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Dieser Artikel ist in der MSZ 3-1982 erschienen.


Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände, FfM 1981


EIN WAHN WIRD WAHR

Was er sich immer schon gedacht hat, das hat Jürgen Habermas auf 1100 Seiten noch einmal hingeschrieben. Nunmehr mit der Prätention, das Desiderat einzulösen, dessen Formulierung er in den ersten Tausenden von Seiten seiner Schriftstellerei als sein wissenschaftliches Anliegen deklariert hatte. Hinzuzukommen brauchte dafür nicht ein einziger zusätzlicher Gedanke. Das neue Werk löst kein außerhalb seiner selbst existentes Problem, sondern dokumentiert die Idiosynkrasie eines einsamen Anbeters der Gottheit "Kommunikation".

1. Wissenschaftstheoretischer Auftakt

Was muß ein Mensch hinter sich haben um folgenden Gedanken zu Papier bringen zu können?

"Die Theorien der modernen Erfahrungswissenschaften, ob sie nun auf der Linie des logischen Empirismus, des kritischen Rationalismus oder des methodischen Konstruktivismus angelegt sind, stellen einen normativen und zugleich universalistischen Anspruch, der nicht mehr durch fundamentalistische Annahmen ontologischer oder transzendentalphilosophier Art gedeckt ist. Ihr Anspruch kann nur an der Evidenz von Gegenbeispielen geprüft und am Ende dadurch gestützt werden, daß sich die rekonstruktive Theorie als fähig erweist, interne Aspekte der Wissenschaftsgeschichte herauszupräparieren und in Verbindung mit empirischen Analysen, die tatsächliche, narrativ belegte Wissenschaftsgeschichte im Kontext gesellschaftlicher Entwicklung systematisch zu erklären," (1, 17)

a) Mit der Vorstellung, "Theorien" hätten ihre eigentümliche Bestimmung darin, auf einer "Linie... angelegt" zu sein, setzt Habermas als größte Selbstverständlichkeit den Fehler aller modernen Wissenschaftstheorie voraus, wissenschaftliche Erörterungen von vornherein nicht als - richtige oder falsche - Bestimmungen eines Gegenstandes ("Gegenstand " hier im schlichten erkenntnistheoretischen Sinn dessen, worauf die Bestimmung sich richtet) zu nehmen, sondern als die immanent fortschreitende Konsequenzenmacherei aus einer quasi straßenbautechnischen Vorentscheidung darüber, welche Betrachtungsweise der Theoretiker an seinem Gegenstand vollstrecken will. Nicht, als ob nicht derartiges in den modernen Wissenschaften beständig geschähe - eben genau darin sind sie bürgerlich, Weltanschauung statt Wissenschaft! Habermas will damit aber gerade nicht den Fehler weltanschaulichen Problematisierens allgemein in Erinnerung gebracht haben, sondern bekennt sich zum Mißbrauch des Denkens als der Kunst des Problematisierens im Namen und unter Verwendung gewisser methodischer Postulate, denen alles Denken zu genügen hätte, um als Wissenschaft zu gelten.

b) An den "Linien", die Habermas unterscheidet, interessiert ihn nichts als seine Behauptung, jede von ihnen stellte einen uneingelösten Anspruch auf allgemeine und verbindliche Gültigkeit. Die Kenntnisnahme sei es der "modernen Erfahrungswissenschaften", sei es der benannten philosophischen Deutungen ihrer Prinzipien und Verfahrensweisen, hätte auch Habermas darüber Auskunft geben können, daß es sich bei besagten '"Linien" noch nicht einmal um die wirklichen weltanschaulichen Ideen handelt, denen bürgerliches Theorietreiben folgt, sondern bloß um dessen anschließende Problematisierung am Maßstab des Ideals einer zweckmäßigen Notwendigkeit im Denken, der vorgestellten Verantwortlichkeit des Denkens für die demokratische Moral bzw. der reinen Idee eines gelingenden Denkens - also um die Anwendung weltanschaulicher Deutungskünste auf diese selbst. Indem Habermas umgekehrt alles wissenschaftliche Treiben, konsequent idealistisch, als die Inkarnation jenes philosophischen Deutungs-Schnörkels auffaßt, den Philosophen sich dazu ausgedacht haben, erspart er sich jede weitere Kenntnisnahme der Urteile über die Welt, die dieses Treiben zustandegebracht hat. Die wissenschaftliche Welt reduziert sich erstens auf ihre angeblichen methodischen Prinzipien, zweitens noch weiter auf die angebliche Tatsache, daß sie konkurrierende Geltungsansprüche erheben, drittens noch weiter auf Habermas' Verdikt, daß sie sich mit diesem Anspruch zu viel herausnähmen. Dieses Verdikt seinerseits beruht nicht auf der Widerlegung irgendeines Arguments, sondern operiert mit einem dem Kreditwesen entlehnten Bild, der Vorstellung nämlich, der allem Theorietreiben unterstellte Geltungsanspruch sei seinerseits wiederum auf noch prinzipiellere Glaubensannahmen über die theoretische Erfaßbarkeit der Welt überhaupt begründet; Annahmen, die, wodurch auch immer, ihren Charakter als letztes theoretisches Schatzkästl ein, auf d as ein Denker Kredit ziehen könnte, verloren hätten.

