarifpolitik hierbei voraus. Auf dieser Grundlage gibt sich die Gewerkschaft selbstkritisch: Ob Gewerkschaftspolitik in "schweren Zeiten" überhaupt noch materielle Forderungen zum Inhalt haben darf, ist das Problem der IG Metall. Antwort: Eindeutig Nein! "Organisationspolitisch" bedenklich, deshalb abzulehnen und als Fehler zu kritisieren.

Die Gewerkschaft hat diese Debatte nicht hinter verschlossenen Türen geführt, obwohl man vermuten könnte, eine solche "Debatte" überschritte die Schamgrenze selbst einer Gewerkschaft wie der IGM, sondern in aller Öffentlichkeit: Im "Gewerkschafter" dem Funktionärsorgan der IG Metall, ist sie nachzulesen. Leider ein Verweis darauf, daß die Gewerkschaft nicht deshalb so selbstkritisch gegenüber dem Tarifrundenthema Lohn geworden ist, weil es in der IG Metall Mitglieder gegeben hätte, die das Thema Reallohnsicherung und das Argument "Kaufkraft" als Aufforderung zum Lohnkampf mißverstanden hätten; als Aufforderung zur praktischen Verteidigung ihres Lohns, so daß sich die Gewerkschaft veranlaßt gesehen hätte, diesen Irrtum demonstrativ aus der Welt zu schaffen. Die IG Metall hat nur "noch" die programmatische Konsequenz aus ihrer praktischen Politik gezogen, indem sie das Thema "materielle Forderungen" (= Lohn) aus ihrer Tarifpolitik gestrichen hat. Eine rein "logische" Konsequenz war dies allerdings nicht. Als praktisches Problem ist der IG Metall nämlich aufgestoßen, daß, solange das Tariftheater noch irgendeinen Anschein materieller Forderungen enthält, die Gewerkschaft nicht darum herumkommt, ihre Notwendigkeit und Bedeutung als "politische Kraft" an diesem Gegenstand zu demonstrieren. Und das geht nicht mehr so einfach, wenn Gewerkschaft und Wirtschaft sich offiziell darin einig sind, daß der Lohn zu sinken hat und jeder auch nur inszenierte Streit um ihn auch und gerade von der Gewerkschaft als eine potentielle Störung des sozialen Friedens aufgefaßt wird, auf dem ihre Anerkennung beruht. Die Unternehmer haben das in der Tarifrunde '82 dahingehend ausgenutzt, daß sie bei ihrer "Tarifrundenstrategie" die Zustimmung der Gewerkschaft zu der von ihnen beschlossenen Prozentzahl voraussetzten, und deshalb allenfalls noch die Dauer des Verhandlungszinnobers zur Disposition stünde. Und die Gewerkschaft hat ihrer "Strategie" Recht gegeben: Wenn beim Lohn schon alles klar ist, warum dann noch eine spektakuläre Tarifrunde?

Der "Mangel" einer solchen Tarifrunde: Sie kann den Eindruck nicht vermeiden, daß es auf den eigenständigen gewerkschaftlichen Standpunkt praktisch nicht mehr sonderlich ankommt, wenn sie ihn nicht durch irgendeine in der Lohnrunde kämpferisch aufgemachte und ausgetragene Differenz demonstriert.

Diesen "Attraktivitätsverlust" hat die IG Metall, und nicht nur sie, auch bei ihren Mitgliedern zu spüren bekommen: An deren zunehmender Widerwilligkeit in der Frage der Beitragshöhe und an zunehmenden Gewerkschaftsaustritten. Nicht aus begründeter Gegnerschaft zu einer Gewerkschaft, die sich um den Lohn ihrer Mitglieder nicht kümmern will, sondern weil sich immer mehr enttäuschte Mitläufer bei knapper werden dem Geldbeutel und fortdauernder Lohnsenkung die Auffassung zueigen machen, daß man sowieso nichts machen kann, wenn schon die Gewerkschaft nichts mehr machen "kann", weshalb sich der Beitrag auch nicht mehr "rentiert".

