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Dieser Artikel ist in der MSZ 3-1982 erschienen.

Polen
FREIHEITLICH GEMUSTERT

Ausländische Staaten werden nicht nach den politologischen Idealen von Freiheit, Gleichheit und Demokratie gemustert, auch nicht nach den praktischen Umgangsformen demokratischer Herrschaft, sondern nach den Ansprüchen an eine für die eigenen Interessen brauchbare stabile Herrschaft. Wenn der Einsatz von Gewalt gegen das Volk das Kriterium wäre, man käme aus dem Verurteilen nicht heraus. Aber da kommt es schon darauf an, wei sie praktiziert und wie sie mit den eigenen nationalen Anliegen zusammengeht.

Für solche Unterscheidungen stellen sich die demokratischen Vergleichsmaßstäbe dann allerdings bereitwillig ein.

Die polnischen Generäle agieren auf der falschen Seite, also finden sich an ihrer Regierung die Belege, die aus der westlichen Rüstungsdiplomatie eine folgerichtige "Reaktion" auf die polnischen "Ereignisse" machen. Bei Polen weiß inzwischen ein jeder, daß er an der Führungsmannschaft so ziemlich alles zu verabscheuen hat, während über die Militärdiktatur an der NATO-Süd-Ost-Flanke gerade noch diskutiert wird, ob man sie wegen der Glaubwürdigkeit westlicher Polenpolitik in einem Atemzug mit Polen nennen müßte, oder ob sie nicht unvergleichlich ist. "Geduldet" wird sie - wie andere diktatorische Partner - auf jeden Fall. Die Militärregierung in Polen nicht. Da gilt auf der einen Seite "Solidarität mit Solidarnosc" von den höchsten Stellen, Solidarität also mit einer aufrührerischen Bewegung, die sich durch Rücksichtslosigkeit gegenüber den Erfordernissen der Wirtschaft ausgezeichnet hat, auf die man hierzulande immer hören muß... Auf der anderen Seite werden Sanktionsmaßnahmen beschlossen, wie sie sich gegen die Türkei und El Salvador als "wenig hilfreich" verbieten; Sanktionen gegen eine Staatsgewalt, die gegen Staatsgegner in den eigenen Reihen das laut Sozialkunde allerheiligste Ziel jeder Herrschaft "die Ordnung", rettet... Daß beides so volksfreundlich verstanden wird, die plötzliche Zuneigung zu Aufrührern wie die Bestrafung einer Ruhe und Ordnung stiftenden Regierung, verdankt sich einem gut geschulten antikommunistischen Untertanenverstand, der die Himmelsrichtungen zu unterscheiden gelernt hat; der daher die Abweichungen der polnischen Militärherrschaft vom gewohnten Muster einer "blutigen Schreckensherrschaft" geflissentlich übersieht und die Prinzipienfestigkeit der eigenen Staatsmänner schon gar nicht anhand ihrer eigenen Herrschaftsusancen überprüft.

Nachdem schon Aüßenminister Haig den Vergleich mit der Türkei verboten hat, haben wir dem nichts mehr hinzuzufügen. Herrschaft in Ost und West ist wirklich nicht zu vergleichen; schon gar nicht Polen und unsere erfolgreiche demokratische Bundesrepublik - wie ein Vergleich beweist.

Eine Militärdiktatur mit Massenagitation

In Polen werden die oppositionellen Anliegen mehr oder weniger eines ganzen Volkes mit Gewaltandrohungen unterdrückt, und doch bemüht man sich zugleich um (Mit-)Arbeit des ganzen Volkes bei der Konsolidierung des Staates. Der Staat ist darauf aus, daß seine Bürger für ihn arbeiten, und bemüht sich mit Drohungen und Kompromißangeboten um die Unterstützung seines Volkes. Die Militärs wollen zur gesicherten Herrschaft auch wieder einen brauchbaren, gehorsamen Volkswillen herstellen, auf den sie sich stützen können. Deshalb gehören in Polen Kriegsrecht und Zurückhaltung bei seiner Anwendung zusammen, während in der Türkei, Pakistan, Chile, Südkorea, Guatemala, Marokko, Ägypten und wie die vielen Partner des Westens alle heißen, auf die Mitwirkung des Volkes und einen darauf kalkulierten gebremsten Einsatz der Machtmittel verzichtet wird. Dort erhält sich das Militär selbst - und wird darin von außen gehalten. In einem ist die polnische Junta wirklich glaubwürdig: Die jetzigen Zustände will sie nicht beibehalten. Sie lügt nicht einmal, wenn sie die schlechte Versorgung beklagt: Hätten die Leute genug zu essen, würde auch Polen besser funktionieren, der Oppositionsgeist, den sie möglichst nicht einfach ausräumen möchte, vielleicht geschwächt.