c) Verwerfen will Habermas eine derart abstruse angebliche Letztansprüchlichkeit modernen Theoretisierens deswegen noch lange nicht. Er will die wertlos gewordenen letzten Annahmen, aus denen das Denken seinen Anspruch auf Gültigkeit angeblich refinanzieren müßte, aber nicht mehr kann, durch etwas Neues ersetzen. Und zwar durch ein methodisches Postulat von überaus verdrechselter Natur:

  • Eine Wissenschaftsgeschichte müßte her; aber die reicht natürlich nicht.
  • "Systematisch erklärt" müßte sie werden; aber dabei kommt es nicht auf das Ergebnis an.
  • Zu einer solchen Erklärung fähig zu sein, wäre der Beweis dessen, den gewünschten Standpunkt über allen Standpunkten - nein, nicht als ein fixes Kriterium entdeckt zu haben; dann ließe die ganze Wissenschaftsgeschichte sich ja wieder vergessen; sondern: ihn eingenommen zu haben. Auf eine Stellung des Denkens kommt es Habermas an: die Stellung eines systematisierenden Belauschens einer vorgestellten Geschichte weniger der Wissenschaft als ihrer angeblichen Letztansprüche; eines Ablauschens, das nicht in ein Ergebnis soll münden dürfen, sondern in seinem Vollzug die maßgeblichen Richtersprüche über den Geltungsdrang alternativer Theoriebildungsprinzipien praktisch wahrmachen soll.

d) Über gut tausend Seiten hin macht Habermas diesen Denkkrampf praktisch wahr, so gut es geht. Und es geht einerseits sehr leicht. Denn aller quantitative Aufwand, den Habermas treibt, ist ein aufgeblasenes, geschwätziges Räsonnieren um die simple Tatsache herum, daß das Postulat, das er aufstellt, auch schon seine eigene Einlösung darstellt. Wenn es denn schon allen wissenschaftlichen Theorien nicht auf die Bestimmung ihres Gegenstandes ankommen soll, sondern auf die problematische Letztgültigkeit des Geltungsanspruchs der "Linie" ihrer "Anlage"; wenn dieses "Problem" seine Lösung finden soll in der methodischen Stellung einer systematisierenden Historie besagter Ansprüche; dann, so die habermasische Logik, liegt doch wohl die Gültigkeit aller Gültigkeiten, auf die jede Theorie letztendlich aus ist und verweist, eben in dieser Idee einer systematisierenden Versammlung aller Letztgültigkeitsansprüche; in dem Ideal, sie auf einen Nenner zu bringen, ohne daß dieser angebbar sein soll. Dieses Ideal heißt Kommunikation; es stellt nichts anderes dar als die reine ideelle Form des Konkurrierens; und vermittels des Vergleichs jeder behandelten Theorie mit dieser Idee, der unweigerlich zu dem Resultat führt, genau sie ginge einer jeden von ihnen ab, fehle ihr daher und mache sie unzureichend, ist es mit unfehlbarer Sicherheit aus jeder "Wissenschaft" als ihre letzte Sehnsucht herauszuholen, die Habermas "rekonstruiert". Daß das Kriterium aller Kriterien so schlicht beschaffen und so einfach zu haben ist, macht andererseits die Schwierigkeit aus, gegen die Habermas über Hunderte Seiten hin ankämpft. Als letzte Instanz über all den Instanzen, die die diversen Theorien angeblich über ihren Aussagen errichten und zu ihrer Rechtfertigung anrufen, als höchster Richterstuhl über den vielen angeblichen Souveränitäten im Reich der Wissenschaft, kann die banale demokratie-idealistische Maxime, gültig sei, was in einer engagierten freien Diskussion letztlich akzeptiert wird, ja wirklich nicht gelten, ohne daß sie an sich selbst beständig ihren habermasischen Anspruch kenntlich macht, die reife Frucht einer systematisch "rekonstruierten" Wissenschaftsgeschichte und von der "Fähigkeit" dazu überhaupt nicht abtrennbar zu sein - also: ohne ihre Banalität durch den großen Aufwand ihrer Gewinnung beständig zu dementieren, den Denkkrampf also als ihre Bedingung beständig mit sich zu schleppen.

