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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1982 erschienen.
BRD-DDR im politologischen Systemvergleich
IM OSTEN NICHTS NEUES
Was sonst jedem Politologen wie eine Sünde gegen sein Metier, das freie und kritische Erfinden von Gesichtspunkten, denen der eigene nationale Staat nachkommen sollte und denen dieser immer nur unvollkommen Genüge tun soll, vorkommt - also das undifferenzierte Lob der eigenen Herrschaft, das wird beim Systemvergleich zwischen "den beiden deutschen Staaten" zur ausgesprochenen Tugend.
Ganz egal, ob ein Fraenkel bereits seit Adenauers Zeiten mit seinem herzlichen Glückwunsch an die unbeugsame Haltung bundesdeutscher Politiker gegen den Osten diesen den Rücken stärkte oder ob ein Ludz die Wendung der Brandt-Regierung zu einer neuen Ostpolitik ("Entspannung durch Wandel" - des Ostens) mit seinen "Materialien zur Lage der Nation" untermauerte, bei der politologischen Kommentierung der "deutschen Frage" ist der unmittelbare Auftragsdienst für die praktizierte Politik die einzig erlaubte wissenschaftliche Verantwortung.
"Beide deutsche Staaten nehmen in ihrem Selbstverständnis abgrenzend aufeinander Bezug... Auf deutschem Boden spielt sich beispielhaft der Gegensatz zwischen westlichen Demokratien und kommunistisch regierten Ländem ab". (Kremendahl, Zur Problematik eines Systemvergleichs, in: Jesse, BRD und DDR, S. 302)
Das mag ja sein; nur wäre dann zu fragen, welcher Gegensatz hier ausgetragen und mit welchen Mitteln aufeinander "Bezug" genommen wird. Wenn der Politologe stattdessen die Bedeutsamkeit eines theoretischen Vergleichs von BRD und DDR mit diesem Hinweis betont, dann ist das nichts anderes als das Bekenntnis, einen geistigen Beitrag zu einer weltpolitischen Auseinandersetzung liefern zu wollen, von der allerdings auch der Politologe weiß, daß sie nicht geistig, sondern mit Gewalt entschieden wird. Das verschafft dem politologischen Systemvergleich auch sein einziges schlagendes Argument: die Gültigkeit der westlichen Freiheit, hier sowieso und als Anspruch gegen drüben. Das allein sorgt für die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit der einzigen Weisheit, die der dienstbare Politologenverstand dem Unterschied von BRD und DDR abzulocken vermag: drüben alles ganz anders als hier - weil ... und deshalb schlecht.
Alle angekarrten Vergleichsmaßstäbe und -zahlen sind "beispielhaft" für das Lob des Antikommunismus und der darin gut aufgehobenen nationalen Frage nach der "bisher ungelösten deutschen Einheit", und dies nur dadurch, daß der Erfolg der Politik, die mit dieser begleitenden Ideologie gemacht wird, für diese spricht. Politologischer Sachverstand beurteilt die Weltlage immer schon haargenau so, wie sie vom Westen hergestellt wird: Es kommt auf eine ganz grundsätzliche "Abgrenzung" vom Ostblock an und das hat dieser verdient, weil er nicht freiwillig seine Grenzen gegenüber dem freiheitlichen Westen niederreißt.
Systemvergleich des Systemvergleichs, oder: Objektivität contra Propaganda
Wenn östliche Kollegen dasselbe machen wie BRD-Politologen und die Überlegenheit des sozialistischen Systems im Vergleich bebildern, ist für die hiesigen die Verurteilung der DDR schon gelaufen. Ihnen tut sich am östlichen Systemvergleichswunsch eine Differenz auf, die sich aus einem unterschiedlichen Auftrag an die Wissenschaft ergeben soll.
