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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1982 erschienen.

Systematik

13 Jahre sozialliberale Koalition
STATIONEN, STICHPUNKTE

Wenn dann eine "Ära" zu Ende ist, häufen sich die Rückblicke. Nun gut, aber was soll man ihnen entnehmen? Daß 13 Jahre 'SPD an der Macht'eine beachtenswert lange Zeit sind? Daß die sozialliberale Koalition einen "Aufbruch" gewagt hat, dann diesen Aufbruch wegen wichtiger Umstände abbrach und schließlich zerbrechen mußte? Daß Idealismus in der Politik nicht schlecht sei, aber allzuviel davon auch wieder nicht gut, denn Realismus gehöre nun einmal notwendig zu den Staatsgeschäften? Daß - so lautet die Botschaft von rechts - das Gefährliche an den Sozis schon immer gewesen sei, wegen ihres sozialistischen Gedankenguts und aus Opportunismus das Staatswohl hintangestellt zu haben, so daß jetzt der Scherbenhaufen vor uns liegt? Daß - so andersherum von links - die SPD in ihrer Regierungszeit zu nehmend gute sozialdemokratische Ideale verraten habe, aber dennoch das "kleinere Ubel" an der Macht irgendwie doch besser sei? - Die Bilanzen stellen eigentlich nur eine Frage: Wie ist das bundesrepublikanische Staatsschiff unter der SPD gelaufen?

Das Ansehen der Bundesrepublik in der Welt, ihre Stabilität im Innern, die (ideale) Identifikation des Bürgers mit seinem Staat, das sind die selbstverständlichen Gesichtspunkte, mit denen Erfolg der Regierungstätigkeit der SPD gemessen wird. Wie diese Partei dabei ausgesehen hat, das ergibt sich dann, trotz aller erfundenen Zwecke und Widersprüche der SPD, ganz von selbst. Insofern sie dem westdeutschen Staat mehrere Dienste erwiesen hat, kann ihre Ära der 13 Jahre als bedeutend angesehen werden.

"Die 13 Jahre der sozialliberalen Koalition - ihre manchmal konvulsivischen Krisen eingeschlossen - haben die deutschen Bürger mit Demokratie erst wirklich vertraut gemacht, haben sie politisch erwachsen werden lassen. Die Bundesrepublik selbst ist infolge der Ostverträge und durch den vereinbarten Modus mit der DDR endgültig souverän geworden, hat sich gleichsam selbst anerkunnt." (H. Heigert, Süddeutsche Zeitung)

Politische Erwachsenenbildung, damit das Volk mit ganzem Herzen zu seinem Staat hält, Ostverträge, damit der Staat seine ganze Freiheit erhält! Kann man denn keine Bilanz haben, die sich die einfache Frage stellt, was denn die Leute von der SPD an der Regierung gehabt haben? Zumal doch immer noch das Gerücht umgeht, die SPD habe es mehr als andere Parteien mit den Arbeitnehmern und den sonstigen kleinen Leuten? Offenbar ist an der Frage des Wohls der Leute unter der und durch die Regierungstätigkeit der SPD kaum jemand interessiert. Als Partei an der Macht werden die Erfolge dieser Staatsführung so oder so gewertet. 13 Jahre SPD-Herrschaft, das sind dann 13 Jahre mehr oder weniger gelungener Exekution demokratischer Herrschaft, natürlich gemessen an den Idealen dieser Herrschaft und an den idealen Ansprüchen, wie sie die SPD vertrat. Niemand verwechselt das Staatsprogramm der SPD mit einem Hilfsprogramm für Land und Leute, die Sozialdemokratie selbst schon gar nicht. So sei einmal die ernste Frage gestellt und beantwortet: Was hat die SPD in ihrer Regierungszeit für Land und Leute geleistet? Stationen, Stichpunkte der sozialliberalen Ära.

Vorspiele zur Machtergreifung

waren vorausgegangen, bevor 1969 die Alleinherrschaft mit dem liberalen Partner zustandekam. Die noch als Partei der Arbeiterklasse geltende SPD, die noch 1952 ihre prinzipielle Gegnerschaft zur Außenwirtschafts- und Militärpolitik Adenauers erklärt hatte, beschloß ihr Godesberger Programm, in dem sie zur Volkspartei wurde und ihr Bekenntnis zur freien Marktwirtschaft und zum NATO-Bündnis ablegte - um ihre politischen Erfolgschancen zu erhöhen. Die "Erben der Arbeiterbewegung" trugen so das Ihre dazu bei, daß aus den christdemokratischen Prinzipien, den neuen bundesdeutschen Klassenstaat einzurichten und effektiv zu machen, das unbezweifelte, "also" unbezweifelbare Kriterium für hierzulande zulässige Politik wurde. Logischerweise war eine Große Koalition mit dem ehemaligen Erzfeind CDU/CSU den Sozis sehr recht auf dem Weg zur Macht. Konnten sie doch so ihre Regierungsfähigkeit unter Beweis stellen und ihre extreme Staatsloyalität mit den Notstandsgesetzen - die fehlten noch in der bundesrepublikanischen Vergangenheitsbewältigung - eindruckvoll demonstrieren. Als dann auch noch die FDP mit ihrem Machtinteresse lieber auf den mehr Erfolg versprechenden sozialdemokratisctien Staatsfaktor setzte, konnte die sozialliberale Ära beginnen.

Aufbruch zu "mehr Demokratie"

Alle Ideale, die auf dem Boden demokratischer Herrschaft wachsen, weil diese sich die "Freiheit" des Volkes zu seinem Beherrschtwerden zum Mittel macht; alle Ideologien von der anzustrebenden Einheit von Volk und Staat, vom Nutzen der Ordnung für die von dieser Gewalt Betroffenen waren das Material für die Wende, damals, 1969. Der aus der "Schule der Nation" - die extra "die Schule" sein sollte, damit "jeder seine Fähigkeiten entwickeln können" kann - hervorgegangene "kritische, urteilsfähige Bürger", dem die Regierung "nicht nach dem Mund redet", dem "blinde Zustimmung" fremd ist, sollte "solidarisch" "kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten" mit seiner Regierung, deren "Selbstbewußtsein... sich als Toleranz zu erkennen geben" möchte. Eine Regierungserklärung des Kanzlers Willi Brandt, in der dieser als demokratische Utopia verkündet, worin der Bürger so vernünftig sein darf seine Abhängigkeit von der politischen und wirtschaftlichen Ordnung mit engagiertem Herzen echt einzusehen. Ordnung muß sein, aber wir wollen so tun, als möchten "wir" diesen Gegensatz von Macht und Vntertanen im verständigen gegenseitigen Einvernehmen bewältigen:

"Unser Volk braucht wie jedes andere seine innere Ordnung. In den 70er Jahren werden wir aber in diesem Lande nur so viel Ordnung haben, wie wir an Mitverantwortung ermutigen. Solche demokratische Ordnung braucht außerordentliche Geduld im Zuhören und außerordentliche Anstrengung, sich gegenseitig zu verstehen."

