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Dieser Artikel ist in der MSZ 1-1982 erschienen.

Systematik

Polen '82
KLARSTELLUNGEN ZU POLEN IV

I.

Polen steht im Mittelpunkt des weltpolitischen Interesses. Deswegen und insofern sind die Zielsetzungen und Verlaufsformen des über ein Jahr währenden Aufstandes ebenso gleichgültig geworden wie die politischen Absichten derer, die das polnische Volk mit dem Ausnahmezustand beglücken. Die Funktion der Geschehnisse interessiert, die Chancen, die sie Dritten bieten, die künftige Rolle eines "neuen Polen" und wie sie zu erwirken geht - darüber erregen sich maßgebliche wie unmaßgebliche Kreise in Ost und West.

Zur Verdeutlichung: Weder die Eigentümlichkeiten der polnischen Volkswirtschaft mit ihrer verheerenden Außenabteilung noch die Anstrengungen der von ihr Betroffenen, den für sie entstandenen Unkosten durch Widerstand ein Ende zu bereiten, sind Gegenstand der weltweiten Diskussion. Noch der neueste Gebrauch der Staatsgewalt, der mit der Allgegenwart von Waffen die Dienste erzwingen will, die Polen retten und im Gefolge dieser Rettung den Polen wieder ein Auskommen mit ihrem Einkommen bescheren sollen. Das Desinteresse an den polnischen Kämpfen ist von den Wortführern der weltpolitischen Lage seit den ersten Tagen der Solidarität in der interessierten Einordnung der Ereignisse hinreichend bezeugt worden.

Auf russisch:

vorher Sozialismus, dann Fehler der Partei, Entfernung von der Arbeiterklasse, CIA-Wühlarbeit, Solidarität antisozialistisch = antisowjetisch.

Auf westlich:

vorher Polen unfrei, unmenschlich, kaputtes System, weil Sozialismus. Aufstand = praktizierte Sehnsucht nach westlichen Errungenschaften. Ausnahmezustand und Waffengewalt = Bestätigung der Einschätzung.

Daß diese beiden Sichtweisen praktisch über all das, was in Polen passiert, entscheiden, haben sowohl die christlich-nationalen Aufständischen wie die militärischen Retter Polens zu lernen.

II.

Dank der konsequent praktizierten Subsumtion ihrer Auseinandersetzungen unter übergeordnete auswärtige Interessen sind die Anliegen der polnischen Arbeiter und die in Mitleidenschaft gezogenen Regierungskünste polnischer Parteiführer und Generäle zu der zweifelhaften Ehre gelangt, das Material für eine weltpolitische Krise abzugeben. Was übrigens bedeutet, daß sie über den Ausgang ihres Streits nicht entscheiden.

Das hätten sie vielleicht unter der 30 Jahre geltenden Bedingung unverbrüchlicher Freundschaft mit dem sowjetischen Bruderland auch nicht tun können. Aber das weltweit gepflogene diplomatische Prinzip der Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten hat die einseitige sowjetische Zuständigkeit außer Kraft gesetzt. Über den Osthandel ist erreicht worden, daß westliche Kreditgeber, Banken und Staaten völlig legitim darüber entscheiden, was ein polnischer Staat sich künftig wirtschaftlich vornehmen kann. Und das nicht nur in bezug auf Polen selbst, sondern auch in Hinsicht auf den Moskauer Schutzpatron. Ihm wird zu bedenken gegeben, daß alle vom Westen nicht gebilligten Schritte auch in dieser Affäre mit Sanktionen bedacht werden. Als letztes schließlich wird der Abbruch der Rüstungsverhandlungen in Aussicht gestellt, die ja weniger davon bestimmt sind, daß man in Washington oder Bonn Angst hätte vor der SS 20, als von der Gewißheit, daß die SS 20 zwar eine Waffe für einen Krieg ist, also für die ultima ratio, nicht aber ein Erpressungsmittel, von dem sich irgendwer im Westen beeindrucken lassen müßte.

*

"Dem Verzicht auf ein Viertel des deutschen Staatsgebiets folgen 3,25 Milliarden mehr oder weniger gute deutsche Mark. Und nun erwarten Sie, daß wir zu der gescheiterten Regierungs- und Ostpolitik ja sagen. Dieses Geld müssen Sie sich selber bewilligen und sich dabei die Frage vorlegen, wie es eigentlich um die 270 Milliarden steht, auf die das private Vermögen der Vertriebenen im Osten geschätzt wird." (CSU-Jaeger in der Debatte um die Polen-Verträge im Deutschen Bundestag 1976)

Unrecht haben beide behalten: die deutsche Opposition mit ihrer "gescheiterten Ostpolitik" und die polnische Regierung mit ihrer Furcht vor deutschem "Revanchismus". Der Handel, Kenntnisnahme der Oder-Neisse-Linie gegen deutsche Aussiedler, Kniefall und Kredite gegen gute Beziehungen, hat sich rundum gelohnt. Was sind schließlich abgeschriebene deutsche Bauernhöfe gegen die Macht, über die Modalitäten eines kompletten Staatsbankrotts zu befinden? Was gilt die Erklärung, gewisse Nachkriegsgrenzen als modus vivendi respektieren zu wollen, gegenüber dem Vermögen, die Staatsgewalt innerhalb dieser Grenzen zur Botmäßigkeit verpflichten zu können? Der Fehler der realsozialistischen Politiker, Imperialismus nur im Bestreben nach Veränderung der Grenzen entdecken zu können, die theoretische Fassung des bundesdeutschen Imperialismus als Rechtsanspruch auf Großdeutschland zur Hauptgefahr zu erklären, seine praktischen Waffen, Handel und Kredit dagegen als Mittel zur Verständigung zu begrüßen, hat sich bezahlt gemacht. Ganz ohne Revanchismus, sondern mit Völkerversöhnung und Kredit hat die BRD in nur 5 Jahren Rechtsansprüche auf einen ganzen Staat erworben.