Solche Probleme bekommt die BRD erst gar nicht: Lebensmittel gibt es aus Geschäftsgründen genug zu kaufen, so daß sich ein Helmut Schmidt nicht um Fragen der Versorgung zu kümmern braucht, sondern um die Finanzierung des Staatshaushalts mit dem Geld, wovon sich deutsche Arbeiter das Notwendige kaufen. Dafür wird fleißig gearbeitet, so daß der nationale Reichtum wächst und die Zahl der für seine Vermehrung überflüssig Gemachten wächst. Die haben dann zwar noch weniger Geld, bringen aber nicht das System in Gefahr, sondern warten darauf, daß es ihnen wieder Arbeit verschafft oder auch nicht. Hier fehlt es nicht an Fleisch, sondern an "Arbeitsplätzen". Deswegen wird allgemein von einer Krise geredet und jeder setzt sich dafür ein, daß Staat und Wirtschaft vorankommen auch wenn das alles andere als Arbeitsplätze schafft.

Eine Militärdiktatur mit Arbeit unter Kriegsrecht

Mit der Unterstellung der Schlüsselindustrien unter Militäraufsicht sollen Arbeitsboykott oder Bummelstreik ausgeschlossen und der sachgemäße Einsatz der Arbeit sichergestellt werden, soweit die lädierte Wirtschaft die sachlichen Bedingungen dafür zur Verfügung stellt.

Hierzulande darf ein Arbeiter für den "Besitz" eines Arbeitsplatzes dankbar sein. Wer arbeiten will, weil er muß, für den ist alles zumutbar, weitere Gewalt erübrigt sich. Drüben muß man arbeiten, hier darf man müssen.

ine Militärdiktatur auf der Suche nach einem DGB

Dieselbe bundesdeutsche Regierung, die in aller Deutlichkeit das Notwendige zu den englischen Teepausen und der italienischen Streikfreude gesagt hat, will in Polen eine oppositionelle Gewerkschaft wieder eingesetzt sehen, eine Opposition, mit deren Zulassung sich die Generäle gleich selber aufgeben könnten. Das in der Staatenwelt allerordinärste und in Demokratien verfassungsmäßig festgelegte Mittel zur Ausschaltung von praktischer Opposition im Volk, den Notstand ausrufen und die Macht dem Militär ühertragen, gilt in Polen aber als Mißbrauch der Staatsgewalt.

Dafür läßt der Westen die polnische Ordnungsmacht büßen, die ihrerseits die BRD um ihre Gewerkschaften beneidet und ein "Modell" nach dem anderen diskutiert:

Manche favorisieren eine Gliederung der Gewerkschaften nach Industrien, mit einem Dachverband nach deutschem Muster, Streiks sollen wieder zugelassen werden, aber bei strenger Einhaltung der Verhandlungs- und Schlichtungsverfahren im Tarifstreit. Streik als letztes Mittel also."

Aber davon kann der polnische Staat nur träumen. Es ist eben ein entscheidender Unterschied, ob man sich eine staatstreue Gewerkschaft erst einrichten, ob man einer ungehorsamen Arbeiterklasse ein Loyalitätsbekenntnis per Kriegsrecht erst einbleuen muß, bevor man ihre Vertretung wieder mitmachen läßt, oder ob man einen DGB hat. Einen DGB, der wegen der Nation Lohnverzicht durchsetzt, der Streik als Recht verehrt, das man durch Benutzung nur schädigt, der für die Tarifautonomie jedes Arbeiterinteresse freiwillig schon längst geopfert hat, einen DGB also, der seinen Staat davor bewahrt, auch nur jemals veranlaßt zu sein, die guten Notstandsgesetze anzuwenden.

Das Verständnis westlicher Politiker für einen gewerkschaftlich geführten Volksaufstand hat seine Grenze an der Mauer, aber es wird westlich davon auch erst gar nicht in Versuchung geführt.

Eine Militärdiktatur, die ihre Feinde mit Kalorien foltert

Weil die Militärs sich darum bemühen, daß sich ihr Volk zu einer zivileren Methode des Mitmachens bereitfindet, sind sie sehr skrupulös in ihrem Einsatz von Gewalt und sehr rücksichtsvoll in der Behandlung ihrer Feinde - nach wie vor die Adressaten für eine neue nationale Lösung. Ein Walesa wird nicht verknackt oder unterwegs aus dem Flugzeug verloren, sondern interniert. Beim besten Bemühen sind keine Folterspuren zu entdecken, stattdessen bekommt er zuviel zu essen. Aus dem Gefängnis dementiert der katholische Berater der "Solidarität", Mazowiecki, westliche Meldungen, er habe bei seiner Verhaftung Selbstmord begangen. Michnik will nicht einmal verprügelt worden sein und läßt sich ebenso wie Kuron in seiner Publikationstätigkeit durch die äußeren Umstände nicht behindern. Sie sind interniert als Staatsfeinde, die der polnische Staat nicht als solche behandeln mag, in der Berechnung, sie vielleicht doch noch zur konstruktiven Mitwirkung an einem Polen in seinem Sinne zu bewegen. Die er aber auch, wenn sie nicht wollen, nicht einfach abservieren kann.