Dabei war gerade nur eine neue Regierung an die Macht gekommen, die dem geliebten Wähler ein Staatsprogramm versprach, von dem sie sich größte Stabilität und Machterhalt erwartete. Aber das war ja auch schon der ganze Witz: Die neue sozialliberale Regierung machte sich daran, die funktionierende wirtschaftliche und staatliche Ordnung demokratisch zu komplettieren. Um das Gemeinwesen funktionsfähiger zu gestalten, setzte man sich "Reform und Erneuerung" zum Ziel und versah es mit dem Ideal der Nützlichkeit für den Bürger - "Im Mittelpunkt steht der Mensch" -, um den sich die konservativen Vorgänger zu wenig gekümmert hätten. Der "Ausbau des Sozialstaats", den übrigens nicht die SPD, sondern die CDV/CSU nach dem christlichen Motto: "Arme werdet ihre allezeit bei euch haben" erfunden hatte, sollte geschehen, wieder mit der idealen Vorstellung, daß den Lohnabhängigen und den nicht einmal mit Lohn gesegneten armen und "gescheiterten " Leuten, mit denen auch die Sozis als Dauereinrichtung rechneten, ein "materiell abgesichertes" und "menschenwürdiges" Leben in der Gesellschaft ermöglicht werde. Wirkliche Friedenspolitik sollte an die Stelle des Kalten Krieges treten, verbunden mit dem schönen Versprechen, daß alle Deutschen in Zukunft in frieden leben könnten, ohne daß deswegen die Bundeswehr aufgelöst worden wäre; im Gegenteil. Regiert wurde weiter wie bisher, zum Wohl der deutschen Nation, zur Steigerung der Stellung der BRD in der Welt; gearbeitet wurde auch weiterhin fürs Kapital und deutsches Wirtschaftswachstum, und die lieben Menschen hatten weder mehr vom Leben noch mehr zu sagen als vorher. Aber die Sozialliberalen versahen die Staatsnotwendigkeiten und das unabdingbare Los des Untertanen mit der Glorie, den "Wohlstand des Volkes" mehren zu wollen und aus dem Untertanen im "Obrigkeitsstaat" den "mündigen Bürger" zu machen, dem die Obrigkeit "Geduld im Zuhören" widerfahren läßt und der auch seine Meinung sagen darf und dem die Regierung alles sagt, was sie vorhat. Die sozialliberale Staatsführung trat an mit dem Anspruch, den unzufriedenen Bürger für "seine" Ordnung politisch zu interessieren, mit der demokratischen Herrschaft über ein Volk von Demokraten ernst zu machen. Dies tat sie dann auch, und der ideale Aufbruch zu mehr Demokratie, die man komischerweise "wagen" wollte, veränderte zwar das Leben der Millionen Lohnabhängigen nicht, brachte aber der SPD neue Wählerstimmen aus studentenbewegten, intellektuellen und sonstigen kritischen Künstlerschichten ein, was nicht zuletzt auch ein Zweck der Veranstaltung der Volkspartei war. Denn in solchen Volkskreisen gibt es nun 'mal einen Haufen Leute, die, zum Teil berufsmäßig, darauf achten, wie bürgerfreundlich die Staatsgewalt sich darstellt - und die deswegen den Sozialliberalen ihren "Mut", sich als Staatsmänner zu verkaufen, die trotzdem ihrem Volk mehr Gehör schenkten, zu honorieren bereit waren.

Der Kniefall von Warschau

Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland bekannte knieend die Schuld der Deutschen an den kriegsverbrecherischen Großtaten in Polen und dokumentierte so den Willen der westdeutschen Souveränität zur zwischenstaatlichen "Versöhnung" mit Polen und den anderen Staaten des Ostblocks. Dieser Akt ist Willy Brandt von rechts als eines deutschen Staatsmannes unwürdig vorgeworfen worden, als Zeichen des Ausverkaufs westdeutscher Interessen an Länder des kommunistischen Ostens. Völlig zu Unrecht, denn erstens war dieser Akt sehr bewußt berechnet auf das Erreichen der Normalisierung der Beziehungen zu Polen, wie überhaupt die Aufnahme von normalen Beziehungen zu den Staaten hinter dem Eisernen Vorhang Schritte zur endgültigen Souveränität der BRD waren, was die Hallstein-Doktrin nie zustandebrachte. Diese "Doktrin" hatte ja immer auf einem Großdeutschland bestanden, das nicht mehr zu haben war; stattdessen setzten die "Aussöhnungs" Politiker jetzt auf eine allseits anerkannte Souveränität, deren praktische Wucht für die vorläufige Zurückstellung des nach wie vor aufrechterhaltenen Wiedervereinigungsanspruchs weit mehr als entschädigen sollte. Denn zweitens hat die gesamte Ostpolitik der sozialliberalen Koalition nie einen Zweifel daran gelassen, daß man mit Staaten des östlichen Hauptfeinds in der politischen Absicht verkehrte, diesem die Alleinzuständigkeit für seine Verbündeten und deren Menschenmaterial nicht ungestört zu überlassen; entgegen allen Gerüchten wurden die Zugeständnisse tatsächlich ja auch nicht von der BRD, sondern von den "Partnern" drüben gemacht. Immerhin hatte der Kniefall von Warschau u. a. die schöne Folge, daß die polnische Souveränität Deutsche heim ins Reich ziehen lassen durfte. Drittens führte die Ost- und Entspannungspolitik zu einem gewinnbringenden Osthandel, der neben dem Gewinn noch die politische Qualität besitzt, gegen die Länder des Ostens eine ökonomische Waffe zu sein, die in Polen, vor dem sich Willy Brandt verbeugte, inzwischen den wirtschaftlichen Ruin und noch einiges mehr herbeigeführt hat - alles unter dem verniedlichenden, daher doch kompromißlos imperialistischen Motto: "Wandel durch Annäherung!"