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Nichteinmischung gibt die Macht als Parole aus, die Interessen in der fraglichen Weltgegend geltend zu machen hat, die Mittel hat, diesen Respekt zu verschaffen, und die dem gegensätzlichen Interesse damit das Verbot auferlegt, sich zu betätigen, andernfalls ... Daher wird die fingierte Zurückhaltung bezüglich Polen auch immer gleich im nächsten Satz durch die westlichen Diktate und Sanktionen widerlegt. Und dank der gelungenen Auswertung der Polen-"Krise" ist die geheuchelte Moral dieser Parole zunehmend überholt: Von ihrer auf allerdemokratischste Weise fanatisierten Öffentlichkeit lassen sich die imperialistischen Staatsmänner den Auftrag zur Einmischung erteilen. Der Führer der freien Welt hat die Nichteinmischungslogik auf ihren Begriff gebracht und die bislang gültige Fassung der Kampfansage an den Osten, daß "die Polen ihre Probleme selber lösen" müssen, zeitgemäß revidiert. Was soll es wohl bedeuten, wenn der amerikanische Präsident "ein gewisses Verständnis für die Verhängung des Kriegszu standes in Polen bekundet" und dazu feststellt,

"Solidarität ist nicht zu weit gegangen. Die Gewerkschaft hätte jedoch sehen müssen, daß eine Volksabstimmung über die Regierung das einzige ist, das eine kommunistische Regierüng nicht erlauben kann."

Selber lösen können die Polen ihre Probleme also nur mit Hilfe des Weißen Hauses, so daß umgekehrt auch die "Einsicht" fällig ist, daß eine polnische Militärdiktatur keine polnische Lösung ist, sondern eine Einmischung der Sowjetunion.

III.

So wird mit dem Fall Polen Weltpolitik und eine Weltkrise gemacht. Der Washingtoner Sprecher der unter dem Firmennamen NATO laufenden Friedensbewegung leitet eine Bestrafung der Weltmacht Nr. 2 in die Wege dafür, daß in ihrem Machtbereich der Aufstand eines Volkes niedergemacht wird. Seltsamerweise. gilt das als glaubwürdiger Ausweis eines Eintretens für die Untertanen polnischer Nation. Dabei geben die Stellungnahmen von Reagan und Genscher überhaupt keinen Anhaltspunkt dafür, daß sich im Falle Polens Regierungen einmal wirklich um die tägliche Brotration auswärtiger Völker kümmerten. Weder ist Selbstkritik laut geworden des Inhalts, man hätte im letzten Jahrzehnt wohl besser nicht mit einem "maroden System" und seinen Machthabern auf Kosten der entrechteten polnischen Bergleute kollaborieren sollen, noch fordern die Deutsche Bank oder Graf Lambsdorff einen Mindestlohn von 2 000 DM auf polnischen Werften. Stattdessen geben sie Auskünfte über die notwendigen Erträge einer künftigen polnischen Wirtschaft, die sich bei nötigem Fleiß des Volkes und freiem Einsatz westlichen Geldes, den das System ja bisher verhindert, einstellen würden. Stattdessen sehen sie vorerst den Abschluß des Umschuldungsabkommens durch den Ausnahmezustand in Frage gestellt, nützen also ihre Macht vermittels der polnischen Zahlungsunfähigkeit dazu, in einer Volkswirtschaft, die dank des freigiebigen westlichen "Technologietransfers" ohne Westimporte nicht auskommt, die Stillegung von immer mehr Fabriken zu erwirken. Sie wollen nämlich die Freiheit verschenken und sonst gar nichts, und für die Vorbereitung dieser Geschenkaktion hat sich der großzügige Präsident Reagan zuerst einmal Strafmaßnahmen gegen die Unterdrücker der Freiheit einfallen lassen. Und zwar gewichtigere als sie noch vor einem Jahr für einen Einmarsch der Roten Armee vorgesehen waren; dazu Forderungen, zu deren Erfüllung Russen und Polen zusammen nie in der Lage sind: Wo es um den Beweis geht, daß das kommunistische System nichts, aber auch gar nichts zulassen kann, weil es in Polen gescheitert ist und anderswo sein Scheitern erst noch "eingestehen" muß, schweben Genscher und Haig die weitergehenden Forderungen schon jetzt vor. Schließlich lautet das Ziel: ein bankrotter, zur Demokratie unfähiger, der Unterstützung des Volkes nicht würdiger, feindlicher Staat, hinter dem sowieso die Russen stecken. Der Vorwurf der "heimlichen Invasion" ist der Freibrief für die schrankenlose offene Einmischung des Westens.

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Solidarität mit Solidarnosc reklamiert der freie Westen für sich und macht sich den Moralismus der Öffentlichkeit zielsicher zunutze; indem er einmal die Differenz von Staat und Volk kennen will. Die jahrelang geübte Heuchelei z.B. im Fall Südafrika, Chile und Salvador, daß Sanktionen gegen den Staat unangebracht seien, weil sie letztlich das arme Volk treffen, gilt nun andersherum, Sanktionen werden gegen den Staat verhängt, Fischereirechte unterbunden, Lebensmittelkredite aufgehoben und Umschuldungsverhandlungen ausgesetzt; das polnische Volk hingegen wird der privaten Mildtätigkeit ans Herz gelegt - als ob ein Volk von Päckchen ernährt werden könnte, während die Produktion des Landes zielstrebig ruiniert wird. Aber Solidarität mit Solidarnosc schließt eben die Not des Volkes mit ein, weil sie so nützlich ist.

Wenn schon die NATO als Dachverband der Caritas aufzutreten beliebt, machen auch BRD-Politiker Punkte damit, wenn sie für ihre Methode, Polen zu übernehmen, als Besonnenheit und bessere Hilfe werben, indem sie die Differenz von Staat und Volk so nicht handhaben wollen. Kredite für die Kohleförderung sind auch sehr humanitär, hat der Menschlichkeitsapostel Graf Lambsdorff entdeckt. Seine winzige Bedingung für die Art Hilfe, die Einrichtung eines neuen Staatswesens, in dem westliches Kapital ganz ungehindert dem polnischen Volk zu Diensten sein kann, überhört das allgemeine Mitleidsgetriefe ohne weiteres. Aber wie soll einer demokratisch disziplinierten Öffentlichkeit, die schon daran, wie ihr Staat sie selbst auf Vorkriegskost setzt, nichts Unrechtes finden kann, der Widersinn auffallen, wenn ihre Staatsmänner ihr Wirken nach außen als Wettstreit um die passendste Form der Mildtätigkeit für die Polen deklarieren? Ein Marshall-Plan für Polen und die energische Anwendung der Weizenwaffe gegen die Russen, lautet der letzte Rat von Kanzler Schmidt, denn Völker pflegen sich bekanntlich von Krediten, Staaten hingegen von Weizen zu ernähren.

