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Dieser Artikel ist in der MSZ 2-1982 erschienen.

Systematik


Imperialismus heute

"Der Arglose hält es in dieser Welt notwendig mit den Henkern, und dementsprechend reagiert auch das allgemeine Bewußtsein, die Schule, die Zeitung, die Wissenschaft, kurz der objektve Geist in seinen Funktionen und Funktionären - beileibe nicht mit heuchlerischer Überlegung - niemand braucht zu lügen -, sondern aus ehrlichem Instinkt." (Horkheimer als Heinrich Regius, Dämmerung)

"Das Prinzip aller Stellungnahmen zum Ausland und seinen Menschen, der Zynismus der Souveränität liegt in ihrer Beurteilung 'in bezug auf uns'. Wer dieses Prinzip verfolgt, nimmt unter dem Vorwand, nicht seinem willkürlichen Geschmack, sondern dem aller zu entsprechen, den Standpunkt der höchsten Gewalt ein, die er anerkennt. So als hinge der angemessene Umgang mit jenen Leuten von seiner Einschätzung ab, be- und verurteilt er alles und jeden, der nicht unter der Botmäßigkeit seines Souveräns steht, als Beschränkung und Gefahr." (Marxistische Gruppe, Imperialismus 1, Resultate Nr. 4)

In dieser Rubrik bringen wir in loser Folge Fallstudien über den gewöhnlichen Imperialismus heute: Gezeigt werden soll an ihnen 1. was wirklich los ist, 2. wie man es sehen soll und 3. was der real existierende Imperialismus daraus macht.

LANDNAHME: ISRAELS WEG ZU "SICHEREN" GRENZEN

1.

Was Israel in seinen "besetzten Gebieten" aus dem Sechs-Tage-Krieg von 1968 treibt, ist im Prinzip nichts anderes als die Fortsetzung der Landnahme mit terroristischen Mitteln, mit denen sich der Judenstaat 1949 ein Staatsterritorium verschaffte und seitdem zügig ausweitete. Genausowenig, wie sich die zionistischen Staatsgründer daraus ein großes Problem machten, daß auf dem Gebiet ihrer "Heimstatt" ein anderes Volk lebte, wird Menahem Begin durch den Umstand verunsichert, daß auf der von ihm seit Jahren als "Judäa" und "Samaria" bezeichneten Westbank ein paar Hunderttausend Palästinenser hausen. Die bewährten Mittel der zionistischen Staatsgründung gelangen zum Zwecke der Staatsvergrößerung zum Einsatz; mit einem Unterschied: Was damals gewesen ist, die Einschüchterung und Vertreibung der Palästinenser durch Mord und Totschlag, heißt jetzt Besatzungspolitik und hat einen höchst legalen Charakter: Im "Interesse der nationalen Sicherheit" wird palästinensischer Grundbesitz enteignet. Häuser werden von der Armee gesprengt und ganze Dörfer zwangsevakuiert, weil sie in irgendeinen Zusammenhang mit der PLO gebracht werden. Neben der offiziellen Politik, die gleichzeitig mit Ägypten über eine "Selbstverwaltung" auf der Westbank verhandelt und mit jüdischen Siedlungen Fakten schafft, läßt die Regierung den "extremistischen Gruppen" weitgehend freie Hand bei der Vorbereitung neuer Tatsachen: Was mit "illegalen" Landbesetzungen begann ist mittlerweile zum systematischen Terror bewaffneter Zivilisten fortgeschritten, die mit Gewehren auf arabische Jugendliche Jagd machen. So verfügt der Terrorismus von oben über eine komplette Unterabteilung im privaten Faschismus israelischer Bürger. Ihn braucht es auch für die ganz offiziellen Aufträge, die er erhält, wenn es darum geht, Neuland zu besetzen und im eroberten Cebiet Wehrdörfer als vorgeschobene Frontposten einzurichten. Dazu gehört auch, daß die Regierung die treuesten Söhne und Töchter Israels wieder zurückbeordert, wenn sie anders entschieden hat - wie jetzt im Sinai - und dabei Soldaten eingesetzt werden müssen, weil der entfesselte Fanatismus sich höheren politischen Notwendigkeiten nicht beugen will. Die Tat des "verrückten Amokläufers" Alan Harry Goodman am Ostersonntag im Jerusalemer Felsendom war sicherlich keine Auftragsarbeit für das Verteidigungsministerium. Daß dieser aus den USA eingewanderte Reservist jedoch auf den Gedanken kam, in Uniform und mit Maschinenpistole ein Blutbad unter den Fremdgläubigen anzurichten, hat seine Basis durchaus in der zionistischen Ideologie, deren politische Praxis aber sehr wohl und ganz zweckmäßig zwischen "friedlich" besetzten Arabern und "aufrührerischen" Palästinensern zu unterscheiden weiß. Während die Regierung noch "Entsetzen über das Verbrechen eines einzelnen" verlauten läßt, erweitern die Soldaten Scharons die Strecke um ein Dutzend weiterer toter "Aufrührer". Während die Truppe Tag und Nacht in den Dörfern und Städten patroulliert, die arabischen Bürgermeister von El-Bira, Nablus und Ramallah abgesetzt und durch israelische Offiziere ersetzt wurden, wird "nach Ansicht vieler Israelis der formelle Anschluß" der Westbank an Erez Israel "geplant". Die militärischen Vorbereitungen dazu sind abgeschlossen, politische Hindernisse gibt es nicht (dies die Lehre, die Begin aus der internationalen Reaktion auf die Eingemeindung der Golan-Höhen gezogen hat) und den Palästinensern wird eine Tür offengehalten: Die Jordanbrücken sind nur für die Einreise gesperrt, raus darf hingegen jeder.