Die "Entkrampfung" der innerdeutschen Beziehungen hat den Besucherstrom zwischen der DDR und der BRD und umgekehrt sicherlich anwachsen lassen. Zum Zwecke "menschlicher Erleichterungen", diesem Ideal der Deutschlandpolitik, wurden der Grundlagenvertrag und Folgeverträge nicht ausgehandelt. Brandt reiste nicht nach Erfurt, damit Omas, Opas und andere Rentner ihre Verwandten besuchen konnten, was man schon daran sieht, daß nach Erhöhung der Umtauschsätze durch die DDR die Bundesregierung die reisewilligen Westdeutschen nicht mit Geld versorgte, damit sie weiter nach drüben gehen konnten, sondern die alten Leutchen sollten einen auch östlicherseits anerkannten Anspruch auf Westbesuche und ihren Westbesuch haben, damit die bundesdeutschen Ansprüche auf Volk und Land der DDR in der rührenden Form eines nationalen Familienlebens bleiben und wachsen konnten.

Die Deutschlandpolitik der Sozialliberalen, für die wie für die Ostpolitik überhaupt die Entspannungspolitik zwischen den Großmächten den Weg freigemacht hatte, nutzte so in ziemlich erpresserischer Weise das Interesse der DDR, als eigenständiger Staat anerkannt zu werden, ohne daß die Bundesregierung den Anspruch aufgab, allein selbst die deutsche Nation zu repräsentieren.

"Aufgabe der Politik in den jetzt vor uns liegenden Jahren ist es, die Einheit der Nation dadurch zu wahren, daß das Verhältnis zwischen den Teilen Deutschlands aus der gegenwärtigen Verkrampfung gelöst wird. Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesregierung kann nicht in Betracht kommen. Auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland; ihre Beziehungen zueinander können nur von besonderer Art sein." (Brandt, Regierungserklärung 1969)

Mit der erfolgreichen Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition war, ohne daß sich die westdeutsche Souveränität etwas vergab, ein Loch in die Mauer gebrochen worden. Viel besser als Kerzen bewiesen ab da Besucher hin und her das "Zusammengehörigkeitsgefühl aller Deutschen", und Journalisten konnten fortan in der DDR ihr Propagandamaterial gegen diese zusammenstrikken. Eine neue Grundlage war geschaffen, den Kampf gegen den kommunistischen deutschen Staat fortzuführen. Was einherging mit der zügigen Ausweitung des so extra vorteilhaften innerdeutschen Handels: Weil hier auch die DDR dem bundesdeutschen Vorbehalt, wonach sie und die BRD füreinander "kein Ausland" seien, Geschmack, sprich: Nutzen abgewann, stand der "Entwicklungshilfe" zur allmählichen Kolonisierung der souverän gewordenen und anerkannten Ostzone nichts mehr im Wege.

Deutschland und Ostpolitik, das war die realistische und im Vergleich zum kalten Krieger Adenauer viel effektivere Politik gegen das östliche System, lange bevor der Geist von Helsinki in Stellung gebracht wurde. Das war die Friedenspolitik, die Willy Brandt den dafür bestimmten Nobelpreis einbrachte und das Vertrauen in die SPD nicht unerheblich befestigte. Der Friedenswilly zog eben deswegen Wähler auf sich.

Betriebsverfassung und Mitbestimmung für den Frieden der Arbeitnehmer

Die SPD, die Volkspartei der Arbeitnehmer, versprach ihrer angestammten Klientel mehr Rechte, als Arbeitnehmer wohlgemerkt; sie nahm sich vor, die lohnabhängigen Schichten der Bevölkerung zu gleichgestellten Bürgern zu machen, de neben arbeiten auch mitbestimmen können dürfen.

"Mitbestimmung, Mitverantwortung in den verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft wird eine bewegende Kraft der kommenden Jahre sein." (Regierungserklärung 1969)

Den dem ökonomischen Zwang unterworfenen Arbeiter an seiner Ausbeutung durch die Unternehmer mitbestimmen und mitverantworten lassen, also im Betrieb das Ideal der Demokratie, die Solidarität mit der Macht, von der man abhängig ist, als Recht zu setzen, war tatsächlich ein gewichtiger - Stützpfeiler für den Aufbau des "Modells Deutschland" - Im Einvernehmen mit der SPD-freundlichen Gewerkschaft, die jedes neue Recht der Arbeitnehmer in ihrer staatstreuen Art für einen Fortschritt hält, wurde das "Jahrhundertwerk" betriebliche Mitbestimmung (1976) geschaffen. Das Wohl der Arbeitnehmer kam zu seinem Recht: Innerbetrieblich wurde der Interessengegensatz von Arbeit und Kapital insofern anerkannt, als Arbeitern und Gewerkschaften die Pflicht zum Betriebsfrieden vorgeschrieben wurde, Klassenkämpfe im Betrieb für überholt erklärt wurden:

"Paragr. 74 Grundsätze für die Zusammenarbeit.

(1) Arbeitgeber und Betriebsrat sollen mindestens einmal im Monat zu einer Besprechung zusammentreten. Sie haben über strittige Fragen mit dem ernsten Willen zur Einigung zu verhandeln und Vorschläge für die Beilegung von Meinungsverschiedenheiten zu machen.