2. Sozialphilosophischer Fortgang: Die moralischen Alternativen der Wissenschaftstheorie als Prinzip des Weltlaufs

Was ist passiert, wenn Habermas' zielbewußte "Rekonstruktion" einiger Brocken "Wissenschaftsgeschichte" zu folgender Weltweisheit gelangt?

"Die Lebenswelt speichert die vorgetane Interpretationsarbeit vorangegangener Generationen; sie ist das konservative Gegengewicht gegen das Dissensrisiko, das mit jedem aktuellen Verständigungsvorgang entsteht. Denn die kommunikativ Handelnden können eine Verständigung nur über Ja/Nein-Stellungnahmen zu kritisierbaren Geltungsansprüchen erreichen. Die Relation zwischen diesen Gewichten ändert sich mit der Dezentralisierung der Weltbilder. Je weiter das Weltbild, das den kulturellen Wissensvorrat bereitstellt, dezentriert ist, um so weniger ist der Verständigungsbedarf im vorhinein durch eine kritikfest interpretierte Lebenswelt gedeckt; und je mehr dieser Bedarf durch die Interpretationsleistungen der Beteiligten selbst, d.h. über ein riskantes, weil rational motiviertes Einverständnis befriedigt werden muß, um so häufiger dürfen wir rationale Handlungsorientierungen erwarten. Deshalb läßt sich die Rationalisierung der Lebenswelt vorerst in der Dimension 'normativ zugeschriebenes Einverständnis' vs. 'kommunikativ erzielte Verständigung' charakterisieren. Je mehr kulturelle Traditionen eine Vorentscheidung darüber treffen, welche Geltungsansprüche wann, wo, für was, von wem und wem gegenüber akzeptiert werden müssen, um so weniger haben die Beteiligten selbst die Möglichkeit, die potentiellen Gründe, auf die sie ihre Ja/Nein-Stellungnahmen stützen, explizit zu machen und zu prüfen." (1, 107 f.)

