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Goethe-Jahr (I)
EIN KLASSIKER FÜR SCHWERE ZEITEN
"Der Umgang mit Goethe läßt uns erkennen, welche Möglichkeiten im Deutschsein liegen" (Carstens)
Dieser Kernsatz aus der Festansprache des Bundespräsidenten zum 150. Todestag Goethes erregte keinerlei Aufsehen. Solche Töne hat man zwar in (Bundes-)Deutschland von höchster Stelle lange nicht mehr gehört; aber gegraust hat sich so wenig einer, wie Erinnerungen an die früher einmal vieldiskutierte Vergangenheit des Festredners laut geworden wären. Die öffentliche Meinung hielt es stattdessen mit der SZ: "Keinen Streit kann es geben, die schlichten Wahrheiten des Bundespräsidenten betreffend." Die Feiern zum Goethe-Jahr und ihre Kommentierung geben genau über dies Auskunft: was der staatsbürgerliche Verstand anno 1982 schon alles für "schlichte Wahrheiten", also selbstverständlich hält. Um Goethe geht es dabei nicht.
I. Vom ideellen Lohn, ein Deutscher zu sein
Carstens machte in seiner Rede auch gar kein Hehl daraus, daß die Feierstunde für den verblichenen Dichterfürsten der Feier von etwas ganz anderem diente:
"Die Art, wie wir Goethes gedenken, kann nicht oder doch nicht hauptsächlich im Sinne des Vorzeigens des Besitrergreifens, der bloßen Traditionspflege, des Einverleibens in einen Kanon nationaler Heiligtümer vor sich gehen. Ein solcher Goethe wäre uns nichts nütze, wir würden einen Toten feiern."
Und was ist das Lebendige an diesem teuren Toten, dessen Feier "uns" nütze ist? 5ir beantwortet "uns" die Frage der Stunde:
"Woher, wenn nicht aus den Werken unserer grossen Dichter, wollten wir wissen, was deutsch ist und woran wir uns halten, worauf wir auch als Deutsche stolz sein können?"
Daher weiß es natürlich auch der Bundespräsident nicht. Aus dem bloßen Umstand, daß der große Dichter ein Deutscher war, folgt ja in keiner Weise, daß Grund und Inhalt seiner Dichtung ausgerechnet sein "Deutschsein" gewesen ist. Aber es wäre ohnehin verkehrt, Carstens als Theoretiker zu beurteilen. Wenn der oberste Repräsentant der BRD in den Mittelpunkt seiner Befassung mit Goethe dessen Lehren für das Deutschsein stellt, dann aus dem politischen Beschluß heraus, genau das ins Gespräch zu bringen. Das deutsche Volk soll von seinen gebildeten Ständen - mit der Festrede als erste angesprochen - dazu angehalten werden, anhand Goethes wieder daran zu denken, welcher bedeutenden Nationalität es doch angehort. Dieser ideelle Lohn der Opfer, die ihm von der stattfindenden Politik aufgebürdet werden, wird dem gemeinen Mann (soweit er es überhaupt mitkriegt) von seinem Präsidenten in der Pose des "schlichten" Moralisten ausgemalt - und entpuppt sich erst recht als Katalog von Forderungen. Nicht einfach das Glück, einem Volk der Dichter und Denker anzugehören, wird da propagiert, sondern der Anspruch, den es bedeutet, dieses "Glücks" teilhaftig zu sein.
1.
Und das heißt erst einmal, sich positiv zu allem zu stellen, was einem abverlangt wird:
"Goethe sagte von sich selbst, er ehre und liebe das Positive, und er ruhe selbst darauf, insofern es nämlich von alters hier sich immer bestätige und zum wahrhaften Grund des Lebens dienen möge. Und nichts sei ihm fremder als die Tendenz der Zeit, alles ins Schwache und Jämmerliche herunterzuziehen."
Wo Carstens nur die Tendenz unserer Zeit herhat, "ständig vom Leid und Jammer der Erde zu klagen" oder sich gar dem "ewigen Negieren", dem "Widerspruchsgeist aus Prinzip" zu verschreiben? Diese angebliche Zeithaltung hat doch nur er, der Politiker mit seinen intelektuellen Nachbetern, in die Welt gesetzt, um sie desto entschiedener zu bekämpfen! In der Sicherheit, daß auf die von der bundesdeutschen Staatsmacht Betroffenen noch einiges zukommt, antizipiert der Präsident eine Unzufriedenheit, von der gar nichts zu sehen ist -
"unzufrieden, wie schon alle sind, hetzt einer den anderen in noch größere Unzufriedenheit hinein" (Zitat Goethe) -,
um für eine ganz gegenstandslose Zufriedenheit gleich die Methode zu verabreichen, wie sie zu erhalten ist:
"Einer Zeit, die wie die unsere sich so problematisch vorkommt, der sollte man vielleicht Goethes Hinweis ins Stammbuch schreiben, daß die größte Kunst darin bestehe, 'ein Problem in ein Postulat zu verwandeln', also in eine Anstrengung zur Lösung des Problems. ... Der Schlüsselbegriff den Goethe uns für die Überwindung derartiger Empfindungen und Anwandlungen selbst an die Hand gibt, heißt Tätigkeit."