2.

Die interessierte Öffentlichkeit hierzulande registriert das Ganze einerseits als "Kraftprobe zwischen Israel und der PLO" andererseits als "Gefährdung der Regierung Begin" (Spiegel). Obwohl beides Quatsch ist - die PLO hält sich strikt an das von den USA vermitfelte Waffenstillstandsabkommen vom letzten Jahr und gräbt sich im Südlibanon ein in Erwartung eines israelischen "Vergeltungsschlags", und die Regierung Begin hat in Sachen Westbankannektion gerade keinen Streit in der Koalition zu fürchten - gewinnt diese Sichtweise ihren Stellenwert unter dem Titel: "Gefährden die Unruhen den Friedensprozeß im Nahen Osten?" Könnte nicht die "harte Hand" der Besatzungsmacht die ägyptisch-israelischen Abmachungen "in letzter Minute" in Frage stellen? Ist der Mord im Felsendom nicht eine Panne, die erfreuliche Entwicklungen im arabischen Lager bremst? Im letzteren Fall konnte man sich rasch beruhigen: Saudi-Arabiens König Chalid rief zu einem "Generalstreik" in den islamischen Ländern auf, der prompt das "öffentliche Leben" von Bangladesh bis Marokko lahmlegte - eine Art Selbstkasteiung als Bestrafung Israels? Und was das Sinai-Abkommen betrifft, so bezieht die Regierung Begin aus den "PLO-Aktivitäten" auf der Westbank gerade das Material, um Ägypten "in letzter Minute" mit neuen Forderungen zu konfrontieren. Deshalb wird das "kompromißlose Durchgieifen" auf der Westbank verhalten begrüßt, weil es Begin die "Ruhe verschafft", mit der er das Sinai-Abkommen gegen Opposition aus den Reihen seiner Regierungskoalition einhalten kann.

3.