IV.

Natürlich ist auch die Einrichtung einer Militärdiktatur nicht auf die Sorgen der polnischen Bevölkerung berechnet. Eine Regierung, die ihren Untertanen die Gefahr für Leib und Leben aufmacht, ist sich der Brauchbarkeit ihres Volkes ohne solche Drohung nicht sicher und will nichts als diese Brauchbarkeit herstellen, wobei sie das großartige Versprechen abgibt, die Soldaten von ihren Posten abzuziehen, wenn sie durch Gehorsam überflüssig gemacht worden sind.

Der erzdemokratische Ausdruck dafür heißt nicht nur im Osten "Normalisierung" und bezeichnet ein Verhältnis zwischen Staat und Untertanen, in dem sich nützliche Armut und nationales Wachstum ergänzen.

Dennoch, genau diesen Idealzustand strebt das Militärregime in Warschau an: Die inneren Gegner, Kirche und Solidarität, werden unter Kriegsrecht gesetzt und umworben, sie möchten sich am Gelingen der Herrschaft aktiv mitbeteiligen, und das gleichlautende Angebot ergeht an den Westen. Man stelle sich vor, Pinochet hätte Allende interniert und versucht, ihn für eine Große Koalition zu gewinnen, hätte bereitwillig Auskunft über Anzahl der Gefangenen und paar Toten gegeben und gleichzeitig die Ostblockbotschafter zu sich gebeten, um Verständnis geworben und darum ersucht, die Feindseligkeiten zu unterlassen.

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Die Abdankung einer Volksdemokratie zu gunsten einer Militärdiktatur stellt eine Novität im Lager des Realen Sozialismus dar: Da wird von den Generälen die Wahrheit zur Anschauung gebracht, worauf jeder Staat beruht, auf dem bedingungslosen Gehorsam gegenüber der Gewalt - eine Wahrheit, die drüben wegen der volksfreundlichen Absichten der Gewalt, hierzulande wegen der demokratischen Verlaufsformen des Gehorsams immer nicht gelten soll.

Wenn nun in Polen der Ausnahmezustand ausgerufen worden ist, den sich auch jede westliche Demokratie vorsorglich in den entsprechenden Verfassungsparagraphen erlaubt, verdankt sich das dem realen Notstand der polnischen Staatsgewalt, der ihr Volk sowohl den Gehorsam wie seine nützlichen Dienste zunehmend verweigert hat. Der Gehorsam läßt sich zwar erzwingen, die erfolgreiche Benützung aber nur schwerlich. Die polnische Herrschaft funktioniert anders als die Militärdiktaturen des Westens, in denen der größte Teil des Volks für das nationale Wachstum und die internationale Brauchbarkeit des Landes ohnehin höchstens als störende Bedingung in Frage kommt; in denen Bergarbeiterstreiks wie in Bolivien noch alle mal durch den Austausch mit der nächsten Garnitur von Hungerleidern zu erledigen sind; anders als die westlich erlaubten und erwünschten Militärstaaten, die sich immerzu "auf dem Weg zur Demokratie" befinden, ohne daß Zweifel darüber aufkommen, daß über diesen Weg die Generäle befinden und jede Abwicklung durch ihre Panzerbataillone korrigieren. Der Reale Sozialsmus ist in anderer Art und Weise auf sein Volk angewiesen und daher darum bemüht, sich dessen Mitwirkung nicht ausschließlich mit der kriegsrechtlichen Erpressung zu versichern. Das Programm der polnischen Militärs lautet zur Zeit Ordnung pur und im Bestreben, für diesen edlen Zweck in der eigenen Gesellschaft andere Stützen der Macht als die Armee zu gewinnen, bleibt nun endgültig - der Sozialismus mit der ihm nachgesagten Gewalttätigkeit ebenso auf der Strecke wie die legendäre Wucht einer Militärdiktatur - (was für einen Christenmenschen deutscher oder amerikanischer Nation ohnehin dasselbe ist): Die Kirche wird nicht nur respektiert - was bei ihrem oppositionellen - Auftreten gar nicht überall Usus ist -, sondern sogar mit der Erledigung des für Diktatoren seltsamen Interesses betraut, die Versorgung der Massen zu verwalten, und nicht nur das. Sie kann unbehelligt mit den Geschenken auch Besucher aus dem Ausland zirkulieren, wird bei der Regierung zu Tische gebeten und darf anschließend der Welt bekunden, daß sie sich in den Dienst weltlicher Herrschaft, der jetzigen schon gleich gar nicht, nie zwingen lassen wird. Voll des Lobes sind alle im benachbarten Europa, die jetzt plötzlich Freunde in Polen haben, über die Zuverlässigkeit und Immunität von Pfaffen, die in Polen unter diktatorischem Placet die Opposition ihrer unterdrückten Schäfchen organisieren. Schade, daß die liberale Weltöffentlichkeit sich von liberalen Diktatoren so wenig beeindrucken läßt! Nicht einmal dann, wenn die Regierung Jaruzelski ihren gehobenen Ansprüchen auch noch gerecht werden will.

Zur Rettung Polens eine Große Koalition mit dem Klerus, einer Bauernpartei und einer auf den Aufbau der Nation verpflichteten Solidarität, so sieht das politische Ideal der Generäle aus. Die Führungsrolle der Partei ist nun von oben her zugunsten einer neuen Sorte Staat gestrichen.

Ob das gelingt, hängt allerdings nicht nur an der sehr fraglichen Bereitschaft der Kirche und der Solidarität zur Kollaboration; sondern vor allem an den auswärtigen Polenfreunden. Als erstes legt das Regime vor den westlichen Regierungen Rechenschaft ab und schickt einen 'Liberalen' als Bittgänger zum Sprecher des deutschen Kapitals. Da bettelt ein Mitglied einer ehemaligen Kommunistischen Partei beim Feind, daß er doch lieber seine Geschäfte mit polnischen Reichtümern fortsetzen möge, und was da dem deutschen Kapital alles als weiteres Entgegenkommen versprochen worden ist, gehört wohl kaum mehr in die ML-Lehrbücher über "Ökonomische Reform". Da werden die letzten Devisenbestände eingesammelt und die Bruderstaaten in Anspruch genommen, um die alte westliche Bedingung für das Zustandekommen neuer Kredite zu erfüllen, während westliche Banker und Politiker längst darüber beraten, welche neuen Bedingungen nun zu veranschlagen sind.