Fürwahr "schlichte Wahrheiten" - ein ganzer präsidialer Sermon nur dazu, jedes von der Politik ihren Untertanen aufgemachte Problem (und zwar so grundsätzlich, daß keines genannt werden muß) als Aufgabe für die Betroffenen zu idealisieren, deren Betroffenheit mit schöner Arroganz als "Sich-problematisch-Vorkommen" bzw. "Anwandlung" abgetan wird. Je mehr man dann bei der Bewältigung der fraglosen Notwendigkeiten mit anpackt, die "von alters her sich (!) immer bestätigen", desto mehr kann man sich
"freuen an der Natur, an der Welt und an all dem Großen und Schönen; was sie birgt und an dem wir teilhaben (!) können".
Kraft durch Freude: Carstens SC.
2.
Dieser Wandervogel-Idealismus will seine Grundlage nicht verschweigen: daß es sich um ziemlich harte Ansprüche der Politik handeln muß, wenn eine so grundlos zustimmende Haltung zu der Ausfüllung des "Deutschseins" heute gehört. Weshalb es nicht langt, fröhlich zuzupacken, sondern auch eine gehörige Portion Mut aufgebracht werden muß:
"Goethe heißt uns, Angst und Schwäche hinter uns zu lassen und uns mutig der Forderung des Tages zu stellen. ... 'Mein Leben ein einzig Abenteuer', so sagte er. Aber mit welchem Mut wurde es angegangen! Mit Schwäche war da nichts voranzubringen, für sie hatte Goethe nichts übrig."
Sich auf Goethe als eine Art Ahnherr des Fliegerbarons von Richthofen zu berufen, ist wohl kein Zufall. Für welche "Tagesanforderungen" und "Abenteuer" hat man denn so formelle Tugenden wie Zuversicht und Tapferkeit nötig? Unter welchen Umständen kommt es denn so ausschließlich auf das Bewußtsein der Pflicht dessen an, was man treibt, daß schon jeder Inhalt davon gleichgiiltig ist und nur noch das männlich-kraftvolle "Sich-Stellen" übrig bleibt?
3.
Diese Umstände nennt Carstens natürlich nicht; gerade weil alles, was er aus Goethe an Lobliedern der "Tätigkeit " und "Tüchtigkeit" herausdestilliert, ausgesprochene Tugenden für den Ernstfall sind, braucht er diesen überhaupt nicht zu erwähnen. Wie auch umgekehrt: Gerade weil die angeblich von Goethe vorgelebten "Möglichkeiten des Deutschseins" durch völlige Abwesenheit jedes wirklichen Gegenstands glänzen, auf den sie sich beziehen und an dem sie sich bewähren könnten, deshalb kann man sie als harmlose Banalitäten wegstecken. Eines gehört dazu freilich schon noch: Was der Staat an Opfern verlangt, muß als "Realität" (objektive Notwendigkeit) akzeptiert werden, um als Gegenstand rein moralischer Abwägungen zu taugen. Wofür Goethe abermals das Vorbild ist :
"Einer der hervorstechendsten Züge Goethes ist sein Realismus und seine Gegnerschaft gegenüber jeder Ideologie. Anschauungen, die es unternehmen, die Welt aus einem Punkte (?) erklären zu wollen, lehnt er ab. ... Wenn wir uns von Goethe dazu anleiten lassen, unsere Augen für die Wirklichkeit und für das Reale (!!) zu öffnen, werden wir keinen Gefallen an vorgefertigten Ideologien finden, die der Vielfalt des Daseins und dem Reichtum der Welt Gewalt antun."
Als ob die ganze Beschwörung des "Positiven" und des "Muts", den man auf jeden Fall braucht, nicht eine von A bis Z "vorgefertigte" Ideologie wäre! Aber Carstens kann sich darauf verlassen, daß sein ideologisches Feindbild schon richtig verstanden wird: Die Unterscheidung zwischen Individuen und Nationen, die einfach zur "Realität" passen und ihrer "Vielfalt" gerecht werden, und solchen, die vor lauter Ideologie keine Augen für "das Reale" haben und der Welt damit nicht entsprechen (erfolgloses Unterfangen!), wird in der politischen "Wirklichkeit" der BRD ja jedem Schulkind beigebracht.
4.
