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Dieser Artikel ist in der MSZ 5-1982 erschienen.

Systematik

Das Ausland zum Regierungswechsel
DER VORKRIEGSKANZLER MUSS SICH BEWÄHREN

Im ersten Moment könnte man glauben, sie lügen entweder absichtlich, oder sie sind mit Blindheit geschlagen. Die Deutschland-Korrespondenten der amerikanischen "Newsweek":

"Die schärfste Kritik schlug einer Empfehlung des Arbeitsministers Norbert Blüm entgegen, die Regierung solle einen 6-monatigen Lohnstop in Erwägung ziehen. Ernst Breit, Chef des gigantischen DGB, sagte daraufhin, eine solche Maßnahme würde die Konsumentennachfrage noch mehr drücken und die Arbeitslosigkeit verschärfen. Kohl versuchte sich als Friedensstifter. Aber während eines Treffens mit Breit in angespannter Athmosphäre gelang es ihm offensichtlich auch nicht, diesen Vorschlag wieder zurückzuziehen - und damit dürfte er für die Zukunft für den sicheren Eintritt weiterer Konflikte mit der Gewerkschaft gesorgt haben. Diese Episode war typisch für Kohls Unbeholfenheit während seiner ersten Arbeitswoche." (Newsweek 19/82)

Die Amerikaner machen den Helmut Kohl sogar zu einem möglichen Russenfreund, der einen Sowjetdiplomaten äußerst freundlich empfangen haben soll, unbedingt an der Ostpolitik festhalten will, und sich um die Verbesserung der deutsch-amerikanischen "Bande" noch überhaupt nicht gekümmert habe.

Da denkt man nun, der bundesdeutsche Frontstaat habe den Kanzler, den er sich erträumt, und die imperialistische Umwelt wäre begeistert - und dann bekommt er nur böse Worte:

"'Helmut Kohl', sagte ein westeuropäischer Diplomat diese Woche, 'hat in seiner ersten Woche überhaupt nur eines bewiesen; daß er von Außenpolitik keine Ahnung hat'. Kohls erste Woche im Amt trug wenig dazu bei, Vertrauen in die neue Regierung zu schaffen." (ebd.)

Auch die europäische Presse erwartet sich von diesem Kohl anscheinend überhaupt nichts. Die Engländer werden gerade zu frech -

"...ein großer Mann macht Platz für einen langen." (Guardian) -

die Franzosen hätten sich einen mit Charisma vorgestellt -

"Es gibt kaum Beobachter, die H. Kohl die Schulterbreite eines Chefs zumessen.

Er ist nur zufällig da angekommen, wo er ist, aber es fehlt ihm jenes 'Charisma', ohne das man keinen Bestand vor der Macht haben kann.

Wird H. Kohl ein transitorischer Kanzler sein?" (Le Monde)

und die Italiener halten ihn für einen Schönwetter-Kanzler:

"Viele sehen schon die Verschärfung sozialer Spannungen voraus, die sich in der Wiederaufnahme terroristischer Aktivitäten entladen könnten... Unter diesen Umständen ist Kohl sicherlich nicht der geeignete Mann." (Corriere della sera)

Den Hinweis, daß das alles wohl nicht stimmen kann, liefert "Le Monde" gleich mit:

"Höchste Kurswerte der DM seit Jahren" -

aber nur um daraus eine Instabilität besonders bedrohlicher Natur zu machen:

"Ein verrücktes Land, wo die Eröffnung einer politischen Mehrheitskrise nach 13 Jahren Stabilität das Geld steigen und die Finanzmärkte aufjauchzen läßt."

Während die Amerikaner ziemlich "sachlich" das ganze "Problem" in der Durchsetzungsfähigkeit des neuen Kanzlers sehen, machen die Europäer schon eine tiefe politische Krise daraus:

"Die Last der Krise Macht

die ökonomische Krise die Demokratien unregierbar? Man kann die Frage stellen ANGE-unregierbar? Man kann die Frage stellen angesichts Herrn Schmidts und seiner Regierung, Unzufriedenheit, die überall in Europa ein bißchen dafür sorgt, daß die Ausscheidenden alle politisch begründeten Ettiketten verlassen."