Die westlichen Polen-Korrespondenten verlangen die Aufhebung der Zensur für ihre antikommunistische Hetze und das Regime gewährt sie postwendend und erlaubt als erstes einer Mannschaft vom "Stern" die Einreise; der Westen verlangt die Aufhebung des Kriegsrechts, das Regime erläßt Lockerungen zum Zeichen seines guten Willens und kündigt schon einen Termin für die gänzliche Aufhebung an - eine Junta mit schlechtem Gewissen, eine, die um ihre Ohnmacht gegenüber inneren und äußeren Abhängigkeiten weiß, eine solche Militärdiktatur gibt zu nur allzu begründeten Hoffnungen im Westen und vor allem in der BRD Anlaß, daß sich aus Polen noch ganz andere "Erneuerungen" machen lassen.

V.

Im Westen ist bekanntlich die Freiheit zu Hause. Demonstriert wird die von den Staatsmännern, die in ihrem Besitz sind, durch einen weltöffentlichen Streit um die richtige "Einschätzung" Polens. Im Klartext: Was daraus zu machen geht. Der Streit im Bündnis, der immer wieder zu gar nicht überraschenden Einigungen führt, ist eben keiner über die Ziele: Übereinstimmend wird dem Militärregime seine Demission abverlangt und der Sowjetunion ihre Mitwirkung bei der Herstellung eines freien Polen. Gestritten wird über die Mittel und das alleine deshalb, weil die beteiligten Staaten über unterschiedliche Mittel verfügen und daher auch unterschiedliche Methoden der Einflußnahme in ihrer Nützlichkeit für die Freiheit in Erwägung zu ziehen sind.

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Die Freiheitskämpfer an der Spitze der englischen und französischen Nation vollführen ihren Wettstreit um die vorteilhafte Beteiligung am amerikanischen Beschluß, möglichst viel Schaden im Ostblock anzurichten, in gemeinschaftlicher Verurteilung der BRD, ihrer Feigheit und ihres schnöden Egoismus, und überbieten sich wechselseitig in der Forderung, die Russen zu bestrafen, vornehmlich durch die Verweigerung deutscher Gefälligkeiten.

Es ist kein Zufall, daß die Bundesrepublik von ihren Bündnisbrüdern in ihrer Haltung zu Polen kritisiert wird, weil der westdeutsche Frontstaat, der deshalb immer der zweite Staat im Bündnis war, davon wirtschaftlich und politisch so profitiert hat, daß die Rede von der "Mittelmacht" niemand großspurig findet. Und die lieben europäischen Partner der Bundesrepublik sehen in deren Haltung den unverschämten Anspruch, ihren Konkurrenzvorteil gegen sie aufrechtzuerhalten. Die Franzmänner an erster Stelle: Sie entdecken die "kühlen Deutschen" wieder, die diesmal (1939!) nicht selbst zuschlagen, sondern (statt 10000 Landsleute für die Eroberung Polens zu opfern) es besser finden, "daß die andern ihr Leben für sie riskieren", prophezeien eine Neuauflage des Hitler-Stalin-Pakts mit den aktuellen Namen, und der alte Rappallo-Vertrag wird auch wieder aus der Geschichte hervorgekramt, nebst Chopin und der traditionellen Polenliebe Frankreichs.

Schmidt und Genscher dagegen predigen "Besonnenheit", denn die BRD als Protagonist der friedenssichernden Ostpolitik von ehedem, als Hauptkreditgeber und -osthändler hat gewichtige Mittel zur Einwirkung auf die östliche Politik zu bieten. An welche westliche Regierung richten die polnischen Militärs schließlich als erste ihre Bitte um Wohlwollen, welcher westliche Staatsmann wird von der Sowjetunion selbst mit dem Ersuchen um Dometscherdienste angegangen? Wer ist da wohl "bestechlich", und wer leckt wem die Stiefel, um in der Sprache der freien Presse zu bleiben?

In der Gewißheit, über Beziehungen mit einer ganz eigenen Schlagkraft iu verfügen, leisten sich die BRD-Chefs einen Streit um die korrekte "Analyse" der Verantwortlichkeiten im Ostblock. Eine anerkannte Mittelmacht, die in die Konkurrenz um die Erledigung des Ostblocks einzigartige vormilitärische Waffen einbringen kann, gestattet sich auch, eigene Kalkulationen über die effektivste Methode anzustellen. Abbruch der Beziehungen, bloß um den amerikanischen Beschlüssen zu sekundieren, wäre eine schiere Vergeudung, wo doch vor dem Hintergrund der westlichen Offensive deren pure Aufrechterhaltung Verhandlungsmasse genug ist, eigens damit dem Osten Zugeständnisse abzupressen. Im Streit um Art und Ausmaß der Bestrafung verteidigen deutsche Politiker also wirklich sehr egoistisch ein Mittel ihrer Macht. Der Egoismus ist aber bei weitem nicht bloß der des guten Geschäfts und niemals der der Feigheit vor dem Feind. Verteidigt werden mit der ganzen Heuchelei von Besonnenheit und echter, überlegter Hilfe für die Polen die Beziehungen zum Osten, die es der BRD gestatten, sich in die Weltpolitik mit eigenen Berechnungen bezüglich der Übernahme des Staates Polen einzuschalten. Wenn die Nationen also darum konkurrieren, ihre unterschiedlichen Mittel im Sinne der NATO einzusetzen, wie sollte sich "Amerika" da wohl "im Stich gelassen" fühlen?