Das alles hat die Gewerkschaft darin bestärkt, daß ihre Stellung als "Machtfaktor" gefährdet werden könnte. Der Schluß, den sie daraus gezogen hat, lautet: Bei einer Tarifrunde darf erst gar nicht durch den Gegenstand, den wir verhandeln, der Anschein aufkommen, daß es noch irgendwie um die Behauptung materieller Interessen der Lohnabhängigen durch die Gewerkschaft ginge. Wo keine Hoffnungen erweckt werden, da kann auch keiner enttäuscht werden, und wo die Opposition zu den Unternehmern jenseits einer "realistischen" Einschätzung des Lohnverlustes inszeniert wird, da kann sich die Gewerkschaft auch nicht blamieren - das ist ihre neue Strategie. Die IG Metall hat das so ausgedrückt:

"Es ist uns nicht gelungen, die Tarifrunde '82 politisch genug zu führen. Es ist uns nicht gelungen, die Schwierigkeiten der Lohnpolitik deutlich genug darzustellen."

Die Fortsetzung heißt nun nicht einfach: 1983 müssen wir die "Schwierigkeiten der Lohnpolitik" noch deutlicher darstellen. Das ist in der Tarifrunde '82 wirklich ausführlich genug geschehen. Obwohl die Gewerkschaft mit Staat, Kapital und allen "Sachverständigen" das harte Urteil über den Lohn teilt: Nichts geht mehr!, kann sie so als Organisation, die ihre Existenz und Stärke lohnabhängigen Mitgliedern verdankt, eben diese nicht unbegrenzt bei der Stange halten, gerade weil die IG Metall die "Solidarität der Kollegen" in den letzten Jahren ausschließlich dafür in Anspruch genommen hat. Dies in "schweren Zeiten" weiterhin zu betreiben und als "Mitgliederorganisation" attraktiv zu bleiben, ist der Grund für

Die "neue gewerkschaftliche Perspektive"

Schon seit langem nimmt die Gewerkschaft für sich das Recht in Anspruch, legitimer Vertreter der Opfer und Geschädigten einer dementsprechend als verfehlt gekennzeichneten Politik von Staat und Wirtschaft zu sein. Und nichts lag und liegt ihr ferner, als sich im Namen des Interesses ihrer Mitglieder das Recht herauszunehmen, diese gegen Staat und Kapital zu verteidigen, um Opfer zu verhindern und den Schaden abzuwehren. Wenn man, wie die Gewerkschaft, auf eine richtige Politik und auf ein "Gesunden" der Wirtschaft setzt, dann nimmt man dafür jeden Angriff auf die Arbeiter als "leider notwendig" in Kauf und zeigt politisches Verantworturigsbewußtsein dadurch, daß man sich exklusiv darauf beschränkt, legitimer Repräsentant der Opferbereiten zu sein und als solcher anerkannt zu bleiben. Folglich faßt die IG Metall ihre (Selbst-)Kritik an der Tarifrunde '82 wie folgt zusammen: Es ist uns zu wenig gelungen, sie politisch zu führen. Der positive Schluß daraus lautet: Der Hinweis auf die Sphäre der Macht, auf die Schuldigen, die dort wegen ihrer verfehlten Politik anzuklagen sind, muß Tarifpolitik ersetzen. Den enttäuschten Glauben an die Politik, dieses weniger berechnende als moralisierende Bekenntnis geschädigter Untertanen zu ihrer eigenen Willfährigkeit, zu mobilisieren, ist das neue Angebot, das die Gewerkschaft ihren Mitgliedern und überhaupt allen Betroffenen zu machen hat.

Deshalb steht das Kaufkraftargument in der Tarifrunde '83 auch nicht mehr für die dumm-treue Rechtfertigung einer selbst nicht ernstgenommenen Lohnforderung, sondern für den Anspruch auf ein alternatives Regierungsprogramm. Dies ist jetzt die Forderung, die die IG Metall mit aller Vehemenz in der Gewißheit aufstellt, daß sie sie nicht durchsetzen kann und daß sie deshalb mit dieser Forderung nicht hinter den "Erwartungen der Basis" zurückbleiben kann. Die Gewerkschaft kündigt ihre Zuständigkeit für den Lohn auf - und überantwortet ihn dem Staat zur Betreuung; und, weil der etwas anderes macht, hat sie zwar keinen neuen Streitgegenstand, aber ein neues Mobilisierungsziel: nur noch den treuen und fleißigen und arbeitslosen und überhaupt den Staatsbürger spricht sie an, der unzufrieden ist, weil er das alleinige Opfer ist und deshalb meint, eine dementsprechend "bessere" Politik beanspruchen zu dürfen. Auf ihn will sich dann die Gewerkschaft endlich "organisationspolitisch" voll verlassen können. Die Perspektive, die dieses neue gewerkschaftliche "Kampffeld" hat, ist eindeutig: Es ist die Perspektive, die Staat und Wirtschaft setzen, eine andere will sie erklärtermaßen auch gar nicht sein.