(2) Maßnahmen des Arbeitskipfes zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat sind unzulässig; Arbeitskämpfe tariffähiger Parteien werden hierdurch nicht berührt. Arbeitgeber und Betriebsrat haben Betätigungen zu unterlassen, durch die der Arbeitsablauf oder der Frieden des Betriebs beeinträchtigt werden. Sie haben jede parteipolitische Betätigung im Betrieb zu unterlassen; die Behandlung von Angelegenheiten tarifpolitischer, sozialpolitischer und wirtschaftlicher Art, die den Betrieb oder seine Arbeitnehmer unmittelbar betreffen, wird hierdurch nicht berührt." (Betriebsverfassungsgesetz)

Überbetrieblich dürfen Vertreter der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat darüber mitbestimmen, daß und wie das Unternehmen am besten in den schwarzen Zahlen bleibt. Und wenn die Ausbeutung der Arbeiter und Angestellten nicht den gewünschten betrieblichen Erfolg erbringt, wird über Entlassungen abgestimmt. Daß nicht die volle Parität von Kapital und Arbeit Gesetz wurde, tut dem Zweck dieser institutionalisierten Solidargemeinschaft der Klassengegner keinen großen Abbruch, obwohl die Gewerkschaft weiter auf diesem Punkt herumhackt. Die Mitbestimmung ist ein Garant des sozialen Friedens, was ja die SPD wollte. Die volle Parität scheiterte allein an der FDP und nicht am sozialdemokratischen Willen, sagte man wenigstens, ansonsten war der Einbau der Arbeiter und ihrer Gewerkschaften ins Modell Deutschland gelungen: Arbeit ist nur dann ein gesamtgesellschaftlicher Segen, wenn sie nicht aufmuckt und so ihre Mitverantwortung erfüllt.

Bildungsreform Der Muff von 13 Jahren

unter SPD-Anleitung löste den "Muff von tausend Jahren" ab, was auch den Vorteil hatte, daß der größte Teil der studentenbewegten Intelligenz bei der SPD landete, der Rest seine Liebe zu den Sozis nie ganz aufgeben wollte. Das Programm: "Mehr Bildung für mehr Menschen", vor allem für die Kinder aus den Arbeiterschichten mehr "Chancengleichheit", wurde entgegen anderslautenden Behauptungen verwirklicht. Ohne Zwergschule, aber teils dreigliedrig, teils gesamtschulmäßig, vielleicht auch in einer Vorschule durchsortiert, gelangten mehr Jugendliche auf teils Fach-, teils Gesamt-, teils neue Hochschulen. Die Konkurrenz im Bildungswesen ward perfektioniert, was die Bildung der Jugend nicht gerade beförderte - "konstruktive Kritik", "gesellschaftliche Sicht" und die Pflicht zu tolerantem Zuhören gegen jedes Wissen lernten sie alle sofort -, die Konkurrenz der größeren Zahl der durch höhere Bildungsinstitutionen gegangenen Gebildeten nachher um so mehr. Der Numerus Clausus wurde die andere Seite der Chancengleichheit genauso wie die Tatsache, daß ein Hochschulabschluß nicht mehr die Sicherheit eines Jobs verspricht, es sei denn, man nimmt ihn einem bloß Abiturienten oder Realschulabsolventen ab. Mehr Jugendliche - auch Frauen - sind durch Hessische Rahmenrichtlinien oder gesellschaftswissenschaftliche Studien an z.B. der Uni Bremen noch blöder geworden, ohne daß sie deshalb diesen Wettbewerb gegen einen bayerischen Hochschulabsolventen verlieren müßten. Inzwischen ist die sog. Praxisnähe SPD-gesteuerter Bildungseinrichtungen wegen der Anerkennungsfrage der Abschlüsse durch konservative Länderregierungen wieder ziemlich "normal" geworden.

Befördert hat die SPD auch Menschen, die "mehr Chancengleichheit" an den Hochschulen proklamiert haben, die Hochschulen mangels innerwissenschaftlicher Demokratie der Praxis als nicht gewachsen befanden und mit diesem Wissen jetzt Stühle der Ordinarien ohne Muff von tausend Jahren innehaben. Diese alten Kämpfer gegen Unrecht und Unterdrückung erfüllen letztendlich den damals begonnenen Bildungsidealismus der SPD - der ganz schön real war -, indem sie sicher Verständnis dafür haben, daß auch in der Bildung durch die SPD ein Anspruchsdenken aufgekommen ist, das in heutigen Krisenzeiten einfach nicht mehr geht, weil Krise der Werte, und so. Die Bildungsanstrengungen der Sozialliberalen sind also insofern schon auf jeden Fall erfolgreich gewesen, als dort die gesamte höhere Intelligenz am Macher in der SPD, Helmut Schmidt, mehr findet als an dem neuen Regierungschef. Selbst das "ungerechte" BAFöG wird dem hintangestellt.

Radikalenerlaß

Der propagierte Wille zu "mehr Demokratie", die Anerkennung oder auch Förderung des "Irritischen" Bürgers sollte keineswegs falsch verstanden werden, als wäre damit etwas anderes gemeint als die positive und verantwortliche Stellung zum demokratischen Gemeinwesen. Die Studentenbewegung mit ihrer Kritik an den bestehenden Zuständen vom Standpunlrt des Ideals der Demokratie her war ein guter Nährboden für die Machtergreifung der SPD. Aus ihr entstanden aber auch politische Organisationen, die eine mehr oder weniger grundsätzliche Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft in ihr Programm schrieben. Nachdem die SPD anfänglich die Straftaten, die vor allem in die Zeit der Notstandsgesetze und des alten Demonstrationsrechts fielen, amnestiert, das Demonstrationsrecht ein wenig entschärft und so die Zuständigkeit für konstruktiven Protest junger Menschen unter Beweis gestellt hatte, nahm sich die Staatspartei mit Regierungsverantwortung die sogenannten "Verfassungsfeinde im öffentlichen Dienst" vor, ohne daß diese Leute zu einer Gefahr für die staatliche Ordnung geworden waren. 1972 erließ die Gemeinsamkeit der Demokraten von rechts bis links, also Brandt und alle Länderchefs, die "Grundsätze über die Mitgliedschaft von Beamten in extremen Organisationen". Seitdem wird die Freiheit des Tuns und der Gesinnung überprüft, ob sie der freiheitlichen Ordnung dienlich ist, oder ob jemanden als ihren Diener aufzunehmen, dem "Selbstschutz" des Staats zuwiderläuft. So setzten die Sozialliberalen die deutsche Eigenart "Berufsverbote" in die Welt und vervollständigten ihr soziales Programm durch die Bestreitung der beruflichen Existenz derjenigen, die nicht jederzeit die Gewähr bieten, für die Verfassung einzutreten. Die SPD hatte bezeichnenderweise mit diesem Erlaß nur noch eine Sorge: Erwischen wir dabei die Richtigen? Erschrecken wir damit staats- und SPD-treue Bürger? Eine Sorge, die sich nach offizieller Meinung erübrigt, denn wer über den Radikalenerlaß erschrickt, fällt eigentlich schon unter ihn.