Wissenschaft und Lehre sind in der Demokratie bekanntlich frei, "so will es das Grundgesetz, Artikel 5" (Löw). Dagegen "kann der totalitäre Staat"
"nicht darauf verzichten, auch die Wissenschaft in seine Dienste zu nehmen, ihr vorzuschreiben, was bewiesen werden soll und von welchen Prämissen auszugehen ist, m.a.W., was nicht in Frage gestellt werden darf." (Löw, Die Grundrechte, Verständnis und Wirklichkeit in beiden Teilen Deutschlands, S. 268)
Dazwischen liegt schon deshalb ein Abgrund, weil in der BRD das Eintreten für den Pluralismus die conditio sine qua non dafür ist, vom Staat "in Dienst" genommen zu werden (= es darf "nur" die FDGO als "Prämisse" des freien Denkens "nicht in Frage gestellt" werden, aber außer dieser grundsätzlichen Festlegung ist jede Meinung erlaubt.) - während man drüben die Staatsideologie "beweisen" muß. Deshalb kann man gerade den Ergebnissen der "östlichen Systemvergleiche" keinesfalls trauen: Sie stehen "im Dienst des Staates", sind also nicht objektiv, sondern stattdessen Propaganda für ihn. Die "einzig zulässige Methode" drüben soll nämlich die sein,
"die Gcgensätic der beiden Systeme zu nutzen, um ex negativo die Vorteile des eigenen Systems ins Bewußtsein zu heben... Die 'sozialistische Demokratie' wird permanent als die eigentliche, reale Demokratie hingestellt." (Kremendahl, a.a.O., S. 303)
Und das gehört sich ja wohl nicht, bzw. darf nicht wahr sein, was man unzweifelhaft schon daran feststellen kann, wie frei dasselbe hier vonstatten geht.
"Praktischer - und legitimer - Zweck ist (beim Vergleich der gegensätzlichen Gesellschaftsordnungen) die Werbung für die Grundlagen des eigenen Systems, der Aufruf zur bewußten Parteinahme für seine Werte und seine institutionelle Ordnung." (ebd.)
Worin soll eigentlich die angeblich so fundamentale Differenz von bewußter und erzwungener Parteilichkeit liegen? Denken die Parteigänger des hiesigen Staates auch bei ihren Kollegen im Osten nur an die Freiheit der wissenschaftlichen Staatspropaganda und beschweren sich in deren Namen über das dortige Unrechtsregime, das Politologen zu staatskonformen Aussagen zwingt, die sie doch ganz freiwillig abliefern wollen? Das ist offensichtlich eine schlimme Brüskierung des Geistes der Wissenschaft, der bei der Parteinahme für die eigene Herrschaft, weil sie ihm Dienstfertigkeit als selbständigen Auftrag zubilligt, mit Dummheiten zu Diensten steht. Objektives Urteil und Parteinahme für die eigene Herrschaft, die sich für den demokratischen Verstand ohne weiteres ausschließen, blickt er nur gen Osten, ergänzen sich innig, was die demokratische Wissenschaft betrifft. Sie ist - weit entfernt von jenem repressiven Zustand der Anleitung von oben - so frei, eben für die ganz, ganz eigentlich reale Demokratie Propaganda zu betreiben - per Analyse!