Tarifrunde '83: "Nur eine Lohnrunde"

Man muß schon alle Fortschritte gewerkschaftlicher Krisenpolitik mitgemacht haben, um dieses "nur" - so beurteilt die IG Metall ihre Absicht für die Tarifrunde '83 - nicht für einen Zynismus zu halten. Die gewerkschaftliche "Logik" geht so: Das Lohninteresse ist sowieso unvertretbar, deshalb Kaufkraft! Kaufkraft als Rechtfertigung einer Lohnforderung ist auch unvertretbar, also: Kaufkraft = Anspruch auf ein alternatives Regierungsprogramm = Anspruch auf eine bessere Regierung = Anspruch auf ein echtes, wirkliches Krisenbewältigungsprogramm. Das kann eine Lohnrunde sowieso nie und nimmer leisten, deshalb: 1983 - "Nur eine Lohnrunde". Ungefähr so denken DGB-Gewerkschafter!

Für die Tarifrunde '83 hat der DGB wirklich nur einen Programmpunkt: daß er der Regierung kritisch gegenübersteht.

Die Verlaufsform dieser Tarifrunde sieht dementsprechend aus. Die Frage, ob sie denn nun schon eingeläutet worden ist, oder, wenn nicht, wann?, erübrigt sich. Der gewerkschaftlichen Mobilisierungskampagne in Sachen Krise-Opfer-Ausweg ist sie längst untergeordnet und deshalb nicht mehr zu unterscheiden von allen übrigen Gewerk schaftsaktivitäten.

Die Blümsche Lohnpausenpropaganda - vom Inhalt her nichts als die politische Aufforderung an die Gewerkschaft, sie solle sich an ihre eigenen "Einsichten" auch halten - liefert z.B. den nötigen Aufhänger, sich zum Tarif zu äußern, ohne Lohnforderungen aufzumachen: Politische Selbstbehauptung gegen gewerkschaftsfeindliche Tendenzen und "neokonservative", "überholte" Rezepte der neuen Regierung tut not. Lohnpause nein Lohnmäßigung - aber immer und schon seit zwei Jahren. Ist erst die Lohnpause als "Angriff auf die Tarifautonomie" abgeschmettert, dann ist jede tarifvertraglich abgeschlossene Lohnsenkung ein Sieg - und zwar ein politischer. Ganz neue Fronten tun sich so auf, z.B. ein Bundesbankpräsident, der die neue Regierung warnt, sie solle die Gewerkschaft in Ruhe lassen. Das erschwere ihr nur das Geschäft; auf die Gewerkschaften könne man sich verlassen. Natürlich müsse unter der Inflationsrate abgeschlossen werden. Das sei sowieso kein Thema. Wie recht er hat. Inzwischen ordnet die Gewerkschaft die Blümkampagne, wie alles andere ja auch, fein säuberlich unter Schwierigkeiten ein, die keine Erwartungen bezüglich der Lohntarifrunde mehr zulassen, und überlegt intern, ob sie den Tarifabschluß '83 länger als ein Jahr laufen läßt, also die Lohnpause nachzieht. Ohne natürlich in ihrer Empörung locker zu lassen: Was kann die Gewerkschaft da noch machen, wenn die neue Regierung "Klassenkampf von oben" sogar noch schärfer betreibt als die britische und amerikanische zusammen.

Das Ausmaß der moralischen Empörung der Gewerkschaft, die Dummheit ihrer Krisen; bilder und -sprüche, soll man als Beweis der Ernsthaftigkeit ihres Anliegens nehmen, und wenn sie zu mehr nicht taugen, als die staatstreue Unzufriedenheit für die schwarz-rot-goldene Gewerkschaftsfahne zu sammeln, dann haben sie ihren Zweck erfüllt.