Ein "tiefes Zerwürfnis im westlichen Lager"? Um die Lüge von dessen fataler Wirkung auf das Bündnis zu widerlegen, genügt ein Blick auf die Reaktionen im anderen Lager. Da wird jede noch so fiktive-Differenz zum Anlaß genommen, insbesondere der BRD weitere Gründe für deren vermeintliche Kompromißbereitschaft und Zurückhaltung zu bieten. Um sich die BRD gewogen und deren ersehnten Streit mit den USA zu erhalten, entschuldigen sich die polnischen Generäle für ihre Diktatur und bitten um eine Chance für ihr Ordnungsprogramm, hält sich die große Sowjetunion an die ihr vom Westen auferlegten Bedingungen und übt sich in Selbstbeschränkung bis zu dem Punkt, an dem ihr die Aufgabe des Blocks und die Kapitulation abverlangt wird.

So gerät der Streit im Westen zu dem Mittel der Eskalation, weil die Sowjetpolitiker darin immer noch eine Chance für ihre Behauptung erblicken wollen. Daher erklärt ihnen auch der Dolmetscher Schmidt jeweils den Ernst der Lage: Hieß es noch im November, daß die Russen die Position der Amerikaner nicht richtig verstehen, weil sie von deren Verhandlungswillen nicht überzeugt seien, so heißt es jetzt aus dem Munde des Kanzlers, sie täuschten sich über die Entschlossenheit der USA, die nunmehr sehr einig in Brüssel beschlossen worden ist.

VI.

So findet seit neuestem die welthistorische Besinnung auf ein Ereignis aus dem Jahr '44 statt: die Konferenz von Jalta. Ist damals nicht der Fehler begangen worden, der Sowjetunion überhaupt die Zuständigkeit für einen Teil Europas einzuräumen? Hat der freie Westen nicht n Polen seine Chance und seine Aufgabe wahrzunehmen, jenen Irrtum zu korrigieren?

Nichts Geringeres als eine Korrektur der Landkarte wird da in Erwägung gezogen und zwar sehr realistisch mit ständigem Blick auf die Mittel, die allein zu solchen Korrekturen befähigen.

Die Strafmaßnahmen gegenüber dem Kreml werden ausdrücklich in ihrer Abstufung notiert - vormilitärische Sanktionen werden unterteilt in bereits beschlossene und noch nicht vorgenommene und bezogen auf die Konkurrenz der Waffen, deren friedenserhaltender Stand gerade jetzt in Genf verhandelt werden soll. Um hier keinen Zweifel zu lassen: Wieso kann es eine Drohung an die Adresse der Sowjetunion sein, in Genf nicht weiter zu verhandeln? Welche der beiden Seiten setzt da wohl die "Kriegsgefahr" in die Welt?

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Die Methode, Sanktionen gegen die Sowjetunion und ihr Bündnis als "noch nicht", in der Form des Dementis zu verkünden, ist die Form der demokratischen Kriegseinstimmung. Wie weit die Inszenierung der Kriegs"gefahr" gediehen ist, erfährt die Öffentlichkeit jeweils als moderates Abstandnehmen von eigentlich angebrachten härteren Mitteln.

Daß auf das "noch nicht" bezüglich des Abbruchs der Genfer Verhandlungen kein Laut des Protests seitens der Friedensbewegung zu hören ist, die sich doch die Verhandlungen als ihren Erfolg bei der Verhinderung des "kollektiven Selbstmords" zugutegehalten hat, daran ist deren erfolgreiche Vereinnahmung für eine Friedenspolitik zu ermessen, die höhere Güter als den Frieden zu verteidigen hat.

VII.

Die USA und ihre Verbündeten machen sich also tatsächlich zum "Anwalt" der Völker im Ostblock - aber auch gleich mit zum Richter. Wie es sich für einen anständigen Anwalt gehört, diktiert er seinem Klienten die Bedingungen, unter denen er zu seinem Recht kommt. Und im Falle Völkerrecht, wo der Schiedsspruch ohnehin keiner übergeordneten Instanz obliegt, nimmt er dessen Vollstreckung selbst in die Hand und befindet alsogleich, in welchen politischen Einrichtungen sich dessen Interessen künftig ab zuwickeln haben.

So sehr nämlich das Programm der Solidarität sich auf westliche Ideale beruft, so wenig stellen ihre Streiks die Praktizierung westlicher Demokratie dar. Ein wirklich freiheitliches Staatswesen würde mindestens genau so rüde mit einer solchen Gewerkschaft umspringen, die etwas ausrichten will und sich dazu störend bemerkbar macht, wie Reagan mit seinen Fluglotsen. Kein westlicher Staatsmann würde die Verfahrensweisen der Solidarität in seinem Hoheitsbereich dulden - und die Solidarität dürfte sich wundern, wenn sie die Segnungen der Demokratie am eigenen Leib verspürt, die sie in ihren Erneuerungsplänen beansprucht.

Das Eden des freien Marktes mit seinen freien Preisen auf Polen angewandt, veranschlagt ja für dieses Land auch jenen unvermeidlichen Prozentsatz von "sozial Schwachen", an denen die US-Regierung daheim im Moment die Tugend der Sparsamkeit übt. Die Bedürfnisse des geschundenen polnischen Volkes geben ganz sicher nicht die Richtlinien für Kredite und Investitionen ab, die der IWF und die EG für die wirtschaftliche Mobilmachung eines neuen Polen flott machen würden.

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Präsident Reagan hat erklärt, daß er "kein zweites Ungarn" möchte:

"Ich will nicht, daß das polnische Volk irgendwie zu der Ansicht gelangt, es erhalte Hilfe, und auf die Barrikaden geht... Ich glaube, daß ich meine Hände mit Blut beflecken würde, wenn ich Polen zum Widerstand gegen das Kriegsrechtsregime aufrufen würde."

Das muß man ihm glauben, wenn er sich schon so als Kommandeur der polnischen Volksmassen vorzustellen beliebt, daß er den Erfolg des polnischen Aufstands nicht dem polnischen Widerstandswillen allein anvertrauen will, Wenn die Revision von Grenzen ansteht, die Korrektur der Ergebnisse des letzten Weltkriegs, pflegen sich Berufspolitiker nicht auf die Leistungen der vor Ort ansässigen Dilettanten zu verlassen, so sehr sie deren Mitwirkung schätzen, Das Blutvergießen im Volkswiderstand hält der Präsident in Afghanistan für angebracht, weshalb er die dafür erforderlichen Waffen, dahin schaffen läßt. In Polen sieht er andere Möglichkeiten.