Glaubwürdige Propaganda soll nämlich schon herauskommen, und damit ist auch schon der ganze Widerspruch des Unterfangens benannt. Das Resultat soll sein, die DDR alt aussehen zu lassen - aber als Ergebnis einer wissenschaftlichen Begründung. Die moralische Verurteilung des "östlichen Systems", die von vorneherein feststeht, bedarf des Scheins der Argumentation über die Sache. Daß es um diese selbst - also eine Analyse von BRD und DDR - von vorneherein nie geht, ist der Selbstreflexion der demokratischen Wissenschaft, was ihr Vergleichsverfahren denn so leisten könne und solle, allemal zu entnehmen. Da werden von den Professoren, ohne daß sie der Staat an ihren Beamteneid erinnern müßte, Ansprüche an die eigene Tätigkeit angemeldet. "Was bewiesen werden soll" ist nichts als das anspruchsvoll ausgestaltete 'Pfui!' über den Sozialismus. Die ganz und gar freiheitlich-pluralistische Verlaufsform dieses selbstgeschaffenen "Problems" ist der endlose methodische Streit um den richtigen Maßstab des Vergleichs. Schlagen sich die einen auf die Seite des gewünschten Ergebnisses der moralischen Minderwertigkeit des Ostens, treten kämpferisch wider den Kommunismus auf und vernachlässigen die Attitüde der Objektivität - hält ihnen die "empirische Abteilung" vor, sich mit solcher Plumpheit am Geist der Wissenschaft zu vergehen:
"Die offensichtliche Neigung zu pro-domo-Urteilen gegenüber dem Totalitarisnius vertrug sich schlecht mit dem Anspruch einer wertfreien politischen Wissenschaft." (Sontheimer, Vergleichende Politikwissenschaft, in: Politische Wissenschaft heute, S. 118)
Pflegt umgekehrt die andere Fraktion die "Wertfreiheit", den Schein der Begründung ihres "Werturteils" aus den "Fakten heraus", bekommen sie den offenherzigen Vorwurf zu hören, die Ver-urteilung könnte dabei auf der Strecke bleiben:
"Bei der nüchternen Wiedergabe von Daten" bestehe die "Gefahr" der "Mißdeutung des Vergleichs" als "Gleichstellung" und "Billigung der politisch-ideologischen Zustände im anderen Teil Deutschlands." (Vgl. die Einleitung von Ludz in den "Materialien zur Lage der Nation" 1971, in der er diesen Einwand gleich selbst vorwegnehmend problematisiert.)
Ebenso eintönig wie dieser Streit um die systematischste Tour der theoretischen Verdammung des Ostens fallen denn auch die Resultate des Vergleichs aus.
Abteilung 1: Die DDR widerspricht dem Grundgesetz
"Unser Rechtsverständnis ist vom Rechtsverständnis in sozialistischen Staaten verschieden. Bei uns gilt das Recht, bis es von den zuständigen Organen auf die in der Verfassung vorgesehene Weise abgeändert wird. Das Recht ist überwiegend statisch. Es ist darauf Verlaß. Durch seine Berechenbarkeit dient es der Rechtssicherheit. So lange es gilt, ist es oberste Autorität. Nur in engen Grenzen kann es mit rückwirkender Kraft außer Geltung gesetzt werden. Anders i m Sozialismus! Dort ist die Partei oberste Autorität. Ihre Erkenntnisse und Erklärungen sind absolut verbindlich. Das Recht hat eine dienende Funktion. Es kann sich nicht in Widerspruch zu den Parteiaussagen setzen: 'Die Parteibeschlüsse interpretieren verbindlich, ob und inwieweit eine veränderte gesellschaftliche Situation (der Basis) erreicht ist und folgeweise sich die Anwendung und Handhabung der Gesetze ändem muß." (Konrad Löw, Die Grundrechte, S. 25 - Hervorhebungen im Original)
Auf etwas ist "Verlaß", ist im normalen Sprachgebrauch ja der Verweis auf etwas Positives; wieso sollte es sonst gut sein, wenn es so bleibt, wie es ist? Das soll es hier auch sein - bloß, wo bleibt das Argument dafür? Ohne jeden Hinweis auf irgendeinen Inhalt - da würde er sich auch schwertun mit "Vorteilen" des Rechts! - soll das bereits als Lob des Rechts gelten: toll, statisch! Zum "Argument" avanciert dieses Lob ausschließlich durch die unterstellte Gegensatzvorstellung: Es wird dauernd abgeändert ein ebenso blödsinniger "Nachteil". Was sollte denn ausgerechnet daran schlimm sein, wenn am Recht selbst nichts Negatives zu entdecken wäre? Der Mensch in der DDR als "orientierungsloses Wesen" - weil dort ja bekanntlich jeden Tag die Gesetzbücher auf den Misthaufen der Geschichte wandern, um durch neue ersetzt zu werden? Daß in der BRD das Recht, von der Verfassungsauslegung bis zur Rechtsverordnung, fortlaufend "gemäß der veränderten gesellschaftlichen Situation" abgeändert wird (was die Rechtstheorie hier schon lange zum Anlaß für dieselbe Debatte um Statik versus Dynamik nimmt), kann Herrn Löw schlechterdings nicht entgangen sein; stört ihn aber auch nicht weiter. Die bloße Gegenüberstellung von "Dauer" versus "immerfort wird's geändert" ohne jeden Inhalt, der mit dem Recht den Leuten als Vorschrift aufgemacht wird, läßt den Politologen erschauern. Damit soll bereits ein ganz übles Licht auf die Herrschaft in - der DDR fallen!