Daß die CDU/FDP-Regierung in einer so sorgfältig "klassenlos" gemachten Gesellschaft wie der BRD den Klassenkampf wieder aus der Mottenkiste der Geschichte auspacken würde, in die ihn nicht erst Schmidt, sondern alle Nachkriegsregierungen Deutschlands/West in sozialpartnerschaftlichem Konsens mit dem DGB gesteckt haben; daß Lambsdorff und Co. unnötigerweise Chaos und Streit statt der gerade jetzt so notwendigen Solidarität und Ordnung produzieren - "radikale" Sprüche dieser Art setzt die Gewerkschaft jetzt wieder zuhauf in die Welt. Gleichzeitig wirft die Gewerkschaft der Regierung vor, mit ihren Maßnahmen sei die von ihr selbst als "Problem Nr. 1" anerkannte "Beschäftigungskrise" nie und nimmer zu bewältigen. Daß das eine Mal Bösartigkeit behauptet, das andere Mal die ehrliche Absicht unterstellt wird, stört nicht im geringsten. Daß man sich nicht ans Leder fährt, ist ja sowieso klar, auch den Teilnehmern der dazu passenden 100.000-Mann-Kundgebungen, so daß man frei mitten dabei sein darf in der demokratischen Staatsöffentlichkeit. Jetzt hat's die Gewerkschaft der Regierung wieder gegeben. Und umgekehrt: Der Blüm ist schon auch ein Schlitzohr.

Auf der anderen Seite überschlägt sich die Gewerkschaft in ihrer Propagierung des Lohns als wirtschaftspolitischem Mittel par excellence, das von der anderen Seite nicht genutzt worden sei. Da werden die vergangenen Lohnverzichtsrunden als gewerkschaftlicher Test besprochen, den die Untemehmer nicht bestanden haben:

"Die Tarifabschlüsse der Jahre 1981 und 1982 lagen unterhalb der jeweiligen Teuerungsrate. Die Unternehmergewewinne sind gestiegen. Aber die Unternehmer haben deshalb nicht - wie versprochen - mehr, sie haben weniger investiert."

Da werden moralische Entlarvungskampagnen gestartet, die dem öffentlichen "Nachweis" dienen sollen, daß die Unternehmer ihre sozialen Pflichten vemachlässigen:

"In Baden-Württemberg wird gegenwärtig das immer wiederkehrende unternehmer-argument vom lohnverzicht, der arbeitsplätze schaffe, auf seinen wahrheitsgehalt hin überprüft... Die IG-Metall weist nach: Nach zwei jahren senkung der kaufkraft wird die arbeitsplatzvernichtung immer bedrohlicher... Die negative entwicklung der arbeitsplatzzahlen seit 1982 wird so betrieb für betrieb in den dafür vorgesehenen spalten des plakats sichtbar gemacht. Landesweit ist die bilanz aufgrund der zahlen aus anderen quellen bereits bekannt."

Da profiliert sich die Gewerkschaft zynisch als der bessere "Argumentierer" und mahnt die neue Regierung:

"Die neue Bundesregienng schränkt kaufkräftige Nachfrage ein, wenn sie empfindliche Abstriche bei den Sozialleistungen," (an sich kein Übel!) "verdeckte Lohnleitlinien bei 2%" (ganz gemein: Regierung peitscht heimlich die Unternehmer ein, während, sie offen die Nullrunde propagiert!) "und die Erhöhung der Mehrwertsteuer zum Programm erhebt."

Aber das gewerkschaftliche Kaufkraftargument beginnt zu wirken, der untemehmerische Widerstand formiert sich schon:

"Auch der Industrie dämmert langsam daß Reallohnverluste, Konsumrückgang und ihre eigenen Unternehmensprobleme zusammenhängen."

So soll der Unternehmerverband schon mit dem Rücken zur Wand gegen seine eigenen Mitglieder kämpfen müssen:

"Gesamtmetall und konservative Wissenschaft geraten in Argumentationsnot."

Wo Schatten ist, da ist eben auch das Licht untemehmerischen Sachverstands. Das Ganze hat natürlich auch einen wirtschaftstheoretisch-sachverständigen Hintergrund. Bei dem Ausmaß der Krise brauche die Wirtschaft nicht nur "steigende Gewinnspannen". Die hat sie "nach einhelliger Meinung 1982 gehabt". Sie braucht Supergewinne.

Und, warum macht sie die nicht?

"Eine regelrechte Gewinnexplosion ist natürlich selbst mit brutaler Rationalisienng nicht zu erzielen, wenn Reallohnverluste zugleich den Absatz beeinträchtigen." Deshalb: "Arbeitgeber in der Klemme." und "Kaufkraftargument bewahrheitet sich."