Mißtrauensvotum gegen den Friedenswilly

Der durch parlamentarisch demokratische Abgeordnetenkäufe und durch Leute, die wegen ihres Gewissens nicht länger bei den Sozialliberalen bleiben wollten, zustandegekommene Schwund der Basis der Regierung im Parlament führte 1972 zum ersten konstruktiven Mißtrauensvotum in der Geschichte der Bundesrepublik. Daß es nicht konstruktiv wurde, weil zwei CDUler nicht mitmachten und die dann vorgezogenen Neuwahlen zum größten Sieg der SPD wurden ist weniger bemerkenswert als die Tatsache welche Fortschritte inzwischen die außerparlamentarische Opposition gemacht hatte. Gewerkschafter und Intellektuelle demonstrierten für den Kanzler Willy Brandt und gegen die für unanständig angesehene Alternative Rainer Barzel. Man demonstrierte dem guten Willy, der nicht lange vorher wegen seines effektiven Eintretens für das nationale deutsche Interesse durch seine Ostpolitik mit dem Friedensnobelpreis geadelt worden war, Ergebenheit und Treue:

Vom Mitgestalter der Notstandsgesetze, vom Promoter der Berufsverbote, vom "kleineren Übel" also wollte man sich gern regieren lassen und ging dafür sogar auf die Straße. Ein schönes Zeichen dafür, wie gesellschaftsfähig der "demokratische Sozialismus" der SPD geworden war. Der mündige Bürger demonstrierte für eine angeblich bessere Alternative der Herrschaft.

Die Kanzlerreform zum "Macher" Schmidt

Die BRD war inzwischen Mitglied der UNO, die Ostpolitik zahlte sich aus. Wirtschaftliche Krisenanzeichen hatten aus dem Programm der "umfassenden Reformen" die sozialdemokratische Diskussion der "machbaren" Reformen, der "Reform der Reform" und der Reformen, die nichts kosten, werden lassen. Der ideologische Idealismus des sozialliberalen Staatsprogramms: sozialer, gerechter, mehr Wohlstand..., relativierte 'sich' ganz selbstverständlich an den Staatsnotwendigkeiten. Der "Gesinnungstäter" Willy Brandt hatte seine Aufgabe (für die Partei) als Kanzler getan, die obersten Parteigenossen hielten den Wechsel zu einem sog. Pragmatiker für notwendig. Der Anlaß stellte sich 1974 ein, weil Willy Brandt sich die Zufuhr von frischen Miezen in seine Sonderzüge ausgerechnet von einem Spion hatte bewerkstelligen lassen.

Helmut Schmidt, der ohne Hintergedanken den Führungsstil Brandts als "zu lax" bezeichnet hatte, wurde der neue Kanzler.

Seitdem bestand der weitere Erfolg der SPD weniger in ihrer Parteiideologie, mit der sie den "Aufbruch" geschafft hatte, sondern ziemlich allein in der erfolgreichen Kanzlerschaft Helmut Schmidts. Seinetwegen hielt die Regierungskoalition noch 8 Jahre, seinetwegen bekamen die Sozialliberalen noch so lange ihre Wählermehrheiten. Nicht der Sozialdemokrat, sondern der "Macher" und "Krisenmanager" Helmut Schmidt garantierte dies.

Abtreibung und Scheidungsrecht zur Stärkung der Keimzelle des Staates

Auch ein "Jahrhundertwerk", mit dem die Sozialliberalen "Überreste aus dem vorigen Jahrhundert" zum Nutzen ihrer Bürger wegreformieren wollten. Dabei blieb der "Wunsch, den Staat aus der Privatsphäre von Mann und Frau zu verbannen", ebenso im Reich der idealisierten Reformvorhaben angesiedelt wie der Art. 6 des Grundgesetzes:

"Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung", eingreifend exekutiert wurde. Gerade wegen der grundsätzlichen Unauflöslichkeit der Ehe sah man im alten Scheidungsrecht "Schuldprinzip" - einen Mangel, dem das "Zerrüttungsprinzip" abhelfen sollte. Die Ermittlung des Schuldigen, dem die Folgelasten aus dem Wegfall ehelich-familiärer Gemeinschaftsreproduktion als Buße aufgeladen werden konnte, führte keineswegs mit befriedigender Regelmäßigkeit zu dem Ehepartner, der zur Übernahme dieser Unkosten, speziell bei der Kinderaufzucht, finanziell am ehesten oder sogar überhaupt in der Lage war. Im Gegenteil: Indem das alte Recht ökonomische Vor- und Nachteile der Geschiedenen von moralischen Kriterien abhängig machte, wurde die ökonomisch wünschbarste Aufteilung von Vermögen und Kindern zum Zufall. In dem Maße, wie der Schuldspruch von dem Geschick des einen Partners abhing, den anderen möglichst brutal bloßzustellen, was im Zweifelsfall eine Frage des teureren Anwalts war, produzierte die darauf begründete Scheidung nur allzu häufig - fast durchweg weibliche - Sozialfälle. Diesen Mangel behob das neue Scheidungsrecht durchgreifend mit der pragmatischen Fortentwicklung des Schuldprinzips durch die sozialliberale Einsicht, daß für den Zweck des Staats, den Willen zur Scheidung den Scheidungswilligen als Verstoß gegen den nach wie vor gültigen Gnndsatz,

"daß die Ehe ein (?) Leben lang halten soll",

in die Schuhe zu schieben und sie für die wirtschaftlichen Konsequenzen geradestehen zu lassen, ein Auseinanderrechnen von individuellen Schuldanteilen im Prinzip gleich gültig ist. Demgemäß nehmen die neuen Bestimmungen grundsätzlich beide Ehepartner unterschiedslos dafür in Haftung, daß ihnen ihr Lebensbund vorfristig zuviel wird, und reduzieren das gesamte Scheidungsverfahren auf seinen harten ökonomischen Kern - womit gleichzeitig die klassische Funktion des Scheidungsrechts, den Willen zur Fortführung kaputter Ehen neu zu wecken, Scheidungen also gar nicht erst gewünscht werden zu lassen, in der erfreulichsten Weise effektiviert wurde. Damit war 1977 die simple Gleichung zum Gesetz erhoben: Zerrüttung ist dann, wenn sich die Eheleute das Getrenntleben, die Prozeßkosten und die geteilten Rentenansprüche leisten können. So ist es nach diesem Jahrhundertwerk kein Wunder, daß nach wie vor die Mehrheit der Scheidungen in den Schichten zustandekommen, deren ökonomische Lage dies erlaubt, während sich die lohnabhängige Arbeiterklasse auch das Scheiden genau einteilen muß.