Neben den moralischen Tagesbefehlen an das deutsche Volk, fröhlich, mutig und realitätssicher in die Zukunft zu schauen, nehmen sich die zwei inhaltlichen Essentials der Präsidentenrede schon eher kurios aus. Nur weil demnächst Reagan zu Besuch kommt, muß Goethe das doch nicht auch noch vorausgeahnt haben:
"Überhaupt war Goethe jedem engstirnigen Nationalismus... abhold. Die Sympathie, die er Deutschlands europäischen Nachbarn, ohne Unterschied, und auch den Vereinigten Staaten im fernen Amerika entgegenbrachte, diese Sympathie gegenüber der ganzen Welt und der Menschheit..."
hätte ihn heuer sicher auf die NATO-Jubeldemo der CDU geführt. Na klar! Und gegenüber den Sperenzchen der DDR, sich mit ihrem Zwangsumtausch fast genauso aufführen zu wollen wie ein souveräner Staat, hätte er mit Carstens gelassen - und voller Zuversicht - reagiert:
"Mir ist nicht bange, sagte Goethe, daß Deutschland nicht eins werde, alles dränge dorthin, die Einheit sei unausweichlich. Vor allem aber sei es eins in Liebe untereinander!"
Eine Liebe, die natürlich gerade das bundesdeutsche Staatsoberhaupt innig empfindet; von DDR-Seite hat man jedenfalls nicht den brüderlich umgreifenden Rührspruch gehört:
"Ich freue mich darüber, daß beide Teile Deutschlands Goethe feiern, und wenn es zutrifft, daß drüben im anderen Teil die Schulkinder im Goethejahr drei seiner Gedichte auswendig lernen sollen, dann ist auch das ein Anlaß zur Freude."
5.
Welchen ideellen Lohn bringt das "Deutschsein" nun eigentlich mit sich? Man ist für Großes ausersehen und darf sich bemühen, dem gerecht zu werden. Anlaß zur Freude - für wen? Und warum? Weil vor 150 Jahren ein Dichter das Zeitliche gesegnet hat, dessen Fluch auch die heute Lebenden ergreift?
II. Von wissenschaftlicher Heimatpflege
In der Aula der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität zu Frankfurt fand drei Tage nach der Rede des Bundespräsidenten ein wissenschaftliches Symposion zum Goethe-Jahr statt. Anders als Carstens entdeckten die versammelten Denker im Opus des Verstorbenen allerdings nicht Beiträge zum geforderten Nationalgefühl der Deutscher, sondern solche zum nötigen Kollektivgefühl des modernen Menschen überhaupt. Dieser Unterschied gibt zu denken!
1.
Hauptredner Prof. Löwenthal, Mitbegründer der Kritischen Theorie aus den Staaten, entnahm Goethe folgende Vorahnungen:
"Goethe ahnt das Dilemma der modernen bürgerlichen Gesellschaft: Auf der einen Seite Konsum und Konformität - schlechtes Egalitätsbewußtsein. Auf der anderen Seite schlechter Begriff von Subjektivität, von Individualismus - der das Individuum nicht versteht als Forderung (!) eines solidarischen, mrralischen Verhaltens, sondern als eine Art heimliches Königreich, in dem man nur seine eigenen Zwecke verfolgt und in Unterdrückung dessen, was man ist (?), sich wiederum verliert an die Vermassung dieser Gesellschaft."
Abgesehen davon, was das mit Goethe zu tun haben soll - seine Schrift über Konsum und Vermassung ist uns jedenfalls unbekannt -, ist dieses moralische Gedankengut auch sonst recht souverän gegenüber dem tatsächlichen Zustand der "modernen bürgerlichen Gesellschaft".
Das soll ihr Dilemma sein, wenn ein Soziologe zwischen zwei "schlechten Begriffen", die sowieso nur er hat, einen Widerspruch obwalten sieht? Löwenthal kann das, was ist, so wenig unterscheiden von dem, was seiner guten Meinung über die Zwecke des Kapitalismus nach sein soll, daß er sich die Abwesenheit des von ihm gewünschten "moralischen Verhaltens" nur als eigentliche, aber unterdrückte Herrschaft desselben denken kann. Und seine Überzeugung, daß Konsum und "seine eigenen Zwecke Verfolgen" doch nicht der Sinn "einer Gesellschaft" sein können, erlaubt ihm - ganz ohne Rücksicht darauf, daß es 1982 auf beides mehr denn je nur unter dem Gesichtspunkt seiner Beschränkung ankommt - die hoffnungsfrohe Entdeckung eines negativen Sinns der modernen Gesellschaft. Ist sie nicht ein einziges Indiz dessen, daß die beiden Seiten ihres "Dilemmas" zum Durchbruch wahrer "Egalität" und"Subjektivität" drängen? Goethe hat bereits die Forderung wie die Chance unserer Zeit erkannt:
"Es geht nicht nur um Kunst, sondern um die Welt als ganze. Gegen den sentimentalen Gefühlskult, den Rausch der Innerlichkeit" (der durch individualistischen Konsum vermittelt wird?) "stellt Goethe, daß das Kunstwerk wie der Mensch selbst seine spezifische Subjektivität vor dem Ganzen im jeweiligen Moment seiner widersprüchlichen Gestaltung zu rechtfertigen hat."