In großangelegten Öffentlichkeitskampagnen mit Argumentationsmustern wie dem obigen und bei internen und externen Debatten (also auch nur für sie, denn überzeugen soll und tut der gewerkschaftliche Bockmist sowieso nur diejenigen, denen kein Blödsinn groß genug ist, um ihrer Sorge für den Lauf der Wirtschaft und Beschäftigung - das gilt ja heutzutage als das gleiche - Ausdruck zu verleihen) wird der Lohn als unabhängige, weil sowieso sinkende Variable in bezug auf Beschäftigung und Wirtschaftskrisenbewältigung verhandelt: Weil er sinkt und die Wirtschaft auch nicht mehr so recht läuft, liegt es ja nahe, daß er als Kaufkraft ein riesen "wirtschaftspolitischer Motor" wäre. Man könnte einen ganzen Jahrgang "Titanic" füllen mit den verrückten Rechnungen und Globaltheorien über Lohn- als Konsum = Wirtschaftsmotor = Beschäftigungsmittel.

Nur eins sei noch erwähnt: die verhungernden Neger als Grund für die Weltwirtschaftskrise. Sie essen nämlich nichts, stellen eine "mangelnde zahlungsfähige Nachfrage dar", was zur Folge hat: Weltwirtschaft put. Beweis: Man sieht sie ja, sowohl die Neger, die nix essen, wie auch die darniederliegende Weltwirtschaft. Die Gewerkschaft füllt damit allerdings nicht die "Titanic", sondern ihre Tarifrunde aus, weil jeder nationalideologische Schmarrn als Beweis eines besseren gewerkschaftlichen Wirtschaftskonzepts, an dessen Realisierungs(möglichkeiten) man selber nicht glaubt, um so interessanter ist.

Laufen tut das Ganze unter dem Titel: Jetzt eine reine Lohnrunde. Was stattfindet, ist die kompromißlose Verabschiedung der Gewerkschaft von den materiellen Interessen ihrer Mitglieder.

Der gewerkschaftliche Schlager für Übermorgen: Arbeitszeitverkürzung

Man könnte fast meinen, die Gewerkschaft habe schon 1981 gewußt, daß im März 83 Wahlkampf sein wird. Für 1983 plant sie eine reine Negativrunde, als Unterpunkt der Zurschaustellung konstruktiv unzufriedenen Krisenbewußtseins, damit die Parteien ihr Wählervolk ungestört auf seine Entscheidung: "Wer ist jetzt die bessere Regierung?" konzentrieren können. Kaufkraft als Prüfstein, an dem die Parteien sich die Zähne ausbeißen sollen.

Für 1984, wenn die Regierungsbildung den Wählerwillen nicht mehr voll in Anspruch nehmen muß, weil sie dann ja auf alle Fälle vorbei ist und die Arbeitslosenzahlen sicher auf 2,5 Millionen gestiegen sein werden, erlaubt es sich die Gewerkschaft wieder, das "Beschäftigungsproblem" zum Inhalt einer Tarifrunde zu erklären: als Streit um Arbeitszeitverkürzung.

Die Methode spricht für sich. Nicht mehr Abstriche beim Lohn, weil man gleichzeitig "qualitative" Forderungen stellt und umgekehrt, sondern: Jetzt nichts beim im Lohn fordern, die gewerkschaftliche Kraft durch Nichtanwendung konzentrieren, damit man später etwas anderes "fordern" kann - für den Rest der 80er Jahre ... Gewerkschaftsintern - und auch Regierung, Unternehmer und Öffentlichkeit spekulieren jetzt schon mit - ist sowieso nur noch Arbeitszeitverkürzung aktuell. Lohntarif ist ja nur "kurzfristig" zu "realisieren", "immer zu mobilisieren", kurz uninteressant.

Der Inhalt der Arbeitszeitverkürzung ist Verteilungspolitik umgekehrt. Der Kuchen ist jetzt die immer geringer werdende Arbeitszeit, die der Arbeiterschaft zur Verfügung gestellt werde, so daß die Solidarität der Arbeitenden mit ihren Klassengenossen es erfordere, sie neu zu verteilen; weil der mit der Arbeitszeit sinkende Lohnfonds wieder alle Teile des arbeitenden Volkes versorgt, wenn alle in die Arbeit mit einbezogen werden. Die zeitgemäße Bestimmung der vom Faschismus beschworenen Volksgemeinschaft lautet demokratisch so, daß die Gewerkschaft den Lohn anbietet, um von den Unternehmern eine solidarisch-gerechte Verteilung der Arbeitszeit fordern zu dürfen, demokratisch deshalb, weil diese Diskussion als Interessenstreit vorgeführt wird, als Ideal der ganz normalen Benützung der Arbeit durchs Kapital und für den Staat, dessen moralisch = volksgemeinschaftliche Seite die Gewerkschaft für sich beansprucht. Die Parole dazu heißt:

"Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich. Wir sind bereit, uns das beim Lohntarif etwas kosten zu lassen."