Genauso emanzipatorisch schließlich wie die im Scheidungsrecht festgeschriebene Anforderung an die Frau, für ihren Unterhalt - so möglich - selbst zu arbeiten, war die Reform des Paragr. 218, deren 1. Fassung 1974 beschlossen wurde, die man dann auf Geheiß des Bundesverfassungsgerichts 1976 änderte. Der sozialliberale Reformimpetus wurde hierbei ohne Fraktionszwang, als parlamentarische Gewissensentscheidung trächtig, weil es sich um eine menschliche Grenzfrage handelte zwischen Gott, der bis auf Ausnahmen wie Krieg etc. das Leben will, und dem Menschen, der einen winzigen Fötus nicht "umbringen" darf, andererseits ausgerechnet das Recht haben darf, seine Kinderwünsche selbst zu bestimmen. Die Straffreiheit für die abtreibende Frau, die "Abtreibung auf Krankenschein" (nach der verworfenen Fristenlösung generell in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft, nach der geltenden Indikationslösung bei medizinischer, sozialer und eugenischer Indikation) unterstellt die Tatsache, daß trotz gegebener Möglichkeiten eheliche oder außereheliche Liebe und geplanter Kindersegen sehr häufig noch als Widerspruch angesehen werden. Und mit der "sozialen" Indikation wird anerkannt, daß auch im späten 20. Jahrhundert Kinder für die "Reproduktionsgemeinschaft" Familie noch eine ökonomische Last sind. Der Erfolg des Gesetzes bestand darin, daß einige Dunkelziffern offiziell geregelt werden, andererseits man weiter nach Holland fährt, weil sich der Staat die Anerkennung einer Indikation vorbehält.

Mogadischu

Ein Höhepunkt der sozialliberalen Ära, wohl weil es nicht um Reform und Gerechtigkeit und Liberalisierung ging, sondern weil eine sogenannte "Erpressung des Staats" erfolgreich abgewehrt wurde; ein Höhepunkt für Helmut Schmidt, dem "einsamen Mann" der die schwere Entscheidung getragen hatte. Entschieden hatte er im Einvernehmen mit allen Parteien, daß Schleyer der Staatsraison geopfert wurde, daß auch bei den 87 Flugzeugpassagieren das Risiko des Verlusts ihrer Leben wegen der Staatsraison eingegangen werden mußte. Da die GSG 9 erfolgreich war, nahm Helmut Schmidt zu an Ansehen und Glanz, wurde der 18. Oktober 1977 zum Deutschen Feiertag, wofür der tapfere, tote Flugkapitän, die Kameraden von der GSG 9 und die Betroffenen im Flugzeug das Material abgaben: "Freude schöner Götterfunken", weil die BRD sich erfolgreich verteidigt hatte und so auch noch die Lüge vom Schutz des Lebens der einzelnen hinzusetzen konnte.

Mit konsequenten Aktionen der Staatsmacht war die SPD, vor allem im Kanzler Schmidt, erfolgreich. Gerüchte, auch die SPD habe dem "Sumpf" des Terrorismus Vorschub geleistet, widerlegte sie praktisch mit der ganzen Härte neuer Gesetze. Vor diesen Fortschritten des Rechtsstaats sind die Rechtsreformen:

  • Allgemeine Strafrechtsreform von 1975; bei Praktikern wird als wesentliche Veränderung allein die Anpassung der Geldstrafen an das Einkommen des Straffälligen angesehen; ansonsten eine rechtstechnische Straffung versehen mit dem perversen Idealismus, jemanden durch Strafe wieder zum nützlichen Mitglied der Gesellschaft machen zu wollen.
  • Strafvollzugsgesetz von 1976, das die exakte Kodifizierung auch der Knastwelt bedeutet: Den grundgesetzlichen Bedürfnissen der Gefängniswelt wird mit eigenen Rechtsmitteln der Insassen und einer besonderen Gerichtsunterabteilung dafür Rechnung getragen, geradezu ein Witz. Mit den Antiterrorgesetzen - von der Kontaktsperre bis zum Verbot der Verherrlichung von Gewalt wurde das Strafrecht unter Fahndungsgesichtspunkten reformiert. Die sich die ziemlich ohnmächtige Gewalt herausnahmen, den Staat mit Anschlägen und Mord in die Knie zwingen zu wollen, wurden als Staatsfeinde Nr. 1 behandelt, als besonders verurteilenswerte Verbrecher also, die man deshalb gleicher behandeln müsse als "normale" Gesetzesbrecher.

Der großzügige Ausbau des BKA mit allen Mitteln der Fahndung und einer Anti-Terror-Truppe, wie sie bei Mogadischu eingesetzt wurde, überzog die BRD mit einem derart umfassenden Netz, daß auch noch der Bürger in jedem unbekannten Auto einen mutmaßlichen Terroristen vermutet. Die Geschnappten steckt man in eine Festung, die Einzelhaft und kugelsicheren Gerichtssaal gleich zusammen umfaßt, und zwar möglichst lebenslänglich, wofür sich zuletzt die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung immer noch finden läßt.

Nachdem die Terroristen bis auf ein paar, die nichts mehr putzen, tot oder hinter Gittern sind, werden die Antiterrorgesetze natürlich nicht wieder abgeschafft. Die sozialliberale Regierung hat die Demokratie so richtig wehrhaft gemacht und den Rechtsstaat zu seiner Verteidigung mit einigen zusätzlichen gewalttätigen Mitteln ausgestattet. Das soll auf jeden Fall so bleiben, Schmidt konnte sich brüsten, mit dem Terrorismus bestens fertiggeworden zu sein, und den Italienern gönnerhaft ein paar Fahndungskommandos zu Hilfe schicken. In Sachen Recht und Ordnung hatte sich das kleinere Übel bewährt.