a) Mit der Vorstellung eines gesellschaftlichen "Verständigungsbedarfs" zitiert Habermas, sehr naiv und als selbstverständliche Wahrheit über die Welt, das idealistische Vorurteil der Soziologie, "Normen und Werte" wären nicht das, was jeder unter diesem Titel angeführte Anspruch an die Menschen als seinen Inhalt und seinen Grund zu erkennen gibt, nämlich der rechtfertigende schöne Schein einer Gewalt, die ideologische Übersetzung eines stärkeren in einen höheren Willen, sondern gerade umgekehrt die konstituierende Grundlage jeglichen Zusammenlebens, das einigende Band, das die unfreundlicheren Seiten dieses Lebens erst ermöglicht und sogar darin noch als erste und ursprünglichste "Sozialleistung" herumwest. Dabei gefällt Habermas sich darin, diese Idee eines aus dem Selbst- und Weltverständnis der Betroffenen herausgewirkten gesellschaftlichen Zusammenhangs, einer verantwortungsbewußten Freiheit als Prinzip aller gesellschaftlichen Notwendigkeit, geradezu wie die Gnade in der katholischen Sakramentenlehre sehr dinglich zu fassen: als quantifizierbaren "Bedarf". Das widerspräche zwar dem Idealismus von "Verständigung", nähme man diese Idee auch nur ein bißchen ernst. Denn wenn es schon um die freie Übereinkunft nachdenklicher Gemüter gehen soll in der Gesellschaft, dann kann diese sich an gar nichts anderem "bemessen" als an der erkannten und festgestellten Identität eines Zwecks oder Interesses; wirklich gibt es sie nur als die triviale Folge solcher "Einigkeit in der Sache". Umgekehrt: "Verständigung" läßt sich dort todsicher nicht erreichen, wo sie selbst als Zweck fungiert und die angestrebte oder auch tatsächlich erreichte Identität des Urteils als bloßes Mittel dafür. Das, worum es den Leuten wirklich geht - ihr Urteil über eine Sache oder ihr praktisches Interesse daran -, so als Mittel für den ideellen Zweck "Einigkeit" ausgeben, das erfüllt, wo es praktisch passiert, den Tatbestand des Betrugs und ist, als Theorie vorgetragen, ein idealistischer Schwindel. "Verständigungsbedarf" ist also ein Widerspruch in sich. Auf die Vorstellung eines "Bedarfs" an dem 'gesellschaftlichen Gut' "Verständigung" will Habermas aber gerade hinaus. Mit seinem Idealismus von "Verständigung" steht er so fest auf dem Standpunkt des dadurch zu erzielenden Effekts: des moralischen Erfolgs, daß die Leute von allen ihren Differenzen absehen und ihre tatsächlichen Interessen der Vorschrift unterordnen, nieht uneinig zu sein, daß sich der ganze Sinn von "Verständigung" für ihn darin auflöst. Habermas denkt nach dem Schema einer besorgten Mutter, die ihre streitenden Kinder zur Einigkeit mahnt - und von diesen zu Recht für bescheuert erklärt wird, weil diese Mahnung davon lebt, Grund und Inhalt des Streits gar nicht zur Kenntnis zu nehmen und ganz prinzipiell für unwichtig zu erklären. Er denkt nach dem Schema des Rechts, das viele selbstverständliche Grausamkeiten und ganz viele unselbstverständliche Bedürfnisse des bürgerlichen Lebens auf den großen praktischen Einheitsstifter, das Gewaltmonopol des Staates, bezieht, als Fälle von Einigkeit oder Uneinigkeit definiert - und sich vor den Betroffenen einzig, und allein deswegen nicht als Unwahrheit blamiert, weil die staatliche Gewalt es praktisch wahr macht. Er denkt in den Kategorien der moralischen Heuchelei, mit der jedes linientreue Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft sein spezielles Bedürfnis als voll und ganz gerechtfertigten Unterfall des Allgemeinwohls ausgibt - zu seinem Schaden, weil nämlich die mit Gewalt ausgestattete Instanz des wirklichen Gemeinwohls den einzelnen nicht bei seiner materialistischen wahren Absicht, sondern seine heuchlerische Selbstdarstellung beim moralischen Wort, sein Interesse mit gewaltsamem Nachdruck in die Pflicht nimmt. Was die Staatsgewalt da praktiziert, genau das nimmt Habermas für die prinzipielle Wahrheit allen gesellschaftlichen Verkehrs - somit aber eben auch nicht als Gewaltveranstaltung, die einen harten Idealismus erzwingt, sondern als schönes Ideal, das vor jeder "Gewalt" und allen"Zwängen", die es, so gesehen, ja wirklich bloß in "..." gibt, allem zugrunde läge. Also mit einem Wort: Sein politologischer Instrumentalismus läßt Habermas bei "Verständigung" selbstverständlich an nichts als den ganz idealistisch daraus abgeleiteten "integrativen" Effekt denken: an Gehorsam.

b) Habermas verlängert diese Idee von "Verständigung" als letztem Zweck und Grund von Gesellschaft konsequent in die Deutung der intellektuellen Leistungen hinein, an die das Wort "Verständigung" immerhin noch erinnert und die Habermas ja auch für seinen Idealismus eines ganz frei und geistig erwirkten Gehorsams in Anspruch nehmen möchte. "Wissensuorrat " heißt bei ihm das Ensemble von Vorstellungen und Urteilen, vermittels derer ein loyales Gemüt sich seine Abhängigkeit von einer stärkeren Gewalt als seine Einigkeit mit einer höheren Instanz zurechtlegt. Ernst genommen, nämlich als ein Stück Erkenntnis, als richtiges Urteil über einen Sachverhalt, schließt "Wissen" die Vorstellung aus, es handelte sich dabei um einen "Vorrat", aus dem irgendwelche geistigen 'Unkosten', gar die für einen "Verständigungsbedarf", bestritten werden könnten. Wieder ist es aber diese Krämervorstellung, auf die Habermas hinaus will. 'Ist der Verständigungsbedarf gedeckt?', so lautet seine abstruse Frage an Gesellschaften und ihre Weltanschauungen; ganz im Sinne seiner Zurückführung allen geistigen Tuns auf den moralischen und damit "sozialintegrativen" Nutzen, den er sich, idealistisch, davon verspricht. Daß er sich diesen Nutzen verspricht, ist die andere Seite von Habermas'