Mit welchen Schwierigkeiten die Gewerkschaft dabei rechnet, und wie sie sie in ihren Forderungen gleich mit berücksichtigt, kann man sich unschwer vorstellen: Einfach die 35-Stunden-Woche fordern, wird wohl nicht gehen, weil das die Unternehmer sowieso nicht zugestehen. Vielleicht eine Aufteilung der geforderten 5 Stunden Arbeitszeitverkürzung zur Verbesserung der Beschäftigungslage in halbe/halbe. Zweieinhalb Stunden Verkürzung für alle. Zweieinhalb Stunden "Volumen" für Schichtarbeiter oder Verkürzung der Wochenarbeitszeit für sowieso auszumusternde Alte. Am besten gerecht, sozial ausgewogen und unternehmensverträglich alle möglichen Forderungen zur Arbeitszeitverkürzung kombiniert (vielleicht kommt so die Tarifrente wieder zu Ehren), damit die Unternehmer nicht wieder ausbüchsen können (wie z. B. beim Stahlstreik 1978) und die Gewerkschaft mit einem Angebot blamieren, das sie gar nicht gefordert hat.

Natürlich wird es Streit geben, wieviel Lohnprozente die Gewerkschaft dann für eine Stunde Arbeitszeitverkürzung zahlen soll. Die Zahl läßt man deshalb lieber vorher im Ungewissen.

Weil die Unternehmer in den Betrieben einen ganz anderen Umgang mit der Arbeitszeit betreiben, als sie einfach zu verkürzen oder zu verlängern, nämlich ihre Dauer und Lage so festlegen, wie es ihnen paßt, peilt die Gewerkschaft das jetzt schon als "möglichen Tariferfolg" an: Auch "flexible Arbeitszeit" läßt sich als Eröffnung "neuer Beschäftigungsmöglichkeiten" deklarieren, ganz abgesehen davon, daß sie viel "humaner" sein soll.

Der eigentlich wichtige Streit, nämlich der um das moralische Gewicht der Kontrahenten, bei dem die Gewerkschaft sich einen gewissen Vorsprung verspricht, geht allerdings um die Frage: Wieviel Arbeitsplätze schafft Arbeitszeitverkürzung? Die Gewerkschaft hat sich hier vorerst auf die schon durch ihre Urlaubserfolge erprobte Formel

Arbeitszeitverkürzung x Anzahl der Beschäftigten

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festgelegt. Die Zwei im Nenner ergibt sich durch die mittels der Arbeitszeitverkürzung erzielte Produktivitätssteigerung, die wahrscheinlich noch mit dem Faktor k1 multipliziert wird, weil im Verlauf von Rationalisierungen entlassene Arbeiter selbstverständlich den Rationalisierungseffekt verringern werden. Die ganze Rechnung erweitert durch den Faktor m = Bereitschaft der Unternehmer, die Arbeitszeitverkürzung durch Neueinstellungen zu nutzen. Daneben gibt es sicherlich das Problem, ob der "tarifvertragliche Rahmen" überhaupt tragfähig ist für eine effektive Arbeitszeitverkürzung, ob nicht zuerst bestehende Tarifverträge über Überstunden z.B. noch überdacht werden sollten... Kurz: Die Gewerkschaft rechnet wirklich mit allem, nur nicht mit einer Erleichterung der Arbeit durch ihre Verkürzung. Die Öffentlichkeit, die Regienng, die Unternehmer und die Politiker werden schon zu würdigen und zu nutzen wissen, worauf es der Gewerkschaft ankommt. Und das ist ja das Wichtigste.

Man muß sich also schon bis 1984 gedulden, um wieder eine Tarifrunde mitzuerleben. Und zwar eine, die von vornherein nicht auf Lohn, sondern auf Arbeitszeit, nicht auf einen Abschluß, sondern auf eine langfristige Arbeitszeitverkürzungsstrategie, also nicht auf ein Ergebnis, sondern auf eine neue Beschäftigungskampagne angelegt ist. Aber 1983 wird man ja durch einen Wahlkampf entschädigt, an dem die Gewerkschaft als neutraler Vertreter der arbeitenden Klasse immerhin mit ihrem Kaufkraft-Beschäftigungsargument teilnimmt, so daß sich kein Arbeitnehmer unvertreten fühlen muß: Auch ohne Tarifnnde ist er immer dabei, dank seiner Gewerkschaft - zumindest als potentieller SPD-Wähler.