"Ausbau des sozialen Netzes"

Das soziale Netz übenahmen die Sozialliberalen von ihren konservativen Vorgängern, obwohl Sozialdemokraten gern behaupten, daß sie als traditionelle Arbeitnehmerpartei recht eigentlich den Sozialstaat zu einem solchen gemacht hätten und die einzigen Garanten des sozialen Friedens seien. Nun hat diese Koalition sicherlich das soziale Netz um einige Ergänzungen bereichert: Kindergeld auch für das erste Kind, bruttolohnbezogene Rente, BAFöG auch für Schüler, Kuren für Altgediente, Schwerbehindertengesetz und was es da sonst noch gab an sozialen Verbesserungen. Nur, wann war das eigentlich, als das sozialdemokratische Ideal vom "Schutz der Menschen in Not, Krankheit und Alter durch die Gesellschaft" noch auf eine positive Maßnahme der SPD verweisen konnte? Und: Konnte dieser Schutz jemals mit materieller Abgesichertheit verwechselt werden? "Die Partei des 'Mehr'" (Bahr) hatte nie das soziale Netz mit einem Hilfsprogramm für Alte, Kranke und Arbeitslose verwechselt, immer mit dem Sozialstaat die Nutzbarerhaltung der Leute für das Gemeinwesen im Sinn gehabt und als unabdingbare Grundlage sozialer Leistungen wirtschaftliches Wachstum angesehen. Schon 1973 kam die Mär von den "machbaren Reformen" auf, daß es nämlich nichts zu verteilen gebe, wenn nichts zu verteilen da sei. Dies ist zwar eine bekannte Staatslüge, weil dieser nie und nimmer die Verteilungsinstanz des von seinen Bürgern geschaffenen Reichtums an diese ist, sondern für nichts geringeres sorgt, als daß den Vermögenden und den Besitzlosen genau das auch zukommt, was sie sich mit ihrer Klassenlage an "Verteilung" eingehandelt haben. Unverkennbar war aber die Absichtserklärung, daß fehlendes Wirtschaftswachstum und erweiterte Staatsausgaben auf jeden Fall zu Lasten der von Arbeit, Rente und Arbeitslosengeld lebenden Leute gehen muß. Ungefähr seit 1976 schon stiegen d ie Beiträge zur Arbeitslosen-, Renten- und Krankenversicherung in steter Regelmäßigkeit und sanken die "Leistungen" des Staats aus diesen Versicherungen dementsprechend. Aber nicht deshalb kam der "Rentenbetrug" 1976/77 zu politischen Ehren, sondern weil Helmut Schmidt vor der Wahl nicht gesagt hatte, was er natürlich erst nach der Wahl entdeckt haben (wissen) wollte. "Kostendämpfung" bei Gesundheit, bei den Renten, bei den Arbeitslosen waren die Reformen der nächsten Jahre. Der vielgelobte Schutz der Alten, Kranken und Arbeitslosen wurde gerade da zusammengestrichen, wo die Betroffenen ihn gerade und mehr denn je gebraucht hätten. Die letzten Jahre der Regierung Schmidt/Genscher waren ein einziges Sparprogramm für das Volk, während die Preise für alle Grundbedürfnisse munter stiegen. "Mieterschutz" endete in Vermieterhilfe. Wie um dem Vorwurf der konservativen Opposition, die SPD habe im Volk ungutes "Anspruchsdenken" hochgezüchtet, zuvorzukommen, bezichtigte der Sozialdemokrat, der Helfer aller Armen und Unterdrückten, sein Volk der "Verwöhnung" und warnte vor Mißbrauch des sozialen Netzes. Ab sofort galt der angebliche "Erhalt" des Sozialstaats als Parole der Sozis gegen die Gefährdung des sozialen Friedens durch die Konservativen, das konservative "Subsidiaritätsprinzip" bei sozialdemokratischen Solidaritätsfans als bedenkenswert. Gibt es eine bezeichnendere Charakterisierung des "kleineren Übels" als die Tatsache, daß die SPD just nach dem Machtwechsel 1982 dasselbe, was sie vorher dem Volk zugemutet hat, jetzt, da es die Konkurrenten von den C-Gruppen tun, mit "Klassenkampf von oben" anschwärzt?

"Staatsverschuldung" und "Krise"

Daß der Vorwurf, die SPD hätte in grenzenloser Nachgiebigkeit dem gierigen Volk gegenüber die BRD über beide Ohren hinaus verschuldet, mindestens ebenso ungerecht ist, zeigt nicht nur der erste CDU-Bundeshaushalt, zu dessen Finanzierung mehr Schulden gemacht werden als in der Vorlage der alten Regierung. Die Anklage, unter Schmidt hätte sich der Staat ausgerechnet für seine Bürger verschuldet und damit deren "Zukunft verspielt" unterschlägt, daß es die öffentliche Borgerei nicht einmal für die Gegenwart der Untertanen gegeben hat, geschweige denn für ihre Zukunft. Die Kreditaufnahme der öffentlichen Hand ging ja gerade einher mit der kräftigen Schröpfung der arbeitenden Menschheit über die Steuern, die Gebühren für staatliche Leistungen und den Zugriff auf das in den Sozialversicherungen deponierte zwangseingetriebene Geld der Pflichtversicherten. Und man kann jederzeit besichtigen, wohin das Geld gewandert ist: Die schimmernde Wehr der BRD wuchs in 13 Jahren sozialliberaler Koalition zur stärksten Armada des westlichen Bündnisses nach den USA heran und wo überall die Devise "Sparen" ausgegeben wurde, mußte die Bundeswehr auf kein einziges Waffensystem verzichten, das im Interesse "unserer Sicherheit" für unabdingbar erklärt wurde.