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Wenn der Westen einstimmig die Aufhebung des Ausnahmezustands fordert, die "Fortsetzung der Reformpolitik" und die "Wiederaufnahme des Dialogs", ist dies die Aufforderung an die augenblicklichen Machthaber, ihre Posten für eine Staatsneugründung zu räumen. Nicht nur der amerikanische Präsident hat festgestellt, daß die Forderung der Solidarität von einer kommunistischen Regierung nicht zu erfüllen ist. Sämtliche Kommentatoren haben schon vor dem 13. Dezember mit Genuß die Unvereinbarkeit des Solidaritätsprogramms mit der existierenden Sorte Herrschaft konstatiert und mit der Sprachregelung "R eform" und "Dialog" das eigene Wohlgefallen am absehbaren Umsturz und Ende des Kapitels "Kommunismus" zum Ausdruck gebracht. Dieselben Politiker und politischen Lobhudler, die Generationen von Putschisten in westlich beaufsichtigten Erdteilen damit in ihr Recht gesetzt haben, daß deren Völker noch nicht reif für die Demokratie seien, dieselben, die Pfiffe und Zwischenrufe auf ibren Akklamationsveranstaltungen als freiheitsfeindliches Delikt klassifizieren und für die der Mißbrauch der Freiheit jetzt schon bei zuviel und zu laut vorgetragener Angst vorm Krieg losgeht, dieselben wollen ihr Bemühen um Polen als Unterstützung für ein friedlich-einvernehmliches Neuerungswerk von Volk und Regierung in Polen verstanden wissen. Die Aufforderung an die Militärregierung, zu den Zuständen vor dem 13. Dezember zurückzukehren, verlangt, die dem Westen genehmen Kräfte an die Macht gelangen und sie unter Einbeziehung westlicher Ratschläge und westlicher Wirtschaftskraft eine neue Sorte Staat aufmachen zu lassen, der sich dann als Frontstaat mitten im Ostblock mit den entsprechenden neuen und weitergehen, den Ansprüchen des Westens konfrontiert sieht. Die dann anstehenden und von der Solidarität schon angekündigten Kriegsverbrecherprozesse dürften dann sicher auf das volle Verständnis rechnen, das ein in der Demokratie unerfahrenes Volk des Westens beanspruchen kann.

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Wenn die westliche Offensive unter dem Firmenschild Solidarität mit Solidarnosc nichts als Anteilnahme an deren Zielen heuchelt, ist das eine sehr einseitige Gesinnungsbruderschaft. Nützlich für die Zwecke des Westens ist die Solidarität, umgekehrt ist das nicht der Fall. Bei ihrer Vereinnahmung können Genscher, Haig und Co. sich zwar auf die demokratischen Ideale berufen, die bei den Leuten von Walesa zunehmend an die Stelle materieller Anliegen getreten sind. Deren Nationalismus, der seinen Kampf gegen die Parteiherrschaft unter dem Titel echter Volksherrschaft geführt hat, hat aber an die Realitäten, die zu diesen Idealen gehören, weniger gedacht. Sanierungsmaßnahmen wie sie die verwandten Kowalskis und Koslowskis per "Ruhrkrise" erfahren, den american way of life, den die polnischen Bewohner der Chicagoer Armenviertel pflegen, haben sie sicher nicht im Sinn gehabt, und diese Seite der Freiheit hat ihnen auch bei ihren vielen Westreisen partout nicht auffallen wollen. Und das entsprechende Verfahren zur Sanierung Polens würde noch um einiges härter ausfallen, wohl eher nach dem Vorbild der 'Angliederung' der Mittelmeerstaaten an die EG. Schließlich kritisieren westliche Fachleute schon seit langem die polnische Form "struktureller Arbeitslosigkeit in den Fabriken", und die unsinnige Aufrechterhaltung gänzlich unproduktiver Produktionszweige. Ein ordentliches Bauernlegen wie in der EG hat in Polen auch noch nicht stattgefunden und die Preis"reform" ist überfällig, die der westliche Sachverstand jetzt ausgerechnet mit dem Argument bemängelt, daß sie von seiten einer Militärdiktatur so "wenig glaubwürdig" sei.

VIII.

Die Alternativen, vor die sich die Sowjetunion gestellt sieht, nehmen neue Konturen an. Deren Kalkulation mit der letzten vom Westen "erlaubten" Methode, die Unterwerfung ihrer Blockpolitik unter die angenommene Bedingung der "innerpolnischen Lösung" sind als grobes Mißverständnis abgefertigt und mit der Neufassung der westlichen Forderung beantwortet worden. Sie kann nur entweder den Ansprüchen der NATO in Sachen Polen genügen oder der längst feststehenden Verurteilung ihrer weltpolitischen Positionen ein weiteres Mal entsprechen, also die Linie des Westens bestätigen, daß ihr gar nicht gründlich genug das Handwerk zu legen ist.

Entweder die Sowjetunion reagiert auf die vollzogenen und angedrohten Sanktionen nachgiebig und läßt dem "Erneuerungsprozeß" in Polen freien Lauf, entbindet Jaruzelski von seiner Bündnistreue und sieht zu, wie die "gesellschaftlichen Kräfte", Kirche, Solidarität, Bauern, KOR und KPN sowie eine neu zu gründende nicht- bis antikommunistische Partei unter Inanspruchnahme westlicher Mittel und Ratschläge ein freies Polen aufmachen, dann erhält sie mitten in ihrem Block einen neuen Frontstaat. Die DDR wäre dann über die Ostsee zu betreuen, Radio Free Europe und Radio Liberty mit russischem Fernsehprogramm direkt in Moskau, zu empfangen, der CIA samt Horchposten dürfte sich gleich hinter der weißrussischen Grenze häuslich einrichten und die Sowjetunion kann sich auf steigende Zweifel ihrer Partner am Nutzen des Bündnisses und auf den nächsten aufmüpfigen Nationalismus gefaßt machen.