Die BRD und ihre Staatsfeinde? Kein Problem, weil so gut wie alle mitmachen. Dafür dürfen sie auch zwischen CDU und SPD wählen und öffentlich über beide meckern, und wer nicht bloß oder zu häßlich mekkert, ist ein Feind der Freiheit und wird nach allen Regeln des Grundgesetzes verknackt. Nicht daß Polizei und Verfassungsschutz unterbeschäftigt wären, Berufsverbote, Hausbesetzer, Startbahngegner und ähnliches Gelichter halten den Justizapparat am Laufen, aber doch deshalb, weil sie sich außerhalb unserer FDGO stellen! Und wer kommt und sagt, daß der Umgang mit solchen nicht rechtens wäre, wer das Wort "Isolationsfolter" benutzt, der beleidigt un-rechtskräftig unsere Republik. Wer wollte da von Gewalt reden, wo doch alle verantwortlichen Parteipolitiker bloß den Definitionsproblemen und Verhaltensunsicherheiten der Vollzugsorgane Rechnung tragen und eine neueröffnete Gesetzeslücke nach der anderen schließen, damit die Freiheit wirklich über jede mißbräuchliche Verwendung erhaben ist!

Eine östliche Militärdiktatur mit westlichen Maßstäben

erlaubt nicht nur Hunderttausenden, allfeiertäglich im Namen einer staatsgefährdenden Ideologie zu demonstrieren und arrangiert sich mit den Glaubensrepräsentanten, sie behandelt auch verbotene Demonstrationen am Tag der Arbeit nicht bürgerkriegsmäßig, sondern mit Polizeimethoden. Das beweist ihren Unterdrückungscharakter. Hierzulande wird nämlich kommunistisches Gedankengut als staatsgefährdend verfolgt und am ersten Mai die Einigkeit der nationalen Arbeit von oben demonstriert. Das deutsche Fernsehen berichtet beiläufig und verständnissicher von den Polizeimethoden bei der Startbahn West, hauptsächlich und umgekehrt verständnisgewiß über die Straßenschlachten in Warschau und Stettin. Denn unser freies Staatsfernsehen bekommt noch vom unfreien polnischen Staatsfernsehen und von zugelassenen französischen Teams die Bilder aus Polen überspielt. Ein Beweis der Überlegenheit des freien Westens, der von der Erschießung türkischer Demonstranten weder Bilder will, noch erhält. Einmischung in die inneren Verhältnisse Polens heißt das nicht, nicht einmal von polnischer Seite; dort herrscht nämlich

Eine Militärdiktatur, die um westliches Verständnis bemüht ist

Schon die ersten Verlautbarungen der Generäle nach ihrer Machtübernahme klingen merkwürdig gemessen an der Bedrohung, die laut der westlichen Öffentlichkeit von der "Weltkrise durch Polen" ausgeht.

"Wir sind uns völlig darüber im klaren, daß ein Fortdauern des Kriegsrechts keinen Anreiz zur Zusammenarbeit mit Polen geben kann."

Daß eine sozialistische Junta nach außen so wenig furchterregend auftritt und als erstes um Verständnis wirbt, stellt die Abhängigkeitsverhältnisse klar: Mit einem westlichen Handels- und Kreditboykott läßt sich kein nationales Errettungsprograrnm in Polen machen.

Über "Anreize zur Zusammenarbeit" braucht sich unsere erfolgreiche Herrschaft dagegen keine Gedanken zu machen. Schmidt und Genscher ersuchen nicht um Zustimmung und Verständnis für innere Ordnungsmaßnahmen, sie verlangen beides selbstverständlich. Sie sind ja auch tatkräftig daran beteiligt, wenn der Westen darüber befindet, wann ein Gewalthaber fehl am Platz ist und der CIA oder andere Mittel zum Einsatz kommen müssen, und wann so einer genau der Passende ist, weil seinem Volk die Reife fehlt.

Im Fall Polen genügt Zurückhaltung und schon gelangen nicht mehr die Produktionsmittel ins Land, die die polnische Wirtschaft braucht. Der demonstrativen östlichen Kompromißwilligkeit begegnet man mit Kompromißlosigkeit. Deswegen will man auch den Oppositionellen drüben die Segnungen der Unfreiheit keinesfalls ersparen, selbst wenn sie wollten. Denn

Eine Militärdiktatur, die ihre freiheitsliebenden Feinde in die Freiheit abschieben will

ist ein Monstrum, denn sie nimmt ihnen damit die Heimat. Weshalb die mildtätige BRD sich vorsorglich weigert, solche aufzunehmen. Das Auswanderungsangebot der Militärs ist ein übler Trick, und die Menschenfreundlichkeit der BRD besteht darin, keine solchen Menschen zu übernehmen.

"Gewalt darf kein Mittel der Politik sein", ist nämlich das Credo von Schmidt, Genscher und Konsorten; damit wollen sie sich vom Osten unterschieden haben und werden dabei nicht rot, genausowenig wie ihrem Publikum dabei etwas auffallen will.