Soweit nochmals der moralische Gedanke, daß "dem Individuum" nur insofern ein Existenzrecht zukommt, als es sich einem größeren Ganzen verantwortlich unterordnet. Nun die Chance, daß dieses unstillbare Bedürfnis der Menschennatur zur Realität gelangt:
"Im Grunde sind wir alle kollektive Wesen; wie weniges haben wir urd sind wir, was wir unser Eigentum nennen können. Das authentische Bewußtsein, als gemeinschaftliche Individualität, ist sich der Zugehörigkeit zu einer Nation und einer Kultur bewußt."
Die faktische Nationalität hat also den höheren Zweck, einer ideellen und moralisch notwendigen Gemeinschaftlichkeit des bürgerlichen Individuums den Raum zu verschaffen, den seine konsumorientierte Gesellschaftsverfassung ihm nicht läßt. Auch Goethe als Hinterlassenschaft "unserer Kultur" ist nicht "unser Eigentum" als Privatperson, sondern ein Auftrag zur Entfaltung "kollektiver Subjektivität" - ein ungefähr so logischer Schluß, wie aus der Beherrschung der deutschen Sprache zu "folgern", daß man sich deshalb (!) um Deutschland zu sorgen habe.
Freilich ein ebenso selbstverständlicher Schluß, wenn man sich unter dem abstrakten Gesichtspunkt der Heimat auf die Suche danach begibt, was denn wohl ein hinreichender Grund für das Kümmern um nationale Belange sein könnte - da ein wirklicher selbst einem Löwenthal nicht einfällt.
2.
Folgte Prof. Vierhaus, Göttingen, mit dem Thema "Goethe und die Aufklärung". Zur Abwechslung Erkenntnistheorie und Poetologisches? Nein, doch nicht:
"Das bürgerliche Zeitalter hat durch die Aufklärung Prinzipien hervorgebracht wie Freiheit und Gleichheit, die bis heute im Westen gelten."
Mit einem Satz die westliche Menschenrechtspolitik aus einer rein mystischen Geistesbewegung "abgeleitet" - reife Leistung. Ein Über-Subjekt namens "bürgerliches Zeitalter" greift durch gewisse Theoretiker des 18. Jahrhunderts hindurch; setzt einen ideellen Schößling namens "Aufklärung" in die Welt, der sofort seinerseits "Prinzipien" heckt; von denen Vierhaus weiß, daß sie gelten, wenn sich der Westen für seine weltpolitischen Zwecke auf sie beruft. Der gutwillige Denker sieht allerdings auch ein Problem dabei:
"Die Aufklärung wollte den Menschen Vielseitigkeit bringen, aber die Lage der Menschen ließ sie nicht zu. ... Die heraufziehende Industrie brauchte diese Vielseitigkeit nicht; die Natur des Menschen gibt ihm nicht die Voraussetzung für Vielseitigkeit, ohne ihn unglücklich zu machen."
So verdankt der Mensch, wie die schönen Prinzipien seinem Geist, ihre widersprüchliche Verwirklichungschance in der Industrie - seiner Natur. Weshalb das Ideal der Aufklärung sich bislang nur in so übermenschlichen Naturen vollenden konnte wie Goethe:
"Goethe hat die Aufklärung in sich aufgenommen, ohne seine Eigenständigkeit aufzugeben. Er besaß eine sensible Wahrnehmungsfähigkeit und hatte eine breite Bildung. Er war ein Mann der Ordnung, Gesetzestreue und Schicklichkeit. ... Vom Widerspruch der Aufklärung hat er gewußt, deshalb steht am Ende der Aufklärung eine unvergleichliche Synthese, die nicht wiederholbar ist."
Die Ausbeutung in der modernen Industrie in einen Widerspruch zu einem bloß ideellen Anliegen der "Aufklärung" zu bringen und das "Unglück" der betroffenen Arbeiter nicht in dem zu sehen, was ihnen passiert, sondern was ihnen an historischer Vielseitigkeits-Perspektive verweigert wird, ist schon verniedlichend genug. Und die Verwandlung der simplen Tatsache, daß die allseits bekannten Wirkungen der heraufziehenden Industrie einen freischaffenden Künstler und Geheimrat wie Goethe natürlich nicht treffen konnten, in eine besondere Leistung dieses eigenständig-sensibel-gebildeten Individuums ist schlicht dumm. Die Idee der "unvergleichlichen, unwiederholbaren Synthese" allerdings, die Goethe zwischen politischen Prinzipien und idealer Individualität zustande gebracht haben soll, hat es in sich: Wenn dergleichen heutzutage von ausgezeichneten Individuen nicht mehr zu erwarten ist, wovon denn dann? Muß dann nicht jeder seinen, wenn auch bescheidenen, Teil dazu beitragen, "Ordnung" und "Glück" in"unserem", "bürgerlich-menschlichen" Gemeinwesen zu versöhnen?