Konstruktion: Bloß als Auskunft über die "tatsächlichen" Integrationsleistungen weltanschaulicher Konzepte will er seine Idee eines gesellschaftlichen "Wissensvorrats" auch wieder nicht verstanden wissen; das verurteilt er als empiristische "Verkürzung". Das eine formelle Moment im Begriff "Wissen", den er da mißbraucht: daß es wirklich, nämlich als wahr, gelten will und nicht bloß als die mehr oder weniger funktionale Vorstellungswelt von Leuten, diesen "Aspekt" will Habermas durchaus noch festhalten; das aber nicht so, als wäre nun doch wieder die schlichte Prüfung behaupteter Bestimmungen eines Gegenstandes angezeigt; vielmehr in dem ganz formellen Sinn, daß eine Theorie des gesellschaftlichen "Wissensvorrats " sich von dessen Geltungsanspruch betroffen zeigen müsse. In Kenntnis dessen, daß es beim "Wissen" bloß auf dessen Leistung - zur "Deckung" des gesellschaftlichen "Verständigungsbedarfs" - ankommen soll, muß der Theoretiker dieses "Wissens" gleichwohl diese "Leistung" auch auf sein eigenes Denken beziehen, um ihm gerecht werden zu können; für den Nutzen des Denkens muß als dessen Wahrheit eintreten, wer das Treiben des Geistes überhaupt will verstehen können; eine idealistische "Analyse" der Gesellschaft als mehr oder weniger gelungener "Verständigungsprozeß" unter der fortwährend, als deren eigene erkenntnistheoretische Bedingung, festgehaltenen Parteinahme für einen gelingenden "Verständigungsprozeß"; ein soziologisch-politologischer Idealismus also plus einer für unabdingbar erklärten methodisch-philosophischen Komplikation, die sich im Ernst gar nicht vollführen, sondern nur methodologisch vorschreiben läßt: Das ist Habermas' Begriff der "Lebenswelt".

c) Der Denkkrampf der habermasischen Wissenschaftstheorie tritt hier, wie man sieht, als Weltbegriff auf. Ist dort Habermas' banaler Konkurrenzidealismus allein dadurch mit dem Gewicht eines obersten wissenschaftlichen Geltungskriteriums ausgestattet, daß beständig behauptet - und diese Behauptung in seine eigene Formulierung immerzu hinein verflochten - wird, er sei natürlich zuerst und vor allem sein eigenes Konstitutionsprinzip und Geltungskriterium, so verleiht Habermas hier seiner Deutung der Welt der Konkurrenz als "Verständigungsprozeß" die angestrebte Unanfechtbarkeit schlicht durch die methodische Versicherung, anders als so, daß diese Deutung sich auch für sich selbst gelten lasse, sei sie gar nicht recht durchzuführen. Das Denken und Deuten als die Benutzung einer geistigen Finanzmasse vorzustellen, dies aber unter methodischer Leugnung der Tatsache, daß das Deuten so auf seinen sozialen oder politischen Effekt - bzw. das, was Habermas dafür hält - reduziert ist, also unter der rein formellen Beschwörung, daß der formelle Gesichtspunkt des Als-wahr-Geltens weiterhin in Kraft bleiben solle: diesen Auftrag erteilt sich Habermas, und darin hat er dann, trivialerweise, seinen Schlüssel zur Interpretation jeglichen intellektuellen Treibens wie er nach Vorbild dieses Treibens aufgefaßten gesellschaftlichen Welt. Und ebenso wie die Welt der Wissenschaft, so ist damit auch jede gesellschaftliche "Lebenswelt" unter einen letztgültigen Maßstab gerückt: Wenn es denn schon im sozialen "Verständigungsprozeß" um ein "Wissen" geht, dem der Widersinn innewohnt, sich als "Vorrat" für ein gesellschaftliches Erfordernis zu wissen und gleichwohl an seinem eigenen Gültigkeitsanspruch festzuhalten, dann entscheidet sich das Ge- oder Mißlingen einer Gesellschaft auch daran, wieweit ihre Manier, ihren "Verständigungsbedarf zu decken", dem von Habermas postulierten Widerrsinn eines "Wissensvorrats" gerecht

wird.