Der Abgrund zwischen Demokratie und Diktatur fällt sogleich ins Auge: Solange das Recht nicht aufgehoben wird, gilt es - und das gilt dem wissenschaftlichen Agitator bereits als hinreichend für die Deduktion, es sei ausgerechnet dadurch - der alleroberste Souverän. Logo: Solange die zuständigen Organe nichts Gegenteiliges beschließen, sind ihnen ihre Normen ganz schön über. Weil dort das "zuständige Organ", das das Recht setzt, SED heißt bzw. Volkskammer, die nichts anderes als die SED ist, soll die "Rechtssetzung" von einem Akt der Unterordnung des Staats unter seine eigenen Prinzipien zum Gegenteil werden; während hier "das Recht" als Subjekt der Politik ehern darüber wacht, daß die SPD bzw. die CDU sich nicht fortwährend an den Zwecken vergehen, die sie als "zuständiges Organ" Parlament (ganz unverbindlich?) für rechtens erklärt haben...
Das Recht soll vom Souverän zum Mittel werden, weil sich die Figuren abwechseln, die e s machen? Hat die Propaganda für die Demokratie solche Gedankenarmut nötig? Schreiten wir also zur
Abteilung II: Die DDR - Inkarnation der Unfreiheit
"Der totale Staat verneint die Existenzberechtigung verschiedener, miteinander konkurrierender politischer Gruppen und Willensäußerungen... Damit stebt er im strikten Gegensatz zur liberalen oder pluralistischen Demokratie. Sein Ziel ist die Beseitigung aUer persönlichen, staatsfreien Freiheitsrechte und die Auslöschung des Individuums." (Ernst Fraenkel, Stichwort Totalitarismus, in: Fischer-Lexikon Staat und Politik, S. 328)
Auch hier kommt der Politologe - auf den ersten Blick - ohne eine Aussage über das aus, was Politiker hüben wie drüben mit ihrem Volk anstellen. Die DDR ist "total", weil sie nicht unser schönes Vielparteiensystem besitzt, das wegen der Wahlerfolge der Grünen auch schon einmal aus berufenem Mund für "unregierbar" erklärt wird. Die hier "miteinander konkurrierenden politischen Gruppen", deren Streit heute darum geht, wer dem Volk die härteren Wahrheiten mitteilen darf, gehören zu dem, was ein Politologe für eine "gute Herrschaft" für unabdingbar hält. Schließlich sind sie in der BRD ansässig. So kommt der pure Augenschein, von dem der Politologe bei seinem Vergleich ausgeht, zur Ehre eines wissenschaftlich abgesegneten Urteilsresultats: Beurteilung verbietet sich, wo Verurteilung ansteht. Die DDR ist nicht bloß anders, sie ist ganz und gar undemokratisch anders.
Nun mag die DDR ja die "bürgerlichen Freiheiten" abgeschafft haben - aber abgesehen davon, daß Fraenkel meint, dies sei ein unverzeihliches Verbrechen -, stellt sich immer noch die Frage nach dem Wozu? Soll das vielleicht ein Zweck von Herrschaft sein, alles, was hier angeblich den Witz ausmacht, nicht gelten zu lassen?