3.
Nun der bekannte Realismus-Fachmann Prof. Martini, Gegenstand gleich unmittelbar: "Goethes erträglicher Staat". Die Ausführungen sind ebenso zielstrebig:
"Der Staat ist dann gut und nicht Selbstzweck", (Das Schlimmste, was ein Wissenschaftler sich über einen Staat denken kann, ist die "Unmöglichkeit" für ihn, sich zum Staat eine höhere Aufgabe hinzuzudenken!) "wenn er die Menschen dazu anhält, sich gemäß ihrer Vernunft zu verhalten."
Auch wenn das "Goethes Staatsideal" gewesen sein sollte - ein schöner Unfug. Was muß das für eine "Vernunft" sein, zu der man die Menschen anhalten muß? Natürlich keine, die mit ihrer Einsicht, sondern mit Pflichten zu tun hat. Daß die wirklichen, vom Staat gesetzten Pflichten die moralische Aufgabe haben, höhere "menschengemäße" Pflichten gegen die "Unvernunft" der Massen durchzusetzen, ist eine billige Unterschiebung. Und noch dazu eine, die in der Form einer moralischen Forderung an den wirklichen Staat genau das wiederholt, was dieser ganz ohne ideale Zielsetzung ohnehin praktiziert:
"Vernunft ist Einsicht, sich für das gemeinsame Interesse einzuschränken. Freiheit ist immer (!) Verzicht, sie manifestiert das Vermögen zum (!) Verzicht."
Wie kann es im "gemeinsamen Interesse" liegen, daß alle sich einschränken - also doch wohl ihr "gemeinsames Interesse" reduzieren? Aber der darin ausgesprochene Gegensatz der staatlichen "Vernunft" zum Interesse der Betroffenen, denen "Einsicht" im erzieherischen Sinn empfohlen wird, genügt nicht einmal. Verzicht wird zu einer Haltung idealisiert - sogar über alle bestimmten "Notwendigkeiten" hinaus, die von der Politik als Ölkrise bis Finanzkatastrophe geltend gemacht werden -, die dem "Menschen" so sehr entspricht, daß seine moralische Natur ein separates "Vermögen" dazu als Konterpart zum Vermögen der Maßlosigkeit gleich mit vorgesehen hat!
Mit den Bedingungen, die Goethe für den "erträglichen Staat" aufgestellt haben soll: den rein moralischen Zwang zum Verzicht aus Vernunft, der aus einer "Balance zwischen Ordnungs- und Machtstaat" entsteht, ist Martini dann bei einer brandaktuellen Interpretation der bundesdeutschen Politik. Die West-Ost-Konfrontation soll tatsächlich den geschichtsphilosophischen Hinter-Sinn haben, den wirklichen Staat auf seine ideale Bestimmung zu verpflichten:
"Dem Ideal des Ordnungsstaates kann der Kleinstaat entsprechen, denn der hat nicht die Mittel, um nach außen iniperialistisch aufzutreten." (Deshalb wurde Goethe also Minister ini Herzogtum Sachsen-Weimar!), "Die Bundesrepublik" (Rechtsnachfolger auch dieses Staatsgebildes) "ist Mittelmacht; abhängig zwischen (?) West und Ost steht sie zwischen den Supermächten und ist deshalb auf Ausgleich im Innern bedacht."
Ungeheuer realitätsnah! Die massive Beschränkung und Ausnutzung ihrer Bürger, die die BRD nach innen betreibt, ist deshalb auf "Ausgleich" und "vernunftgemäße Ordnung" gerichtet, weil die bundesdeutsche Unfähigkeit zum Imperialismus (die aus der merkwürdigen Lage des NATO-Staates BRD "zwischen" West und Ost folgen soll) den bundesdeutschen Imperialismus ("Mittelmacht") dem "Goetheschen Staatsideal" entsprechen läßt. So ein Kunststück: Erst entnimmt ein Martini seine idealen Zweckbestimmungen des Staats dessen wirklicher Praxis, stellt sie sich mit Goethe als erst noch einzulösende historische Postulate vor, macht sich auf die Suche nach realen Entsprechungen - und findet dann, daß die imperialistische Realität ganz gut zu ihrer idealistischen Abstraktion paßt.....
4.