Oder sie besteht auf der gewaltsamen Sicherung des Bündnisses in Polen, was mit einiger Anwendung von Gewalt und massiver ökonomischer Hilfeleistung verbunden ist. Dann ist sie sich aber auch einer Austragung ihrer Feindseligkeiten mit der NATO gewiß, der gegenüber der Kalte Krieg von einst sich matt ausnimmt. Abgeschnitten von allen Beziehungen zum Weltmarkt, ohne die kein Plan mehr erfüllt wird, ist sie zu ihrer Selbstbehauptung dann ganz und endgültig auf die Waffen angewiesen, die ihr verbleiben, und mit der Perspektive konfrontiert, daß der "Rüstungswettlauf" binnen zwei Jahren zu ihren Ungunsten entschieden ist. Dann wird es sich kaum vermeiden lassen, daß ein russischer Flugzeugträger in falsche Gewässer gerät, ein Kubaner außerhalb Kubas entdeckt wird oder sich irgendeine, dann als solche zu definierende, Verletzung internationaler Gepflogenheiten ereignet, ohne daß dies der Sowjetunion mit der Androhung des Erstschlags verübelt würde.

Es ist also kein Wunder, daß auch sowjetische Politiker den polnischen Aufstand mit ganz anderen Maßstäben messen als mit dem polnischer Lohntüten. Der freie Westen setzt ja die Dimensionen fest, denen gemäß die Sicherung Polens immer unverzichtbarer, aber auch immer unbezahlbarer wird. Denn an den beiden Alternativen merkt man, daß "Dauerlösungen" für Polen nicht mehr vorgesehen sind.

IX.

Während die westlichen Regierungen die Sowjetunion in die Lage versetzen, sich zwischen zwei Alternativen ihrer garantierten Schädigung entscheiden zu müssen, genießen sie den uneingeschränkten Zuspruch ihrer Öffentlichkeit zu den Resultaten: So oder so steht fest, daß sich die Russen bloß ins Unrecht setzen können und deshalb konsequent zur Rechenschaft gezogen werden müssen.

Die Moralisten des Weltgeschehens, Linke und Intellektuelle in den imperialistischen Demokratien haben nun endgültig festgestellt, daß die östliche Herrschaft keineswegs vom Standpunkt der ihr Unterworfenen zu kritisieren und zu bekämpfen ist, sondern den unbedingten und rücksichtslosen Angriff der eigenen Staatsgewalt verdient. Weit entfernt davon, auch nur einen Schritt des diplomatischen, ökonomischen und militärischen Vorgehens auf seinen Zweck hin zu befragen, wittern sie in den Stellungnahmen und Erpressungsschritten eines Reagan, der ihnen vor kurzem noch nicht intellektuell genug war, eines Helmut Schmidt, dem sie ein Abgehen vom Reformkurs nicht verzeihen wollten, eines Mitterrand, dessen Machtergreifung ihnen vor ein paar Monaten als Sieg des Sozialismus erschienen ist, eine einzige Vernachlässigung oder zumindest allzu pragmatische, realpolitische Handhabung der hohen Aufgabe, die Freiheit zu exportieren. Vergessen sind die Proteste gegen die Mittel dieses Exports, die tausendfach durchgezählten Waffen. Von wegen Frieden und Gewaltlosigkeit - Blankoschecks für die richtige Sorte Gewalt werden ausgestellt, zu wenig Einsatz und Härte auswärts wird beklagt. Wie selbstverständlich geht es den selbsternannten moralischen Weltenrichtern über die Lippen, daß ihre Regierung anderen Völkern die richtige Lebensform zu verschaffen hat. Vergessen sind die Schlächtereien in der westlichen Hemisphäre, an denen sie ja auch nie die Taten der eigenen Regierung, die dazu geführt haben, bemängelt haben, sondern deren erfundene Unterlassungen. Vorbei ist es auch mit dem Argument der Angst - ausgerüstet mit dem Glauben an die eigene Regierung als Instrument, fremde Völker zu beglücken, heißt die Parole "Tätig werden!" Ihr Gewissen verlangt nach Aktion.

Ein radikalerer Nationalismus ist nicht zu haben, als mit dem Moralismus, der auswärtige Aufstände begrüßt, auswärtige Herrschaft in Grund und Boden verdammt und die eigene der Schwäche und des Opportunismus bezichtigt. Radikalere Weltbürgerschaft gibt es nicht. Das polnische Volk wird die Gelegenheit, seinen Dank abzustatten, bei soviel Eifer wohl nie mehr bekommen.

Nichteinmischung in Polen im Wortlaut

"Unsere eigene Politik gegenüber der Volksrepublik Polen bleibt eine Politik des strengen Respekts vor der nationalen Unäbhängigkeit dieses Staats." (Regierungserklärung)

1. Einmütige Entschließung des Bundestages mit den Stimmen von Koalition und Opposition:

"Er appelliert an die polnische Militärregierung, ihre Glaubwürdigkeit zu beweisen durch Freilassung aller Inhaftierten, durch Wiederherstellung der durch den Reform- und Erneuerungskurs erreichten Freiheiten, durch Wiederaufnahme des Dialogs mit den reformwilligen und politischen Kräften des polnischen Volkes."

2. Gemeinsame Erklärung der zehn EG-Staaten:

"Die Zehn mißbilligen entschieden die Entwicklung der Lage in Polen. ...

Die Zehn appellieren daher dringend an die polnischen Behörden, schnellstens den Zustand des Kriegsrechts zu beenden, die Festgenommenen freizulassen und den allgemeinen Dialog mit der Kirche und mit Solidarität wiederherzustellen. ...

Die Entwicklungen in Polen stellen eine schwere Verletzung der Grundsätze der Schlußakte von Helsinki dar. Die Zehn sind daher der Ansicht, daß die Madrider Konferenz die polnischen Entwicklungen so schnell wie möglich auf Ministerebene diskutieren sollte. Die Zehn werden sich bei den neutralen und blockfreien Staaten darum bemühen, eine baldige Wiederaufnahme des Madrider Treffens vorzu schlagen.

Die Zehn werden bei den Vereinigten Nationen und ihren Behörden darauf hinarbeiten, die Verletzung der Menschenrechte und die Akte der Gewalt anzuklagen.

Weitere Maßnahmen werden je nach der Entwicklung der Situation in Polen in Erwägung gezogen werden, besondere Maßnahmen über Kredit- und Wirtschaftshilfe an Polen, und Maßnahmen, die die Handelspolitik der Gemeinschaft im Hinblick auf die Sowjetunion. Weiterhin werden die Zehn die Frage weiterer Lebensmittelhilfen an Polen prüfen."