Israel und sein Premierminister haben sehr rasch kapiert, daß die US-Außenpolitik unter Ronald Reagan ihren - "treuen Verbündeten" die extensive Wahrnehmung nationaler Interessen einräumt, solange diese für den Ausbau der globalen Front gegen den Hauptfeind und jeden potentiellen oder dazu erklärten Sympathisanten nicht hinderlich sind. So beließ es die US-Regierung nach dem air raid gegen den irakischen Kernreaktor bei diplomatischer Indignation, "bedauerte" die Golan-Annektion und verhinderte im UN-Sicherheitsrat durch ihr Veto eine Resolution gegen die israelische Besatzungspolitik. Offiziell immer noch an einer "umfassenden Regelung des Nahostproblems unter Einbeziehung der legitimen Interessen Israels und der - Palästinenser" interessiert, läßt man dem israelischen Freund freie Hand bei der Durchsetzung seiner Interessen und "wirkt" solange auf Israel ein, nicht im Libanon gegen die PLO zuzuschlagen, bis irgendein Anschlag auf einen israelischen Botschafter der Begin-Regierung einen Anlaß liefert, die PLO zu "bestrafen". Die europäischen Staaten haben inzwischen begriffen, daß ihre Nah-Ost-Resolutionen sich nicht mehr auf der Höhe des mittlerweile erreichten Stands der Weltpolitik befinden und halten sich geflissentlich heraus. Die endgültige Ratifizierung der Verdopplung des israelischen Staatsgebiets ist also nur noch eine Frage der Zeit und des optimalen Zeitpunkts. Wie noch stets wird sie als "Akt der Selbstverteidigung" dieses "tapferen Staatswesens" zumindest auf Verständnis stoßen. Es entspricht der Logik einer Staatsgründung durch Terrorismus, daß sie sich ringsum Feinde schafft und damit tatsächlich zur Trutzburg im Feindesland wird. So wird fortwährende Expansion zur Verteidigungsnotwendigkeit und jede weitere Expansion schafft das Interesse nach neuer Sicherheit, die am besten durch neue, weiter vorgeschobene Grenzen geschaffen wird. Und im Alten Testament lassen sich noch genügend Stellen finden (z.B. die von den "Zedern des Libanon"), anhand derer die neue Grenzziehung als Heimholung des dem Volke Israel von Gott höchstpersönlich versprochenen Landes überhöht wird.

NORMALISIERUNG DER TÜRKEI

1.

Die türkischen Generale reden mittlerweile kaum noch von einer Rückkehr zur Demokratie. Deren im Westen bekanntestes Sprachrohr, Ex-Premier und Oppositionsführer Bülent Ecevit wird je nach Bedarf einmal eingesperrt, das andere Mal "vorzeitig" auf freien Fuß gesetzt. Die Junta macht ernst mit ihrer Kritik am Ancien regime, daß es nicht nur "unfähig" war, mit dem Terrorismus fertig zu werden, sondern überhaupt ein Verbrechen gegen die Nation. Konsequent wird jeder eingesperrt, der in den Verdacht geraten ist, eine "extremistische" Gruppierung unterstützt zu haben, die Folter ist die übliche Verhörmethode und in Massenprozessen, die nicht einmal mehr den Schein prozeßüblicher Beweisführung wahren, fallen die Todesurteile mit einer Zügigkeit, die sich von der islamischen Gerichtsbarkeit im benachbarten Iran den Vorwurf der Laschheit nicht gefallen lassen muß. Die alten Politiker stehen unter Hausarrest, warten auf ihren Prozeß oder riskieren, wie der bereits erwähnte Ecevit, für jeden unpassenden öffentlich geäußerten Satz einen Monat Gefängnis. Seitens der NATO-Verbündeten hat sich jede Kritik aufgehört. Nicht einmal behutsames Nachfragen nach dem Zeitpunkt von Wahlen wird mehr laut. Caspar Weinbergers Lob, die Generale würden "a fine job in restoring law and order" verrichten, prägt auch die deutsch-türkischen Beziehungen, wenngleich es von Sozialdemokraten nicht gleich öffentlich hinausposaunt wird. Und auch außerhalb des Bündnisses sind die regierenden Offiziere salonfähig geworden: Evrens erster Staatsbesuch ging nach Rumänien.

2.

Von einem Krieg in der Türkei ist nicht zu berichten, weil dort das Kriegsrecht herrscht. Die läppische Aufregung über "undemokratische Zustände mitten im Europa" bleibt mittlerweile den Friedensbewegten vorbehalten, die ausgerechnet mit sowas ihre Gegnerschaft zu Präsident Reagan zu legitimieren glauben müssen - was auf das Verlangen hinausläuft, sich mit einem ganz und gar sauberen Imperialismus identifizieren zu können. Wer noch allemal an der "Einmischung" der NATO in Polen eine grundsätzliche Berechtigung entdecken will, dem fällt natürlich auch der dumme Spruch von "Ordnung im eigenen Haus" ein. Warum nicht mal die Parole: Russen mischt euch in der Türkei, in El Salvador, in Südkorea... ein! Damit die Amis endlich mal zurückstecken.