Prof. Borchmeyer, Würzburg, stach von seinen Kollegen durch den erstaunlichen Einfall ab, sich in der Tat ein Werk des geehrten Goethe und nicht dessen Lebens- und Staatsphilosophie vorzunehmen. Das "Heideröslein" war's freilich nicht, nicht die anrührende "Stella" oder die verdrechselten "Wahlverwandtschaften" - der geheimen übereinstimmung des Symposions zufolge mußte es just der "Tasso" sein, womit schon wieder das Verhältnis des Künstlers zum Staat Thema wurde. Hier erfahren wir zunächst, daß die Kunst dem Leiden entspringt, das ästhetisch zur Lust wird:
"Der Dichter ist unglücklich aufgrund einer inneren psychischen Veranlagung, einer selbstquälerischen Melancholie. Ohne Melancholie gibt es keine Dichtung. Zur Melancholie muß Heiterkeit hinzukommen - nur beides bringt das Große hervor."
Diese Idee hat einen Mangel: Mag ein so gemischtes Gemüt auch eine Voraussetzung der Dichturg sein - übrigens kaum die Voraussetzung -, die Umsetzung dieser Gefühlslage in ein Kunstwerk erklärt sich daraus noch lange nicht. Es wird doch nicht jeder, der halb weint, halb lacht, gleich ein Dichter sein! Das hindert Borchmeyer nicht, die falsche Erklärung als mögliche Kunsttheorie stehen zu lassen; nur sieht er mit Goethe die Notwendigkeit einer Ergänzung des Fehlers:
"Goethe hätte die artistische Leidensmetaphysik als pathologisches Element einer um sich selbst kreisenden Subjektivität weit von sich gewiesen. Die Kunst als Negation der Gesellschaft" (als ob einer, der sich nur mit der eigenen Stimmungslage befaßt, damit irgendetwas "negieren" würde! ) "geht zu weit. Der Künstler braucht die Welt als Phantasieboden; was wäre die Phantasie ohne die Welt!"
Das ist in Wahrheit nur eine andere Voraussetzung der Dichtung und keineswegs eine Objektivierung der poetischen Willkür. Nachdem die Welt nun einmal der "Phantasieboden" der Kunst ist - über irgendetwas muß natürlich phantasiert werden -, ist die Behauptung "Der Künstler braucht die Welt als Phantasieboden" reine Tautologie: die Verwandlung dessen, was ein Dichter macht, in eine Aufgabe, das Erfüllen einer geforderten Notwendigkeit. Auch die Kunst soll die Gesellschaft nicht "negieren", sondern sich erfindungsreich um sie kümmern. Gestattet ein Staat seinen Hofnarren das -
"Der Fürst ließ seinem Auftragsdichter freie Hand."
-, wird er seinem ästhetischen Sinn gerecht. Ist das kein Pfund, mit dem sich politisch wuchern läßt?
5.
Der Unterschied zwischen Carstens und seinen wissenschaftlichen Fest-Konkurrerter ist also eindeutig: Für die methodische Tugend, die Nation als die Grundlage aller denkbaren Zwecke und damit als Auftrag zu akzeptieren, stellen ihre Denker die Bedingung, dafür noch viel weitgehendere "letzte Notwendigkeiten" verantwortlich machen zu können. Das können sie! Und jeden Fortschritt ihrer Herrschaft, die ihre Absichten auf immer grundsätzlichere und gebieterischere "Forderungen des Tages" zusammenzieht, begrüßen sie deshalb als immer vollkommenere Entsprechung zu den sinnreichen Deutungen, die sie sich nicht nur von Goethe eingeben lassen.
III. Vom öffentlichen Kulturimperialismus
Wenn in der BRD-Öffentlichkeit sowohl an der Festrede des Bundespräsidenten als auch an den wissenschaftlichen Laudationes überhaupt etwas als störend bemerkt wurde, dann nur dies: War es wirklich nötig, solche Selbstverständlichkeiten noch extra mit Hilfe Goethes zu verkünden? Für geschmäcklerische Sprachrohre der Politik, die Westdeutschlands kritische Journalisten sein wollen, ist die bloße Einschwörung auf den Vorkriegsmoralismus - wenn nicht mit neuen facts und dem Aufmachen spannender Fronten verbunden - längst Schnee von gestern. Ein vielzitierter Spruch Walter Benjamins zum Goethe-Jahr 1932 lautete denn auch: "Jedes in diesem Jahr über Goethe eingesparte Wort ist ein Segen. Was nicht heißen sollte, ausgerechnet die Routiniers der Volksmoral hätten zu so einem Anlaß mit Worten und Taten gespart.
1.