3. Gemeinsame Erklärung Schmidt und Reagans

"Der Bundeskanzler und der Präsident fordern die polnischen Behörden erheut auf, das Kriegsrecht aufzuheben, die Gefangenen zu entlassen und den Dialog mit der Kirche und mit Solidarität wieder aufzunehmen.

Der Bundeskanzler und der Präsident waren übereinstimmend der Auffassung, daß die Ereignisse in Polen erneut die offensichtliche Unfähigkeit des kommunistischen Systems zeigen, die notwendigen Anpassungen zu akzeptieren, die den legitimen Bestrebungen der Bevölkerung entsprechen. Dies gefährdet das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Zusammenarbeit zwischen Ost und West und beeinträchtigt in ernster Weise die internationalen Beziehen und die Stabilität.

Beide wiesen auf die Verantwortung der Sowjetunion für die Ereignisse in Polen hin und brachten ihre Sorge über den schwerwiegenden Druck, den die Sowjetunion auf die polnischen Bemühungen um eine Erneuerung ausübt," (wer übt sich hier denn noch in Druck?) "zum Ausdruck. Sie bestehen darauf, daß Polen seine Probleme ohne Einmischung von außen (!!) lösen kann."

Genschers "Nichteinmischung":

"Heben Sie das Kriegsrecht auf, lassen Sie die Verhafteten frei, setzen Sie den Dialog fort mit Kirche und Gewerkschaften! Die Bundesrepublik ist bereit, einem Polen, das auf den Weg der Reform und Erneuerung zurückkehrt, zusammen mit ihren westlichen Partnern im großen Umfang finanzielle Hilfe zu leisten."

4. NATO-Communique vom 11. Januar

"5. Die Bündnispartner rufen die polnische Führung auf, ihre erklärte Absicht zu verwirklichen, die bürgerlichen Freiheiten wiederherzustellen und den Reformprozeß wieder in Gang zu setzen. ...

Polen könnte dann damit rechnen, die Vorteile der Stabilität in Europa und konstruktiver politischer und wütschaftlicher Beziehungen mit dem Westen in vollem Umfang zu genießen.

6. ...Sowjetischer Druck - sei er mittelbar oder unmittelbar - in Richtung auf die Vereitelung dieses Bestrebens muß aufhören. Die Bündnispartner sprechen darüber hinaus die Warnung aus, daß ein Eingreifen von außen die tiefgreifendsten Einwirkungen auf die internationalen Bezichungen haben werde.

11. Jeder Bündnispartner wird in Übereinstimmung mit seiner eigenen Situation und Gesetzgebung geeignete nationale Möglichkeiten für Maßnahmen auf folgenden Gebieten prüfen:

a) Weitere Beschränkungen der Bewegungsfreiheit sowjetischer und polnischer Diplomaten und andere Einschränkungen für sowjetische und polnische diplomatische Vertretungen und Organisationen.

b) Verringerung wissenschaftlicher und technischer Aktivitäten oder die Nichtverlängerung von Austauschabkommen. ...

12. Die Bündnispartner erkennen die Wichtigkeit wirtschaftlicher Maßnahmen an, die dem Zweck dienen, die polnischen Behörden und die Sowjetunion von dem Ernst der westlichen Besorgnisse angesichts der Entwicklungen in Polen zu überzeugen, und betonen die Bedeutung der von Präsident Reagan bereits angekündigten Maßnahmen.

14. In der derzeitigen Situation in Polen werden die Wirtschaftsbeziehungen mit Polen und der Sowietunion zwangsläufig beeinträchtigt. ..."

Freiheit für Polen in der RSA

Daß ausgerechnet Österreich für Polen-Flüchtlinge das gelobte Land des Freien Westens sein soll, haben wir immer schon für ein Gerücht gehalten. Jetzt enthüllt die "FAZ" vom 23.12., daß die Emigranten, die nicht mehr unter der "Knute des Kriegsrechts" leben wollen, Wien nur als Durchgangslager ansteuern, um von da aus ans Fernziel der Freiheit zu gelangen:

"Tausende von Polen stehen in Wien an der südafrikanischen Botschaft Schlange, in der Hoffnung, sich südlich des Limpopo eine menschenwürdige Existenz aufbauen zu dürfen. Seit Wochen und Monaten - und nicht erst seit dem 13. Dezember werden 150 Visaanträge täglich eingereicht."

Ein freiheitsdurstiges Völkchen, diese Polen, die es da solidarisch in die RSA treibt, wo bekanntlich die Menschenwürde zu Hause ist. Und wie der Zufall so spielt, rekrutiert sich ein Großteil der Aufbrecher über den Limpopo nach Süden aus der bekanntlich besonders hartnäckigen Riege der Bergbaubeschäftigten aus dem Raum Katowice. Während die in Polen verbliebenen Kumpel Schachtaufzüge sprengen, damit Jaruzelski die Kohlen ausgehen, locken die Bergbaukapitalisten aus Südafrika ihre nach dem Westen abgedampften Vorgesetzten mit der Kohle:

"Südafrikanische Firmen wie 'General Mining', ISCOR, ESCOM, SASOL und Volkswagen haben jetzt eigene Anwerber nach Wien geschickt, um ihren Bedürfnissen entsprechende polnische Fachleute in ihr Land zu holen. Gerade Bergwerksspezialisten befinden sich in großer Zahl unter ihnen."

Wie Bildern und Interviews des Österreichischen Fernsehens vom 9.1. zu entnehmen war, sind die Werber hochzufrieden und die Angeworbenen verabschieden sich vor dem Abflug ins südliche Afrika guten Mutes: Für sie scheint sich der "polnische Freiheitskampf" auf jeden Fall durch einen neuen Arbeitsplatz gelohnt zu haben.

Letzte Hindernisse fürs Entstehen einer polnischen Kolonie in der RSA stellen lediglich noch die notorisch "verkrampten" Burenschädel dar, die

"auch noch hinter dem Ärmsten vom dortigen (östlichen) System geschundenen Flüchtling aus Osteuropa (vermuten, hinter ihm) könne ein 'Agent des Weltbolschewismus' stecken."

Sollten die zuwandernden Polen tatsächlich auf die Idee verfallen, in der RSA eine afrikanische Solidarnosc zu gründen, so wird sich ihnen doch lässig der Status von Weißen aberkennen und eine souveräne Polskei in der Kalahari gründen lassen.