Das Vorgehen der westlichen Welt in der Türkei als eine Sünde zu betrachten, legt ans imperialistische Geschäft moralische Maßstäbe an. Die offizielle Welt antwortet darauf nicht etwa damit, daß es auf Moral hier nicht mehr ankäme; vielmehr bleibt es einem "Gesinnungsethiker" unbenommen, seine Zweifel zu hegen. Auch in diesem Lager hat sich im übrigen ein "Realismus" breit gemacht, dem die malträtierten Türken und Salvadorianer herzlich gleichgültig sind, der sich aber Gedanken macht um die Glaubwürdigkeit der eigenen Position, die als ausgewogene erst so recht an Überzeugungskraft gewinnt, wenn sie nicht nur im Falle Polens, sondern auch bei den Diktaturen des Westens bezogen wird. Was aber ein "Verantwortungsethiker" ist, der beherrscht die diffizile - Kunst, zwischen moralischen Grundsätzen erster und zweiter Ordnung zu unterscheiden, der führt selbst explizit die Wandelbarkeit moralischer Kategorien an mit dem schlagenden Argument: Es kommt doch ganz auf das übergeordnete große Ganze an! Und vom Standpunkt des übergeordneten großen Ganzen ist die Türkei in Ordnung. Die von der CIA jahrzahntelang im Auftrag der US-Regierung praktisch durchgesetzte Maxime, daß alle Differenzierungen sich der Generalunterscheidung zwischen gut und böse, zwischen Westen und Osten unterzuordnen haben, diese Maxime kann darum heutzutage umso fröhlichere Urständ feiern, weil sie ja immer gegolten hat. Mit der sprachlichen Definition des "Verantwortungsethikers" Reagan ist eigentlich alles schon gelaufen: Man unterscheide ab sofort zwischen "diktatorischen" und "autoritären " Regierungen. Wie im Sozialkundebuch hat man dabei bei "autoritär" an "Autorität" zu denken, und die ist ja immer etwas, was einen guten Grund haben muß. Ihr erster guter Grund besteht darin, daß es sie gibt, und daß die ihr Unterworfenen sie eben über sich brauchen. Eventuelle sophistische Einwände, dann könne man der Sowjetunion diesen Charakter des "Autoritären" doch auch nicht absprechen, erledigen sich leicht damit, daß erstens die Unterscheidung von "autoritär" und "diktatorisch" doch dafür nicht erfunden worden sei, daß zweitens die "Autorität" im Osten genau die falsche sei und die Menschen dort nichts dringender benötigen als eine richtige - so wie bei uns - was man schon daran merke, daß es dort drüben immer mehr bröckelt, die "Autorität" also nicht funktioniere, weshalb es sich drittens also eindeutig um ein "diktatorisches" Regime handeln müsse.

Am Beispiel Türkei genau umgekehrt: Schafft es General Evren, alle Opposition zu unterdrücken? Schickt er die (demokratischen) Gegner seiner Militärherrschaft anstandslos ins Gefängnis? Ja, er tut es. Sind ihm die Waffen und Unterstützung des Westens entzogen worden? Nein, also gehört er zu den Guten. Zwar "autoritär", aber immerhin.

3.

In der Türkei gibt es ein bißchen Landwirtschaft, einige wenige Fabriken und ziemlich viel menschenleere Räume. Der brauchbnte Teil der arbeitsfähigen Menschen befindet sich in der BRD. Für die Armee sind alle brauchbar genug.

Die Türkei hat eine lange Grenze zum Ostblock, eine lange Küste zum Mittelmeer, und im Süden blickt man fast auf Israel hinüber. An den Grenzen stehen haufenweise Raketen, mit denen man weit in die Sowjetunion hineinschießen kann; wenn umgekehrt die Sowjetunion in die Türkei schießt, macht das wenig. In den Mittelmeerhäfen befinden sich amerikanische Marinebasen; sie haben zu bewachen, wie viele russische Schiffe sowieso sich im Mittelmeer herumtreiben. Sollten es einmal zu viele sein, hat die Türkei auch noch einen Bosporus - eine ziemlich schmale Durchfahrt zum Schwarzen Meer.

Die Türkei führt im allgemeinen den Namen: NATO-Ostflanke.