Diese Differenz, die der Totalitarismustheoretiker Fraenkel aufmacht, kann's jedenfalls nicht sein. Die "totale Überwachung" und permanente Gängelung der Bevölkerung als Selbstzweck des DDR-Systems ist ein Widerspruch in sich. Selbst das dämliche Horrorgemälde von der "Auslöschung des Individuums" - als könnte drüben kein Mensch in die Kneipe gehen, ohne vom "Stasi" verfolgt zu werden! - unterstellt noch ein positives Interesse der Herrschaft am Tun und Treiben ihrer Untertanen. Wieso sollte sie sie sonst überwachen wollen? Die bloße Negation dessen, wie es hier zugeht, als positiven Zweck der Herrschaft drüben zu verkaufen, kann auch nur einem Demokratiefan einfallen, der umgekehrt an der Demokratie keinen anderen Inhalt als die Wahrung der Rechte wahrnehmen möchte. Fragt sich nur, vor wem die immerzu geschützt werden müssen, wenn sie so nützlich und dem Glück des Individuums so bekömmlich sind und der sie gewährende Staat keinen anderen Zweck haben soll, als sie zu bewahren? Wenn es das wirklich wäre, wäre der demokratische Staat nebenbei bemerkt überflüssig - was ein Politikwissenschaftler über seine Herrschaft natürlich zuallerletzt gesagt haben möchte. Vielleicht sollte sich der Politologe einmal überlegen, was er eigentlich mit seiner Verurteilung der DDR implizit über die von ihm geschätzte BRD-Freiheit gesagt hat. Deren ganzes Lob soll darin bestehen, daß es hier keine "totale Überwachung" braucht, weil die Bürger ihre Freiheitsrechte ganz freiwillig an die Parteien abgetreten haben, die über sie entscheiden? Wieso fällt dem Politologen beim Individuum und dessen "persönlicher Würde" immer nur die Frage ein, ob und wie es sich untertänig zu seiner Herrschaft stellt und niemals das, was es für sich vom Leben hat? Seine Botschaft ist: Der Mensch geht in seiner ganzen Person in der Zustimmung zu den Politikern auf, die Staat mit ihm machen; wenn ihm dies nicht erlaubt wird, ist das Individuum "ausgelöscht". Das soll ein überzeugender Unterschied sein? Schließlich ist das einer, der noch nicht einmal stimmt. Auch in der DDR laufen die Bürger als Opportunisten ihrer Herrschaft herum, die wie der "kleine Mann auf der BRD-Straße" ihr Leben hauptseitig mit Arbeit verbringen und sich die Freizeit nach ihrem Geldbeutel einteilen müssen.
Sei's drum! Auch auf dem Gebiet, wo der Politologe "Demokratie" und "Diktatur" miteinander vergleicht - ein Vergleich, den schon die Wortwahl entschieden hat - gestaltet sich dieser höchst simpel. Gemessen an den Kriterien guter Herrschaft, die alle mal mit denen der "liberalen Demokratie" zusammenfallen, so wie Fraenkel sie sich ausdenkt, erweist sich die DDR einwandfrei als U n-Staat.
Abteilung III: Die DDR - eine mangelhafte Realisierung des Ideals der Volkssouveränität
Ganz so drastisch wie der Totalitarismustheoretiker möchten Sontheimer/Bleek das Verdikt über den "zweiten deutschen Staat" nicht formulieren; aber um eine Scheindemokratie handelt es sich allemal.
"Die Wahlen zur Volkskammer... lassen sich mit Wahlen im westlichen Sinne, bei denen der Bürger die Freiheit der Entscheidung zwischen personellen und zum Teil sachlichen und weltanschaulichen Alternativen hat, nicht vergleichen. Die Möglichkeit der Wahl, d.h. Auswahl zwischen Personen und Parteien, entfällt, da... dem Volk stets eine Einheitsliste vorgelegt wird." (Sontheimer/Bleek, Die DDR, S. 106)
Wären die Entscheidungen der Politiker, die diese über ihr Volk treffen, diesem immer so gut bekömmlich, wie sich das politologische Staatslob das ausmalt, dann könnte auf diese Verurteilung der Pseudowahlen in der DDR gepfiffen sein. Die Untertanen hätten ihre guten Gründe, für die sozialistische Einheitspartei zu sein; warum dann nicht so einhellig und einstimmig, wie sich der Politologe die Zustimmung zum Staat doch immer wünscht?