Daß der Inhalt dessen, was da als "Wissen" ausgegeben wird, hierbei keine Rolle spielen kann, ist von vornherein klar. Die Alternativen des Gelingens von "Verständigung" liegen, streng tautologisch, in dem jeweiligen Grad der Schwierigkeit, sie zu erreichen: Am Maß des "Dissensrisikos" unterscheidet Habermas mehr oder weniger "rationale" Formen von "Wissensvorratshaltung" - wobei "Rationalität" umgekehrt nichts anderes zum Inhalt hat als die Vorstellung eines nicht "m vorhinein" garantierten, eines erst herzustellenden Konsenses. "Rationalität" ist damit zum einen gefaßt als "Risiko", nämlich für das Ziel gesellschaftlicher "Verständigung"; das damit den "rationalen", was wiederum nichts anderes heißt als: den nicht vorentschiedenen und insofern "riskanten" Motiven der Beteiligten anheimgestellt wäre: Eine für einen Fanatiker gelingender Gesellschaft sehr einleuchtende Schlußfolgerung aus dem albernen Idealismus, der Bestand gesellschaftlicher Gewalt hinge von ihrer ideellen Überzeugungskraft ab. Unter habermasischen Kriterien ist jedoch das Risiko des Gelingens von Gesellschaft, je größer um so aussichtsreicher, eine Chance nämlich, daß sein Kriterium eines im "Verständigungsprozeß" selbst erzeugten "Wissensvorrats" für die "Deckung" des darin auftretenden "Verständigungsbedarfs" als einziges übrig bleibt, das besagtem "Risiko" gewachsen ist. Dabei will Habermas selbstredend wieder keinen vernünftigen Grund angegeben haben, auf den die "Ratio" bei ihrer Suche nach "Motiven" für gesellschaftliches "Einverständnis" allenfalls stoßen könnte oder gar sollte: das fiele ja wieder unter "Wissensvorrat im vorhinein". Die leere Form der Suche nacli derlei "Motiven": "die Möglichkeit, die potentiellen Gründe, auf die sie ihre Ja/Nein-Stellungnahmen stützen, explizit zu machen", das ist die Chance, die Habermas in dem Risiko entdeckt, daß es für den gesellschaftlichen Zusammenhang auf "die Interpretationsleistungen der Beteiligten selbst" ankäme - das ist für Habermas Vernunft. Die endlose eingebildete Vorlust des Denkens; der Gestus einer Kritik, die nie stattfindet; das immerwährende: "Ich darf, ich könnte, gleich fange ich an zu denken..."; die Begeisterung an der methodischen Stellung des Denkens, zu dem es deswegen nie kommt; das unabschließbare so tun, als ob - als ob nämlich gleich, gleich losgedacht würde, daß es nur so scheppert: das rechnet Habermas der "modernen Gesellschaft als ihre "Rationalität" an.

Und hat dabei in gewisser Weise noch nicht einmal unrecht; bloß anders als er denkt. Denn so funktioniert ein demokratisches Denken ja tatsächlich: Es schätzt die Freiheit zur Kritik so hoch, daß es das Kritisieren glatt vergißt; der gesellschaftlichen Gewalt ordnet es sich in dem albernen Glauben unter, diese stelle sich seinem "Legitimationsbedürfnis" anheim - das deswegen auch schon gar nicht mehr irgendwie eingeklagt zu werden braucht; die Erlaubnis, sich selber gute Gründe für die Unterwerfung zu suchen, ist ihm der beste, unanfechtbarste Grund, dafür zu sein. Dieser Idiotie: der Untertänigkeit demokratischen Denkens, setzt Habermas über 1100 Seiten hinweg ein Denkmal!

d) Da Habermas trotz allem bisweilen noch immer für einen linken Kritiker angesehen wird, mag noch spezielle Erwähnung finden, wie er die "Rekonstruktion" vorgefundener "Theorien" als vorläufiger Versuche, seine Denkstellung einzunehmen, an Karl Marx vollstreckt. Was will uns aber der Denker mit folgender Zusammenfassung sagen?

"Marx hatte den Systemzusammenhang der Selbstverwertung des Kapitals... als fetischistische Totalität begtiffen; daraus hatte sich die methodische Forderung ergeben, alles, was korrekterweise unter eine systemtheotetische Beschreibung zu bringen ist, zugleich als einen Prozeß der Verdinglichung lebendiger Arbeit zu dechiffrieren. Dieser weitgehende Anspruch entfällt aber, wenn wir im kapitalistischen Wirtschaftssystem nicht nur eine neue Formierung von Klassenverhältnissen, sondetn ein fortgeschrittenes Niveau der Systemdifferenzierung eigenen Rechts erkennen. Unter dieser Prämisse verwandelt sich die semantische Frage, wie etwas aus einer Theoriesprache in die andere übersetzt werden kann, in die empirische Frage, wann das Wachstum des monetär-bürokratischen Komplexes Handlungsbereiche berührt, die nicht ohne pathologische Nebenwirkungen auf systemintegrative Mechanismen umgestellt werden können." (II, 548)

