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Sozialdemokratie '82
SPD-PARTEITAG IN MÜNCHEN
22 Jahre nach dem Beschluß des Godesberger Programms, im 19. Jahr unter dem Vorsitzenden Willy Brandt, im 17. Jahr der SPD in der Regierungsverantwortung, im 8. Jahr der Kanzlerschaft Helmut Schmidts, unter Abwesenheit Herbert Wehners und nach über 100 Jahren Arbeiterbewegung in der SPD, 68 Jahre nach der Bewilligung der Kriegskredite für den 1. Weltkrieg durch die SPD und 1 Jahr vor der Aufstellung neuer Mittelstreckenraketen in Deutschland, 2 Monate vor der Fußballweltmeisterschaft, in "schweren Zeiten" und vor "großen Herausforderungen", vor dem Regierungswechsel - ein "Aufbruch nach vorn". Beginn Montag, den 19. April 1982, 10 Uhr.
Vorher stebt fest: "Ich denke, das wird ein erstaunlicher Parteitag." (Glotz) Woher er das vorber weiß? Er hat es doch gesagt und vorgesorgt ist auch: Die Leitanträge des Parteivorstandes müssen Mehrheiten bekommen! "Geschlossenheit" ist zu zeigen, ebenso "Entschlossenbeit", "Signal nach vorn", "Flagge", "Aufbruch", "Erneuerung", "Profil" - Parteitag der Arbeit". Denn "die Mehrheit muß wissen, was die SPD will".
1. Tag Geschlossenheit
Nein, wir sind nicht in Ostberlin auf dem Parteitag der Einheitspartei. Es spielt nicht eine Bergmannskapelle aus dem Erzgebirge, sondern eine bayerische Bergmannskapelle. Vorn groß das Parteitagsmotto, bestehend aus zwei Lügen "Arbeit schaffen", "Frieden sichern" und einer Wahrheit, wenn man sie richtig versteht, "Freiheit bewahren", nämlich die Handlungsfreiheit des Staates. Davor die Vorstandstribüne. Zeichen konkreter Parteiarbeit und der Einheit der Partei in Ebene 4 der Olympiahalle. 75 Ortsvereine stellen ihre Politik aus und beweisen so, daß die Basis von der Führung nicht entfernit ist, denn die Basis ist d a.
Rechenschaftsbericht des Parteivorsitzenden. Brandt gibt, da Wähler fortgelaufen sind, ehrlich "Schwächen" der Partei und "Vertrauensschwund" zu. Das muß aufhören, "Geschlossenheit" und nochmals "Geschlossenheit".
"Die Partei, das sind wir alle. Sie ist niemandes Besitz. Die Partei ist keinem dienstbar, sondern alle haben ihr zu dienen. Sie ist weder kollektiver Prügelknabe, noch ein Instrument, das einem beliebig (!) zur Profilierung zur Verfügung steht. Sie ist allen Gewählten anvertraut, um gemeinsam erarbeitete Programme zum Nutzen unseres Volkes zu verwirklichen, soweit das irgend geht und das Vertrauen der Menschen uns trägt."
Nein, wir sind nicht in Ostberlin. Bei der SPD wird diskutiert, inhaltlich, und entschieden:
"Niemandem kann eine Überzeugung aufgezwungen werden, aber für die Haltung der Partei nach außen muß gelten, was die Mehrheit" (für die Leitantrage des Vorstandes und den Kanzler) "beschlossen hat."
Dann geht Brandt in die Offensive, indem er sagt: "Wir müssen aus der Defensive heraus." Offen und ohne Heuchelei seine psychologische Einschätzung der Partei: "Wir verspüren keine Lust an der Ohnmacht." Literarisch einwandfrei auch die behutsame Anmache der Delegierten: "Das Tal, durch das wir jetzt gehen, ist tiefer als frühere..." Es folgt ein sozialdemokratisches Profil nach denm anderen. "Wir sagen, was Sache ist." "Hier sagen wir unsere Meinung." - Wann tut er's denn endlich? Ah, jetzt! "Was not tut, ist Orientierung." "Aber die Partei muß zugleich weitergreifen: zeitlich, inhaltlich, perspektivisch." Soll er doch anfangen damit. "Wir werden daran gemessen, ob wir uns als Partei der Arbeit bewähren. Und als Partei der Arbeiter." Da, er verspricht doch noch Inhaltliches, eine sozialdemokratische Grundposition:
"Doch die hinter (!) uns liegende Phase, in der wir Armut abgeschafft (!) und unseren Staat (!) sozial abgesichert haben, steht mit ihren Ergebnissen nicht zur Disposition."