Die Blamage des SED-Staats, der keine "echten Wahlen" zuläßt, ohne daß auch nur ein Wort über das zu fallen braucht, was Politiker hüben und drüben mit der Macht anfangen, die sie als Volkswillen exekutieren, spricht eben nur eine Wahrheit über das Herrschaftsideal aus, das Politologen haben. Den von ihrem Staat Gedeckelten möchten diese Wissenschaftler nur einen Herzenswunsch zusprechen und erlauben: durch ihre überzeugende Zustimmung zu einer starken "Souveränität" der Staatsgewalt beizutragen. Hier geht das in Ordnung, weil durch das Angebot alternativer Führungsfiguren aus der Ermächtigung der Politik, der Abtretung des politischen Willens der Bürger in der Wahl deren schieres Gegenteil, nämlich die machtvolle "Betätigung der Souveränität des Volkes" werden soll; drüben entdeckt der Politikwissenschaftler mangels ebensolcher Figuren die Wahl als - Akklamation der Herrschaft! Wenn hier der Parteienstreit darum geht, welche Figuren die Macht ausüben dürfen, und die Wahlversprechen der diversen Parteien sich darauf zusammenkürzen, dem Volk nur unangenehme Folgen der Machtausübung anzukündigen, gilt das Lob der alternativen Wahl auch nur der politologisch ausgemalten Gewißheit, wie umstandslos die "Staatssouveränität" mit denen umspringen kann, die alle vier Jahre durch ihre Freiheit zur Zustimmung die Politiker an der Macht und ihre eigene Unterwerfung bestätigen.
Witzigerweise verfällt ausgerechnet der gute Sontheimer beim Blick auf die DDR auf den Einfall, daß nur in der BRD der Volkswille ganz einheitlich im starken Staat aufgehoben ist, also derselbe Politikwissenschaftler; den ansonsten nichts so sehr bewegt, wie den Politikern in düsteren Farben die Gefahr auszumalen, die ihrer Herrschaft von dem unzuverlässigen Volk droht. Der Zwang, sich zur Wahl zu stellen, macht die Lieblingsfiguren des Politologen ja geradezu abhängig von ihren westdeutschen Untertanen, in denen Privatdetektiv Sontheimer, angefangen von den "zersetzenden Intellektuellen", lauter potentielle Staatsfeinde oder zumindest Störelemente entdeckt. Fast möchte man meinen, dieser Entlarver von Staatsgegnern wäre in der Heimat der "Einheitsliste" besser aufgehoben.
Aber was soll's? Gegen die DDR ist jedes Dementi des eigenen Verstands nicht nur erlaubt, sondern gefragt, und für den Opportunismus des Politologen bemißt sich die Überlegenheit der Demokratie ja auch nicht wirklich an den sie begleitenden Idealen einer durch und durch volksfreundlichen Herrschaft, sondern an der praktischen Härte des BRD-Staates gegen den Feind im Osten wie gegen jeden erfundenen oder entdeckten Unmut im eigenen Volk.
Abteilung IV: Die DDR - eine ineffektive Industriegesellschaft
"entlarvt" ganz innerpolitologisch die bedingungslose moralische Verurteilung des "ostdeutschen Staates" durch die Kollegen als "Pseudovergleich" mit den "westlichen Verhältnissen als Vergleichsmaßstab". Gegen die zu abstrakten Prinzipien guter Ordnung idealisierten demokratischen Verfahrensweisen wird die Notwendigkeit eines objektiven Maßstabs für gelungene Ordnung propagiert: Ein "systemunabhängig" gewonnener müßte es sein, der gleichermaßen "auf beide paßt". Ein rationeller Vergleich kann daraus leider auch nicht mehr werden, weil das Anliegen, ein "tertium comparationis" in Absehung von dem, was verglichen werden soll, als Bedingung des Vergleichs zu gewinnen, schon ein Fehler ist.