An der Regierung hat die SPD zunächst die Schuldenmacherei als "antizyklische Wirtschaftspolitik" vertreten und betrieben. Dabei brauchte sie keine Ahnung von den Gesetzen des kapitalistischen Zyklus zu haben. Sicher konnte sie sich mit den FDP-Ministern Friedrichs und von Lambsdorff darin sein, daß die staatlichen Kreditzettel die feine Eigenschaft haben, reales Geld in die Staatskasse fließen zu lassen und gleichzeitig als fiktives Kapital Grundlage blühenden Geschäfts in der Wirtschaft abzugeben. Damit haben deutsche Kapitalisten akkumuliert, rationalisiert und die BRD-Wirtschaft international konkurrenzfähig gemacht: Sowohl, was die Profite betrifft als auch mittlerweile in der Arbeitslosenstatistik. Der Beschluß der westlichen Staatenwelt, sich des jeweiligen Nationalkredits auch dann uneingeschränkt weiter zu bedienen, als die Überakkumulation - von Kapital die ihr folgenden Krisensymptome unübersehbar machten, wurde von der alten Regierung höchst erfolgreich in die Tat umgesetzt. Daß mit über 2 Mio. Arbeitslosen, ständigen Senkungen des Reallohns und einem "enttabuisierten sozialen Netz" die westdeutsche Arbeiterklasse in ihren noch angewandten Teilen durch vermehrten Einsatz für weniger Geld die Konkurrenzfähigkeit der nationalen Ökonomie im Vergleich zu den ökonomisch feindlichen politischen NATO-Brüdern erhielt - dies zu gewährleisten ist nicht zuletzt das historische Verdienst einer "arbeitnehmer-orientierten" Volkspartei. Daß die SPD-Regierung die Krise hierzulande durchgesetzt hat, kann ihr von den Nachfolgern nur propagandistisch zum Vorwurf gemacht werden. Die dafür verantwortlichen politischen Ziele hat sie geteilt.

Friedenskanzler - rüstet nach

"Im Mittelpunkt steht der Mensch" hieß es in dem noch 1975 verabschiedeten "Orientierungsrahmen '85", zu einem Zeitpunkt, als die Aufbruchsideale der SPD an der Macht längst nur noch der Zusatz zu den ganz normalen Staatsnotwendigkeiten waren, die die Konservativen auch nicht viel anders bewältigt hätten. Im Mittelpunkt der SPD stand im Gegensatz zu der obigen Ideologie tatsächlich der Mensch Helmut Schmidt, natürlich nicht als Mensch, sondern als Kanzler. "Der Kanzler", "der Macher", der als erfolgreicher Krisenmanager galt, der Kanzler in einer Zeit, da der BRD aus ihrem angeblich bloß ökonomischen Riesentum auch politische Macht in der Welt erwuchs (wobei das keine passive Angele genheit war), so daß die BRD im Weltkonzert der Großen mitreden konnte und Schmidt mit Bismarck verglichen wurde, der Lotse, der die Arroganz der Macht so gut verkörperte und Jimmy Carter Ratschläge gab, er war in den letzten zwei Dritteln der SPD an der Macht derjenige, der den Sozis die notwendigen Wähler einbrachte und die soziallibernle Koalition bis 1982 an der Macht erhielt. "Der Sozialismus ist eine dauernde Aufgabe (Orientierungsrahmen '85) - "10. Grund (für die Wahlen 1980): Helmut Schmidt".

Friedenskanzler wurde er dadurch, daß er Deutschlands errungene Größe repräsentierte, was so ziemlich gleichbedeutend mit "Sicherheit für Deutschland" ist. Helmut Schmidt nörgelte an der Unberechenbarkeit Jimmy Carters herum, machte den deutschen Waffenexport zu einer durchaus anständigen deutschen Angelegenheit, führte Italien seine Meisterung des sozialen Friedens vor, konnte auf vergleichsweise weniger Krisenerscheinungen in der BRD verweisen, setzte den Olympiaboykott durch - und hatte vor Afghanistan in Europa, also in Westdeutschland eine Raketenlücke entdeckt, die es aus Entspannungsgründen und zur Wiederherstellung des Gleichgewichts unbedingt zu schließen gelte. Schon wieder ein Grund, ihn für den Friedenskanzler überhaupt anzusehen. Helmut Srhmidt bestand auf der Doppelzüngigkeit des NATO-Nachrüstungsbeschlusses, wußte es als seine Leistung auszugeben, daß die Großmächte in Genf wieder miteinander (über unannehmbare Nullösungen) reden, besuchte Honnecker nach dem Ende der Entspannung, empfing Breschnew und warnte den Chef dieser Supermacht vor ünnötiger Überrüstung. Die Tragik dieses langjährigen Zugpferds der SPD bestand darin, daß er die "lästige" demokratische Pflicht zur ideologischen Deutung seines Herrschaftsgeschäfts noch immer mit der Erinnerung an sozialdemokratische Ideale von einst bestritt, die sich in der durch sozialdemokratisch bewerk stelligte nationale Erfolge ein wenig gewandelten Welt eher peinlich ausnahmen. Immerzu fiel ihm zu den steigenden Arbeitslosenziffern noch das sozialdemokratische "leider?" und der Vergleich mit Brasilien ein - statt eines kraftvollen: "Macht euch nichts vor, es werden noch doppelt so viele!" Immer noch wollte er den längst vollbrachten Fortschritt von der "Vorneverteidigung" (auf der Linie Wismar/Plauen) zur "flexiblen Vorneverteidigung, (auf der Linie Leipzig-Warschau-Ural...) unter das zwar verräterische, aber immer noch schönfärberische Motto gestellt wissen: "Verhandeln ist besser als schießen!" Am Ende konnte gar nicht ausbleiben, womit die sozialliberale Ära begonnen hatte: Die FDP, die sich im Lauf der 13 Jahre 3 Punkte zugelegt hatte, sah ihre Erfolgsaussichten in einem Wechsel der maßgeblichen Ideale besser aufgehoben und legte das freie Gewissen einer Mehrheit ihrer Abgeordneten auf den Alternativ-Helmut fest.

Noch im Abgang konnte Schmidt mit sich einen Erfolg (für die SPD) verbuchen. Er warf die FDP glaubwürdig hinaus, und schon bekamen die angeschlagenen Sozis wieder Aufwind. Wähler honorierten seine Souveränität. Anhänger des kleineren Übels erkennen in Helmut Schmidt den ansehnlichen Staatsmann, vor dem Helmut Kohl geradezu unanschaulich wirken soll. Die SPD, die angeblich immer ihre Reformidee, ihren Arbeitnehmerstandpunkt und ihre gesellschaftliche Qualität verraten haben soll obwohl sie nie den Makel des "kleineren Übels" verlor -, ist wieder voll 'in' bei Intellektuellen, Künstlern, Gewerkschaften und sonstigen Linken, seitdem der Ex-Kanzler so gut aussieht - im Vergleich - und dieser wie Brandt und Konsorten wieder mit sozialdemokatischen Ideologien rumholzt - aus der Opposition heraus.

Eine feine Bilanz ist das!