Kein Versprecher, sondern sozialdemokratische "Klarheit" über den Sozialstaat. Nicht zur Disposition steht auch der NATO-Doppelbeschluß. Erst im nächsten Jahr werden die Waffen aufgestellt. Den Genossen, die jetzt neu darüber entscheiden wollen, wird ihre eigene Ideologie von Sinn und Zweck der Verhandlungen untergejubelt:
"Ein Abrücken vom NATO-Beschluß könnte der Sowjetunion das Alibi liefern, nicht ernsthaft zu verhandeln. Und sie gäbe den USA Anlaß" (ein wenig Antiamerikanismus muß schon sein), "sich von der Selbstverpflichtung zu ernsthaften Verhandlungen zu entfernen. Beides können und dürfen wir nicht wollen."
Noch ein wenig Ideales, für Umweltschutz, die Neger und so, und Brandt schreitet zum Höhepunkt seines Rechenschaftsberichtes:
"Wir stehen zum Kanzler und zur Koalition. Wir haben keinen Grund, uns zu verstecken. Wenn wir Profil zeigen, werden sich die Bürger bei uns einfinden."
Anhaltender Beifall für den integrierenden Vorsitzenden. Die anschließende Aussprache ist nach Ansicht Luegs von ARD "maßvoll", "um die Erneuerung nicht schon im Ansatz zu zerreden". Also erste Erfolge sichtbar. Auch die Delegierten plädieren immer wieder für die Geschlossenheit. Abends schwärmt die Führungsmannschaft aus, um auf 100 Veranstaltungen in Südbayern "Verständigung" mit der Basis zu demonstrieren. Die Genossen nahmen's denn auch als Sprung nach vorn, wenn der Parteitag Profil zeige, seien sie optimistisch. Ein junges Mädchen faßte zusammen: "Bei mir ist sie ganz gut, die Stimmung."
2. Tag Solidarität mit dem Kanzler und umgekehrt
Der Kanzler spricht. Auftakt mit einer wahrscheinlichen Einschätzung der Geschichte, in der die SPD noch drinsteckt: "Wahrscheinlich hat dieser Parteitag geschichtliche Bedeutung." Die Delegierten nicken innerlich.
Dann - schon wieder - große Entschlossenheit beim Kanzler selbstverständlich in der Ich-Form:
"...kämpfe ich auf diesem Parteitag - gemeinsam mit vielen Genossinnen und Genossen - für die Stärkung der Regierungsfähigkeit unserer Partei."
Das glaubt jeder. In der Sache bleibt der Kanzler hart: Kernenergie wird weiter ausgebaut; der Druck auf den Osten mit Aufrüstung muß aufrechterhalten werden, "auch der zeitliche Druck", damit die Russen nachgeben können; Rücksicht auf den Koalitionspartner nicht zu umgehen. In der Sache "SPD als Partei der Interessen der Arbeitnehmer" gibt er zu, daß auf diesem Gebiet zu wenig "kantige Handgreiflichkeit" gezeigt worden sei. Schmidt frischt den traditionellen sozialdemokratischen Eindruck auf.
"Zu unserer politischen Moral gehört unverzichtbar die Vertretung der materiellen Interessen der kleinen Leute - und das geht nur in deren eigener Sprache und eigenen Begriffswelt. Nirgendwo dürfen wir - die Erben und Sachwalter der Arbeiterbewegung - die Arbeiter in unserer eigenen Partei durch schwer verständliche akademische Sprache verschüchtern."
Die Sprache des Kanzlers versteht jeder. Jeder Kanalarbeiter, jeder kleine Mann versteht die einfachen Worte, die er schon im Kindergarten gelernt hat. Jede Krankenschwester und jeder Arbeitslose verspürt die "Handgreiflichkeit", wenn der Staatsmann die unverzichtbare Vertretung der Interessen der Arbeitnehmer verkündet:
"Große Anstrengungen und erhebliche materielle Opfer bleiben notwendig. Unsere Sache ist es, diese Opfer gerecht zu verteilen und keine unnützen Opfer zu verlangen."
Parteipolitisch viel wichtiger aber die "Anstrengungen des Kanzlers, zwischen sich und seiner Partei demonstrative Solidarität zu stiften. Dafür macht sich Helmut noch kleiner als er ist: "Meine Person ist weniger wichtig, als mancher meint." Er gibt Fehler zu - "Ich weiß, daß ich Fehler gemacht habe." -, welche, sagt er nicht, aber darauf kommt es ja auch nicht an. Schließlich der versöhnende Durchbruch, die Partei ist auch eigenständig:
"Unsere Partei, die doch auf Reform des Bestehenden abzielt, darf sich nicht auf Erklärung und Verwaltung des Bestehenden beschränken. Sie muß Vordenker für zukunftsträchtige Sachlösungen sein. ... Die Partei darf nicht nur, sie muß der Rcgierung vorauseilen."