Die sich selbst "empirisch" nennende Abteilung des Systemvergleichs streicht nämlich erst einmal durch, daß es sich hier um eine kapitalistische, da um eine sozialistische Gesellschaft handelt, indem sie sie "wertfrei" gleichermaßen als "Industriegesellschaft" charakterisiert. Das industrielle Produzieren, m.a.W. die Herstellung von Gebrauchsgütern in großem Maßstab soll das Prinzip sein, das beide bestimmt? Klar: hüben und drüben wird "Großerzeugung" von Produkten betrieben - bloß: Was soll das über das Prinzip der Produktionsweise aussagen, außer, daß sie beide sich (groß statt klein!) in ihren Ausmaßen von früheren unterscheiden? Müßig, darauf hinzuweisen, daß es hüben und drüben in je ganz anderer Weise auf den bestimmten Gebrauchswert von Produkten nicht ankommt - der Politikwissenschaftler hat mit der Aufstellung seines Maßstabs ja gerade beschlossen, sich für die bestimmten ökonomischen Unterschiede nicht zu interessieren. Schließlich dient die Abstraktion "Industriegesellschaft" dazu, von ihr gewisse Imperative an die Politik schlechthin ausgehen zu lassen:
"Optimal strukturierte großgesellschaftliche Organisationen, rationale Entscheidungen, funktionale Autorität werden - im Zeichen des weltweitenökonomischen Wettbewerbs - auch (!) für sozialistische Industriegesellschaften gefordert." (Peter Christian Ludz, Parteielite im Wandel, 1968, S. 323)
Ganz getrennt vom Inhalt der Produktionsweise wird hier so getan, als ginge vom bloßen Produzieren eine Anforderung aus: Das will geregelt sein; und das ist für einen Politologen gleichbedeutend mit: Da muß Politik gemacht werden. Mal ganz davon abgesehen, daß Ludz sich die Organisation der Produktion durch den "sozialistischen Staat" wegdenkt und so der Gesellschaft eine "Eigendynamik" zuschreibt, die als "Sachzwang" auf den Staat wirkt - wozu bräuchte es die Herrschaft drüben wie hüben denn, wenn sie - nichts anderes wäre als technische Regelung? Tät's dann ein Computer nicht genauso gut, wenn's um "rationale Entscheidungen" "große Organisationen" betreffend geht?
Effektivität in Sachen Lenkung der Produktion als wertfreier Maßstab, das ergibt eine ebenso wertfreie Abqualifizierung der DDR: dasselbe wie die BRD, bloß weniger gut. Ludz dreht originellerweise den Grundgedanken der Totalitarismustheorie ("Die Partei lenkt alles!") um, indem er sich die SED wegdenkt, und von der "eigengesetzlichen" Gesellschaft an diese gewisse technische Anforderungen ausgehen läßt. Denen wird dann wiederum die Beschaffenheit der SED als sozialistische Partei als Schranke für die Effektivität des "Gesamtsystems" gegenübergestellt. Sozialismus wird so zu einer Variante dessen, was angeblich hierzulande läuft (= Sachlichkeit, Eingehen auf die "Zwänge des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts", Rationalität); bloß daß es die Politik in Sachen Flexibilität nicht so bringt wie im Kapitalismus, weil sie irrationalerweise am Sozialismus klebt. Das kann nicht zusammenpassen, Modernität, Rationalität, effektive Herrschaft - und diese verstaubte Ideologie! Das gibt notwendigerweise einen
"Zusammenprall einer genuin geheimbundartigen, bolschewistischen Kaderpartei, der SED, mit der Dynamik der industriellen Gesellschaft..." (Ludz, S. 21); da steht das "Beharrungsvermögen jener marginalen Führungsgremien, die Aufrechterhaltung jener nicht aufgebbaren Distanz der Gesellschaft gegenüber bei gleichzeitiger Anpassung in industrielle Organisationsformen". (ebd., S. 31)
Mit den politischen Zwecken und Taten der Partei hat das, was drüben läuft, dann nur noch insofern etwas zu tun, als sie einerseits vom Sachzwang getrieben werden soll, sich "anzupassen". Ja, an wen wohl? Die Erinnerung an den "weltweiten ökonomischen Wettbewerb" gibt da einen kleinen Hinweis! Darum soll sich die Partei notgedrungen auch bemühen - durch "Heranziehen von Fachleuten" und "Ausbildung von Kadern", die "offen" sind "gegenüber den Erfahrungsgehalten der modernen Welt". Andererseits kann das per definitionem nicht gelingen, weil die SED am "ideologischen Erbe" festhält. Die Zwecke der Partei kommen also durchaus vor - als Hindernis für das eigentlich Notwendige. Was also ist die Planwirtschaft? Eine durch sozialistische = inflexible Politik gehemmte, deshalb ineffektive Form, das allgemein menschliche Problem des Produzierens zu lösen, für das Ludz schon ein nachahmenswertes Vorbild wüßte!