"Der Fall der BRD ist noch spektakulärer, weil dieses Land besser und länger als alle anderen der Rezession widerstanden hat." (Le Monde)

Um daraus zu folgern:

"Das Problem interessiert ganz Europa und die westliche Welt. Ein bedrängtes und unsicheres, vielleicht unregierbares Deutschland hätte erschütternde Wirkungen auf die intemationalen Beziehungen und in erster Linie auf die angrenzenden Länder. Ist Westdeutschland, zeitweilig der Faktor des Gleichgewichts, dazu bestimmt, der Herd der Schwäche Europas zu werden?" (Corriere della sera)

Die ganze Bezweiflung des Helmut Kohl von dem man nun wirklich nicht behaupten kann, ausgerechnet ein Ernst Breit würde ihn revolutionär bedrohen, oder er ließe es an Standhaftigkeit zum westlichen Bündniszweck mangeln - verrät einen maßlosen imperialistischen Anspruch: Dieser Mensch hat nicht nur ein einigermaßen akzeptabler Kanzler einer wichtigen Bündnisnation zu sein, sondern er hat - grad nachdem die zweifelhafte SPD vom Ruder weggebracht ist - sämtliche Ansprüche des Imperialismus an totale Führerschaft in vorbildlicher Weise zu erfüllen. Noch das leiseste Zeichen von Unzufriedenheit bei den Gewerkschaften wird als soziale Unruhe zu betrachten sein, das Bekenntnis zum Bündnis hat tagtäglich mit viel Geld und Waffen zu geschehen. Es gibt freilich einen Unterschied zwischen einem amerikanischen und einem europäischen Journalisten: Der Amerikaner fordert vom Standpunkt der Führungsmacht die zu erbringenden Leistungen ein; ein Europäer betreibt mit der Beschreibung dessen, was die europäische Vormacht zu leisten hat, Agitation nach innen. So nebenher rechnet er sich noch die Möglichkeit einer kleinen Verschiebung des Kräfteverhältnisses aus:

"Nur eine schwächere, ärmere und weniger einflußreiche Bundesrepublik wird ihren bisherigen überragenden Platz möglicherweise an Großbritannien abtreten, wenn die Londoner Regierung den Willen dazu hat." (BBC-Kommentar zum Regienngswechsel)

Das nicht-imperialistische Lager

zeichnet sich leider wieder dadurch aus, die Ideologien seines Feindes ernst zu nehmen:

"Tiefe Krise am Rhein" (Neues Deutschland)

Während also die westliche Presse mit der "Regierungskrise" eine geheuchelte Sorge verbindet - in Wahrheit auf eine Verschärfung dringt -, erfüllt den Osten die "Krise" mit wirklicher Sorge. Er zieht daraus nicht den Schluß, daß dies der eigenen Sache nur zugute kommen kann, sondern - daß die so sehr wichtigen und unter der Sozialdemokratie ausgebauten Beziehungen gefährdet seien:

"Unberechenbarkeit... oder gar ein scharfmacherischer Kurs?" (Neues Deutschland)

Die Verwandlung des imperialistischen Fortschritts in eine mögliche Verschlechterung der Beziehung verrät nicht nur noch einmal die illusionäre Betrachtung vorhergegangener BRD-Außenpolitik, sondern mag auch den neuen Kanzler nicht voreilig abkanzeln

"Kohl will eine Politik der Mitte machen." (Prawda) -

und entdeckt zu diesem Behufe an ihm objektive Schwächen, historische Schranken:

"Die vielen Erklärungen H. Kohls... zeigen, daß die Partei der christlichen Demokraten, die zur Zeit kein reales Alternativprogramm besitzt, sich bemüht, die Durchführung vorfristiger Parlamentswahlen hinauszuzögern." (Prawda)

Dem "unberechenbaren", womöglich "scharfmacherischen" Kohl haben nämlich - diese hoffnungsvolle Perspektive darf eben nie fehlen, selbst wenn sie rein defensiv ist - die Massen schon die Schranken aufgezeigt:

"Die Hessenwahl... war... ein Ausdruck der Stimmung breiter Volksmassen, die eine Wende des Landes nach rechts nicht wünschen." (Prawda)

Es spricht nicht für die Entschlossenheit der großen und mächtigen Sowjetunion, der imperialistischen Offensive zu begegnen, wenn sie ihre Hoffnungen ausgerechnet aus den hessischen Wählern bezieht...