Das ist keine Wählerverarschung, wenn die Partei sich alles mögliche ausdenken darf, was doch nicht verwirklicht wird, das ist vielmehr das demonstrative Zugehen des Kanzlers auf seine Partei. Natürlich nicht zu weit, Regierungschef bleibt Regierungschef, und der Kapitän begeistert seine Mannschaft:
"Der Bundeskanzler darf sich trotzdem weder die Richtliniengewalt noch seine anderen Aufgaben aus der Hand nehmen lassen. ...
Es geht vielmehr darum, das Staatsschiff nicht in sehr hartem Wetter einem anderen Kommando zu überantworten...
Realismus gegenüber den zwei großen Herausforderungen der heutigen Welt und eine Erneuerung unseres Wir-Gefühls."
Hurrah, großer Beifall. Nein, Schmidt selbst klatscht nicht mit. Wir sind doch nicht in Ostberlin. Er dämpft vielmehr - auch das eine versöhnliche Geste des Kanzlers - mit ausgebreiteten Händen staatsmännisch den Applaus der Delegierten.
Die Delegierten danken es ihm, "kein Öl in das Feuer des Parteitags" gegossen zu haben. Selbst Eppler bescheinigt dem Kanzler, "zur Verständigung in der Partei beigetragen" zu haben. Die "sachlichen" Auseinandersetzungen in der Aussprache und in den Arbeitsgruppen sind wieder maßvoll. Die "Münchener Versöhnung" soll nicht ihren guten Eindruck verlieren. Das Fernsehen bezichtigt Schmidt einer "taktischen Meisterleistung". Morgen wird die Methode fortgesetzt, mit dem Beschluß von Anträgen!
3. Tag "Klare Konturen gegenüber der FDP"
Sechs Stunden Debatte über ein Beschäftigungsprogramm, das beweisen soll: "Die SPD bleibt Partei der Arbeit"; und sich gegenüber der FDP deutlich abgrenzen will. Der Leitantrag wird durch "sozialdemokratische Perspektiven zur Wiedererlangung der Vollbeschäftigung" aufgefüllt. Man merkt, daß der Vorstand beschlossen hat, auf diesem Felde, das ideale arbeitnehmerfreundliche Profil voll zum Zug kommen zu lassen. . Unter diesen Auspizien trübt es die Stimmung nicht,
- daß jeder weiß, daß der Antrag keinen Arbeitsplätz schafft;
- Daß Arbeitnehmerbeitrag, zeitlich begrenzte Ergänzungsabgabe für höher Verdienende, Steuererhöhung für Spitzenverdiener zwar Leuten Geld wegnimmt, aber damit den Arbeitslosen kein Geld verschafft - hier geht es um die Grundposition Gerechtikeit;
- daß man sicher ist, daß fast alles dies mit der FDP in der Regierung (in der man ja bleiben will) "nicht zu verwirklichen" ist. Mit überwältigender Mehrheit werden die "klaren Konturen" der SPD angenommen. Börner, wohl wegen seiner bevorstehenden Landtagswahl in vorderster Front beim Scheinkampf für die lieben Arbeiter bringt das schlagendste Argument, weshalb die SPD sich sozial geben müsse, die Staatsraison:
"Es besteht eine Wechselwirkung zwischen sozialer Stabilität und demokratisctier Stabilität des Staates."
Das stört die scheinheilige Debatte "für Arbeiter und ihre Rechte" nicht. Der nächste sagt im bruchlosen Übergang dazu: "Arbeitslose brauchen Hilfe." Ein Tag der Sozialdemokratie. Die FDP läßt postwendend erklären: Mit ihr nicht! Gerüchte um die Schließung der Parteizeitung "Vorwärts" werden dementiert.
4. Tag Abschluß der Erneuerung
Energie- und Sicherheitspolitik verträgen keine sozialdemokratischen Utopien. Der Kanzler hat es gesagt. Die Vorstandswahlen sind das Spiegelbild von Glaube und Hoffnung und Zweifel an der SPD in der Regierungsverantwortung, linke Mitte gegen mittlere Rechte. Wegen des einheitlichen Bildes wird breiter Konsens angestrebt. Das Schlußwort des Parteivorsitzenden ist wieder voll von Geschlossenheit, von Kampfeswillen für den Erhalt der Verantwortung, von Unterstützung für den Bundeskanzler, vom demonstrativen neuen Wir-Gefühl. Gerade dieses Bemühen unterstreicht noch einmal die "geschichtliche Bedeutung" dieses Parteitags: Egal ob es "wahrscheinlicher" ist, wo sich die SPD "regeneriert" - in der Opposition oder weiter an der Macht.
Auf jeden Fall haben diese Tage der Sozialdemokratie bestätigt, was der Kanzler schon vorher verkündete:
"Die Sozialdemokratie hat sich im Laufe von 120 Jahren selbst befähigt, die Arbeiter von Objekten politischer Willkür zu Subjekten der politischen Gestaltung zu machen."
Das muß jedem aufgefallen sein.