Die BILD-Zeitung bot (ohne Absprache) schlicht die Popularversion der Carsten'schen Tugendpredigt. Was dieser mit ergriffenem Pathos in Szene setze, servierte BILD mit griffigen Bildern:
"Heute vor 150 Jahren ist Goethe gestorben. Die Zeit ist ohne Bedeutung. Er lebt in uns, er ist allgegenwärtig. Schon zu Lebzeiten wurde er als 'der größte deutsche Dichter' anerkannt. Geheimer Legationsrat, Bergbaudirektor. Hoftheater-Direktor, Schauspieler, Staatsminister. Er war Zeichner, Forscher und Wissenschaftler."
Bis hierher eine rasante Paraphrase von "Sein Schlüsselbegriff hieß Tätigkeit". Goethes Bedeutung für "uns" 1. in seine Leistung gelegt, deren Inhalt weiter nicht interessiert. Diese Leistung 2. dadurch gewürdigt, daß sie anerkannt wurde und wird; der Himmel weiß, was ein "deutscher Dichter" ist, aber Goethe war deren Größter. Die Größe der Leistung 3. durch die Masse dessen versinnbildlicht, was er nicht alles getrieben hat, vom Geheimen Rat bis zum Schauspieler. Kurzum: Kein Risiko hat er gescheut, alles ausprobiert und angepackt - ein kolossaler Kerl! Daß sich das "verwöhnte" deutsche Volk an so einem Zupacker ein Beispiel nehmen soll, sagt BILD nicht. Es vertraut auf den Idealismus seiner Leser, von denen ein BILD-Reporter weiß, daß sie mit der Masse an Leistung, die sie erbringen müssen, ohne daß es ihnen was bringt, auch gern anerkannt wären. Und weil in diesem falschen Bedürfnis immerhin noch das materielle Interesse der Ausgangspunkt ist, fügt BILD dem Idealmann Goethe noch ein paar materielle Ideale bei, von denen bei Carstens keine Rede war:
"Er war ein Verschwender, ein Genießer, ein Frauenheld... Geld kümmerte Goethe nicht. Wenn er kein's hatte, machte er Schulden... Er war ein Feinschmecker."
Die Zugehörigkeit zu einer Nation, die solche Männer hervorgebracht hat, wird hier weniger als der "positiven" Natur der Welt entsprechender Selbstwert, sondern als Lebenshilfe an den Mann gebracht. Was dem Inhalt nach freilich dasselbe ist: Macht das gut, was gerade ansteht und verlangt wird - der Dank liegt in der Erledigung der Aufgaben. Im übrigen sonnt Euch im Glanz der Macht, die Ihr damit Eurem Staat verleiht:
"Goethe und wir: Nach dem Kriege machte er uns Mut, daß wir nicht nur das Volk Hitlers waren, sondern auch das Volk Goethes." (Diese Zeiten sind natürlich vorbei!) "Heute ist es unser bester Botschafter."
So wird Goethe als Ideal einer besiegten Nation abgelöst von Goethe, dem Repräsentanten der in aller Welt erfolgreichen BRD - und beide Male sollen die, die Niederlage wie Erfolg auszubaden haben, sich vorstellen, es ginge dabei um sie!
2.
Die BlLD-Zeitung für die linke Intelligenz verfährt ganz ähnlich, wenn auch auf Grundlage eines altemativen Nationalismus. Unter der überschrift "Unser armer Goethe" kann man in der TAZ nachlesen, daß auch der Alte - wie die Leser dieses Blattes - zur Gemeinschaft derer gehörte, die zu Lebzeiten und sogar hinterher noch einer Verdächtigung, Kontrolle, Zensur und Kritik nach der anderen ausgesetzt werden. Wobei - wieder genau wie bei der TAZ-Leserschaft - 1. gar kein oppositioneller Inhalt sichtbar wird, um dessentwillen seine Verdächtigung interessieren soll, 2. die Zensur auch keines politischen Charakters überführt, sondern der Lächerlichkeit geziehen wird. Die Beispiele sind danach: Entweder absurde Unterstellungen über ein "Undeutsches" an Goethe, das kein heutiger Deutscher mehr so sieht -
"Wie geschaffen sind daher seine Romane, 'den Kitzel des Entarteten so wunderbar zu reizen', in ihrer 'neufränkischen oder deutschgroßstädtischen Zügellosigkeit'." -,
in denen sich der TAZ-Schreiber gleich angesprochen fühlt, weil er gegen die Windmühlen einer schon zu Goethes Zeiten "altfränkisch" gewordenen, vorbürgerlichen Moral seinen Widerstand am liebsten vorführt:
"Wie vertraut klingen uns (!) solche Schmähtiraden doch aus jüngerer Zeit, wenn Pustkuchens Erben damit auch nur noch selten auf 'Göthen' einschlugen."