a) Auf die Idee muß man auch erst einmal kommen, Marx' Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus für eine "semantische Frage" zu halten! Zu lernen ist daraus nichts über das Kapital und noch nicht einmal etwas über Marx; exemplarisch ersichtlich wird das Verfahren, mit dem Habermas fremde Theorien seiner fixen Idee inkorporiert. Ohne sich weiter für irgendeines der Marxschen Urteile zu interessieren, nimmt er dessen Theorie als praktiziertes Verfahren, nämlich als Entschluß zu einer "systemtheoretischen" also zu einer "Beschreibung" der kapitalistischen Welt, die o tut als b deren Begriff darin läge, "System" zu sein - eine soziologische Dummheit, der Marx sich wahrhaftig nicht schuldig gemacht hat! -; für problematisch befindet er alsdann die ganz allein von ihm unterstellte Marxsche Absicht, vermittels dieses methodischen Vorurteils "Prozesse" zu "dechiffrieren", die nach Habermas' Auffassung so nicht zureichend zu erfassen seien, nämlich eben die "Lebenswelt", von der ja feststeht, daß es in ihr "verständigungs"mäßig und nicht "systemisch" zugeht; daß Marx diese Unterscheidung nicht gemacht hat, nimmt sich, in deren Licht gesehen, nämlich als die "starke" Behauptung aus, das "systemtheoretische" und das habermasisch-"kommunikationstheoretische" methodische Vorurteil wären in ihrer theoretischen "Leistungskraft" und "Reichweite" "äquivalent" - das mag Habermas dem Marx nicht glauben.

b) Er mag das nicht, weil er vom Kapitalismus ganz einfach eine bessere Meinung hat. Von seiner Wissenschaftstheorie her gedacht, hält Habermas der kapitalistischen "Lebenswelt" zugute, daß sie sich ganz vortrefflich in sein methodisches Vorurteil einfügt, neben einer "systemtheoretischen" müßte sich doch auch eine "kommunikationstheoretische" "Theoriesprache" auf sie anwenden lassen - wie sollte der Kapitalismus sich gegen die einsamen Beschlüsse seines dialogwütigen Interpreten auch wehren können?! Sozialphilosophisch gedacht, braucht man nur jedes Risiko als Chance zu nehmen, und schon stellt sich heraus, daß im Kapitalismus gar nicht das Kapital die Arbeiter benützt und eine politische Gewalt die nötige Herrschaft als Recht regelt, sondern Lebenswelt und System, kommunikative und unkommunikative Integration, Demokratie auf der einen, Macht und Geld auf einer anderen Seite sich "ausdifferenziert" haben. Einer Einsicht bedarf es für dieses Kompliment nicht, nur eines "Ausgangs":

"Wenn wir davon ausgehen, daß sich die Menschengattung über die gesellschaftlich koordinierten Tätigkeiten ihrer Mitglieder erhält, und daß diese Koordination durch Kommunikation, und in zentralen Bereichen durch eine auf Einverständnis zielende Kommunikation hergestellt werden muß." (I, 532)

wenn "wir" also an das fiktive Subjekt "Menschengattung" als Urheber der Geschichte glauben, Ausbeutung und die dazugehörige Gewalt als Variante von "Koordination" auffassen, dem gesellschaftlichen "Koordinieren" als seinen heimlichen Grund das habermasische Ideal eines sich selbst hervorbringenden und rechtfertigenden "Verständigungsprozesses" unterstellen, - dann werden natürlich sämtliche Einrichtungen des Kapitalismus zu hochinteressantem Stoff für die langweilige, weil ihre Antwort schon in sich enthaltende Frage, ob nicht auch an ihnen von dem fragwürdigen "systemischen" ein viel grundlegenderer guter, kommunikativer "Aspekt" zu unterscheiden sei - - - Aber immer!

Für diese gute Meinung über den Kapitalismus im Namen seiner edleren Seite verfügt Habermas zu allem Überfluß sogar - außer dem passenden Ausgangspunkt - über einen Beweis, in dem sich Theorie und Praxis seines wissenschaftstheoretisch-sozialphilosophisch-methodologischen Denkkrampfs schlüssig zusammenfassen: SICH SELBST!

3. Ein Hauch von Weltgeist zum Abschluß

Worauf will einer hinaus, der sein Opus magnum mit dem folgenden "immerhin" beschließt?