Fazit: Fortschritte in Theorie und Praxis
In letzter Zeit ist es um die Aufgabe des eigenen Faches, im "Systemvergleich BRD-DDR" den Anspruch des Westens auf eine Endlösung des Ostens und der "deutschen Frage" ideologisch am Leben zu erhalten, ziemlich still geworden. Die Bebilderung der eintönigen Weisheit: 'BRD gut, weil DDR schlecht!' mit allen einschlägigen Vergleichszahlen ist gelaufen - es ist kein Thema mehr, an dem sich wissenschaftliche Originalität entzünden könnte. Heutzutage wird der Auftrag, den Politologen sich hier selbst gestellt haben, nur noch in der methodischen Frage gewälzt: Verfügen wir überhaupt über einen Vergleichsmaßstab, oder lassen sich allenfalls Teilbereiche vergleichen?
Die matte Bescheidenheit, die in der Politologenzunft eingetreten ist, blamiert und ergänzt sich jedoch bestens mit der fortgeschrittenen erfolgreichen Abwicklung des praktischen Vergleichs. An dem, was der freie Westen an Ruinierung der ökonomischen und Aufweichung der politischen Basis des Ostblocks zu Wege gebracht hat, entdecken Politologen unisono mit den Herren, die den Stand des "Ost-West-Verhältnisses" festlegen, daß selbst der theoretische Vergleich ein Zugeständnis an ein ganz und gar überholtes System sein soll. Von Kohl ist ein ähnlicher Auftrag an die Politikwissenschaft nicht mehr zu erwarten, mit dem Brandt zu Beginn der Entspannungsära einen ihrer Kollegen, Peter Christian Ludz, beehrte. Dafür weiden aAer die handfesten Lehrresultate dieser Disziplin verstärkt in der staatsbürgerlichen Erziehung berücksichtigt: In Bayern z.B. ersetzt seit neuestem "Die deutsche Frage" das Thema "Entwicklungshilfe" im Sozialkundeunterricht.
Daß der "bloße" Antikommunismus, also der gute Glaube an die Überlegenheit westlicher Werte nicht ausreicht, um der DDR und dem gesamten Osten das Lebensrecht zu bestreiten, war Politologen immer schon klar. Deshalb konnten auch rechte Vertreter dieser Zunft mit gutem Recht von sich behaupten, mit ihrem "Systemvergleich" zur Überwindung eines "naiven Antikommunismus" beizutragen. Daß es dennoch die Demokratieideale sind, die als einzige Lebensrecht auf der Welt beanspruchen dürfen und den östlichen Völkern zu ihrem Glück aufgezwungen gehören, entnimmt der Politologe durchaus auch heute noch den Fortschritten der praktischen Politik - und zieht aus der Tatsache, daß sich mit den Fortschritten die Werte einer wirklichen Demokratie für das Volk auf die Freiheit zusammenkürzen, für den Westen einstehen zu dürfen, die jetzt passende Konsequenz.