Oder es werden "Umänderer" Goethes ironisch abgehandelt, die seinem Stil "nonsensikalischen Unsinn", "erbärmliche Reime" oder gar "Beleidigung des Glaubens" vorhielten. Der gebildete TAZ-Leser erheitert sich an der Unbildung solcher Kritik - und natürlich an der gläubigen Anstoßnahme, weil für die heutzutage wirklich niemand von Bedeutung allzuviel übrig hat. Daß solche ironisch in Szene gesetzte Vertrautheit mit und Gegnerschaft zu den Inhalten eines Nationalismus, von denen man außer ihrer Dummheit bzw. Überholtheit nichts wissen will, bloße Attitüde ist, ist dem Schluß des Artikels zu entnehmen:
"Hat er denn in seinem Werk nicht für jeden von uns was Passendes hinterlassen?"
Das klingt erst einmal nur formell. Wie originell, denselben Umgang mit Goethe zu pflegen wie alle Welt, sich aber unter "unserem Goethe" etwas gaaanz anderes zu denken. Ein Pech, daß es gar nichts anderes ist:
"Greifen wir also zu! Auch für die TUWAT-Generation wird was dabei sein. Ein wenig Wehr-Mut, ein wenig Tatendrang, etwas gegen Müßiggang... na bitte."
So ein Zufall! Der "TUWAT-Generation" sind also die Zwecke der Politik so wenig ein Problem, daß sie den moralischen Formalismus des Bundespräsidenten genauso schätzt - nur eben alternativ. Ein "Wehr"-Mut ist bei allem Wortspiel leider durchaus charakteristisch für eine gegenstandslos oppositionelle Haltung; die sich in der Methode gefällt, sich selbst treu zu sein. Und das ist nationalistisch, weil man sich mit dieser Moral seine Aufgaben und Verantwortungsbereiche ebenso von der politischen Herrschaft vorgeben läßt wie jeder andere Bürger. Der Fehler liegt hier wie dort darin, sich auf die Betroffenheit von staatlicher Gewalt auch noch etwas zugute z u halten!
3.
Eine eigene Mission legte sich fürs Goethe-Jahr das Deutsche Fernsehen zu. Hier galt es, nicht nur mit trostlosen Faust-Inszenierungen die fällige Moral nach innen interessant zu machen - einen Kommentar zu dieser letzten Ausschmückung methodischer Idiotien ersparen wir uns -, sondern auch nach außen die Nation zur Geltung zu bringen. Denn - so die lahme Begründung -:
"Mit Kräften versucht Ost-Berlin, 'fortschrittliche' Größen deutscher Geschichte wie Friedrich Schiller oder Thomas Münzer als Stützen eines 'DDR-Bewußtseins' zu gewinnen."
Dabei hat die Repräsentation des "BRD-Bewußtseins" diesen Vergleich so wenig zu bestehen, daß sich der ideologische Kampf gleich so ankündigen läßt:
"'Goethe und Luther lassen sich nicht so einfach nationalisieren wie eine Bank oder eine Ölquelle', meint der ARD-Programmdirektor Dieter Schwarzkopf zu der DDR-Konkurrenz."
Der Nationalismus der BRD ist über solche schwächlichen Beweise nationaler Größe nämlich längst hinaus. Die DDR kann sich mit ihren "Nationalisierungs"-Bedürfnissen nur blamieren, wenn das West-Fernsehen Goethe als "Teil gesamtdeutscher Geschichte" mit übernationaler Geltung präsentiert:
"Goethes 'unverwechselbares Stück deutscher Literatur' will die ARD... als Werk von Weltrang und übernationaler Bedeutung... nahebringen. Goethe als Weltliterat also (und Luther mit einer Weltreligion)."
Daß dies auch so aufgefaßt wird und die Deutschen sich als vorbildliche Weltbürger geschmeichelt fühlen können - wovon sie viel haben -, liegt an der weltpelitischen Macht der BRD, die Respekt einfordern kann. Denn der TV-kulturelle Beitrag zum Imperialismus getrennt von deren realer Gewalt ist ja mehr ein Witz:
"So entsteht Claude Chabrols Fassung von Goethes 'Wahlverwandtschaften' bewußt" (man stelle sich vor, wenn das nicht der Fall gewesen'wäre!) "als deutsch-französische Produktion, weil dieser Roman wie auch Goethe selbst 'keine allein deutsche Angelegenheit sind' und gerade die Franzosen sich sehr für deutsche Geistesgeschichte erwärmen."
Dem Chabrol'schen Opus jedenfalls hat man derlei Hintergrund nicht angemerkt.
Auf Goethe bezogenes Resümee seiner Behandlung: Zu seiner Verwendung als menschliches und geistiges Vorbild für schwere Zeiten sind Kenntnisse über sein Werk unnötig. In der nächsten MSZ der Nachweis, daß die Erklärung seines Werks den Verzicht auf seine Verwendung zur Folge hat. Unser Goethe ist er nicht.