"Nun läßt die Theorie der Moderne, die ich in sehr groben Umrissen skizziert habe, immerhin folgendes erkennen. In modernen Gesellschaften erweitern sich die Kontingenzspielräume für die aus normativen Kontexten entbundenen Interaktionen so weit, daß der Eigensinn des kommunikativen Handelns sowohl in den entinstitutionalisierten Verkehrsformen der familialen Privatsphäre wie in der durch Massenmedien geprägten Öffentlichkeit 'praktisch wahr wird'. Gleichzeitig dringen die Imperative verselbständigter Subsysteme in die Lebenswelt ein und erzwingen auf dem Wege der Monetarisierung und Bürokratisierung eine Angleichung des kommunikativen Handelns an formal organisierte Handlungsbereiche auch dort, wo der

handlungskoordinierende Mechanismus der Verständigung funktional notwendig ist. Vielleicht kann diese provokative Bedrohung, eine Herausforderung, die die symbolischen Strukturen der Lebenswelt m ganzen in Frage stellt, plausibel machen, warum diese für uns zugänglich geworden sind." (II, 593)

Hier faßt sich Habermas' Urteil über die Welt in dem äußersten und verrücktesten Kompliment zusammen, zu dem ein moralisches, d.h. auf nichts so sehr wie auf die Rechtfertigung seines eigenen Vollzugs versessenen Denken es überhaupt nur bringen kann. Wozu hat die Welt mit ihrer Dialektik von Risiko (für das Ideal der Konkurrenz, eine sogar von der "Last" inhaltlicher Interessen und Urteile befreite, rein auf Verständigung schlechthin bedachte "Kommunikation") und Chance (für eben dieses Ideal) es letztendlich gebracht?

Zum Habermasianismus!

P.S.

Sogar da ist etwas Wahres dran. "In modernen Gesellschaften" hat und genießt der Geist die Freiheit, sich luxuriös zur Welt zu verhalten: sie mit selbstgewählten apologetischen Idealen zu vergleichen, das Verglichene als "Problem" schlechthin zu fassen, sich um sein Gelingen rein theoretische, aber Sorgen zu machen. Diese Freiheit zu einem Luxus des Denkens, der den bedachten Gegenständen niemals mit einer Erklärung zu nahe tritt, erreicht ihren Gipfel darin, daß sie ihr eigenes Spiel als das äußerste Drangsal auffaßt, sich selber rein methodisch äußerste Wichtigkeit als Inbegriff des Weltgeschehens zuspricht; die idealistische Auffassung der Welt als Inkarnation der im Denken frei gewählten Prinzipien ihrer Be-Urteilung ist darin zu ihrer praktischen Konsequenz gebracht. Sogar dieser Gipfelpunkt läßt sich aber noch überbieten: dadurch, daß die methodische Beteuerung der tiefen Sorge des Denkens, welches in Wahrheit die Last der ganzen Welt auszuhalten hätte, selber vom Schnörkel zur Hauptsache, vom Selbstbewußtsein bürgerlichen Räsonnierens zu seinem Inhalt wird und sich an der Identität von Inhalt und Selbstbewußtsein erfreut, indem es diese methodisch beschwört... und so weiter. Luxuriöses untertäniges Denken, das sich selbst als höchste Pflicht versteht, verliert sich an seinem logischen Endpunkt in dem Wahn, sein beständiges leeres Um-sich-selbst-Kreisen wäre der Begriff des drohenden Untergangs und der Auftakt zur Rettung des Abendlandes.

So gesehen ist Habermas tatsächlich ein folgerichtiges Endprodukt der bundesdeutschen Geistesgeschichte. Der geschieht er recht!

P.P.S.

In solchem Wahn verliert sich die weltanschauliche Sinnsuche, wenn es dem Geist nur noch auf die Sinnsuche selbst ankommt; d.h. wenn er jedes Ideal von sich abtut, das noch irgendwie als - auch nur ideelle - Bedingung seines Einverständnisses mit dem Lauf der Welt mißverstanden werden könnte; wenn er also bedingungslos dafür sein will. Der Spleen, die "Rationalität" der "modernen Welt" retten zu wollen, hat seine Konjunkturen. Und die sind keineswegs bloß durch den immanenten Fortschritt der methodischen Moralisierung und moralischen Methodologisierung des Denkens bestimmt. Zur Popularität eines Rettungsmanövers gehört die populäre Vorfreude auf einen Untergang. Und an solchen "Perspektiven" hat die "moderne Welt" derzeit ja wahrhaftig einiges zu bieten.