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Dieser Artikel ist in der MSZ 3-1981 erschienen.

Systematik

Lech Walesa
EHEMANN, MARIENVEREHRER, POLE UND ARBEITERPOLITIKER

Eine Person des öffentlichen Interesses fährt in Begleitung einer neunköpfigen Delegation nach Japan, um sich nach eigenem Bekunden über "die enge Zusammenarbeit zwischen Management und Gewerkschaft" zu informieren, die den Erfolg der japanischen Wirtschaft ausmache. Der Mann, der in Staatsbesuchermanier sein Interesse am gelungenen Beitrag der japanischen Arbeitervertretung zum Fortschritt des Nationalreichtums ausposaunt, ist nicht Otto Graf Lambsdorff, der deutschen Arbeitern als Wirtschaftsminister ins Gewissen reden möchte; es ist auch nicht Heinz Oskar Vetter, der mit einer ausländischen Einheitsfront von Kapital und Arbeit für seine Mitbestimmung hier Reklame macht. Es ist Lech Walesa, Führer des Arbeiteraufstands in Polen, Vorsitzender der "freien Gewerkschaft 'Solidarität'", also erster Vertreter der polnischen Arbeitermassen, die vor noch nicht einem Jahr die Volksrepublik Polen samt Regierung und Einheitspartei an den Rand des Zusammenbruchs gebracht und sich eine eigenständige Interessenvertretung erkämpft haben.

Dieser Mann fährt nicht nur wie ein halboffizieller Repräsentant des polnischen Staates in den Westen, während daheim der Bevölkerung beim flotten Fortgang des Westhandels täglich härtere Rationierungen verordnet werden; dieser Mann sagt auch gleich dazu, daß er von der gemeinschaftlichen produktiven Regelung des Klassengegensatzes in einem Paradeland kapitalistischen Fortschritts etwas zu lernen hofft - für seine Zusammenarbeit mit den realsozialistischen Managern und Politikern zu Hause.

Widerspruch hat er dafür keinen geerntet, weder bei der eigenen Mannschaft noch bei hiesigen Linken. Stattdessen erntet er seit geraumer Zeit aus berufenem Munde das Lob, ein fähiger Kollege zu sein:

"Ich habe einen Riesenrespekt vor diesem Mann aus dem Volk, vor diesem Naturtalent." (Willy Brandt in der Frankfurter Rundschau vom 19.12.80)

Der ehemalige Friedenskanzler hat ein sicheres Gespür dafür, daß dieser 'Mann aus dem Volk' auch ohne eine normale Karriere im Getriebe der offiziellen Ausübung der Macht ein Politiker ist. Daß ihn andere Qualitäten auszeichnen als ein Bewußtsein über seine und seiner Genossen Lage, über deren Gründe, über seine Feinde und ihre Mittel. Daß ihn nicht der klassenkämpferische Wille treibt, diesen Paroli zu bieten. Daß er stattdessen alles besitzt,

was man mitbringen muß,

um die Macht, die die Arbeiterschaft immerhin und inzwischen anerkanntermaßen darstellt, in den Dienst Polens zu stellen, also für eine Politikerkarriere im Namen der polnischen Arbeiter und Bauern: den festen Willen, sich um die Nation verdient zu machen, und eine Weltanschauung über die Lage der Arbeiterklasse, die sich auf drei Säulen stützt: 1. Unrechtsbewußtsein, 2. Glauben und Hoffnung, 3. Ehre. Mit solchen Tugenden werden die Leute in aller Welt alt, haben eine schlechte Meinung von ihr, eine gute von sich und bringen so ihr Arbeitsleben über die Runden. Anders in Polen: Dort haben diese Grundsätze einer anständigen Untertanengesinnung zu einem Aufstand geführt. Das Unrechtsbewußtsein hat sich dazu legitimiert gefühlt, Staat und Partei die Rechnung aufzumachen, mit der diese laufend ihr Volk traktiert hatten. Nicht die Not, sondern die Not, die als Schuld einer schlechten Regierung und pflichtvergessener Politiker betrachtet wurde, hat den Danziger Aufstand hervorgerufen. Das Ideal der polnischen Staatsraison, alles zum Wohle Volkspolens, wurde bitterernst genommen - als ob nicht gerade die Staatsraisön einer revisionistischen Volkswirtschaft unter sowjetischer Führung Westhandel und Verarmung des Volkes als ihr Manövriermittel entdeckt hätte. Das hat die Unterwürfigkeit (nichts anderes ist Nationalismus!) in die Kampfmoral eines rechtmäßigen Widerstandes umgewandelt.

Unter solchen Bedingungen werden Figuren, die die Weltanschauung fordernd vertreten können, zu lebendigen Denkmälern. Die Rolle, die die Revisionisten die Persönlichkeit in der Geschichte spielen lassen, nur der lebendigste Ausdruck des Wollens der Massen zu sein, wird ironisch gegen ihre Erfinder exekutiert: Die Chefs der Volksdemokratie bekommen einen echten Volksrepräsentanten als Gegner vorgesetzt. Aus den Anlagen eines solchen "Mannes aus dem Volk" den kompletten

Politiker werden

zu lassen, erledigen die Umstände.

Das Unrechtsbewußtsein entwickelt sich zum Bewußtsein der Macht, die daher rührt, daß man berechtigt ist, die Partei zu kippen. Den Verantwortlichen für die eigene Not wird nicht der Kampf angesagt und kalkuliert, wie man ihn am durchschlagendsten führt; diese Politik setzt sich vielmehr in einen Vergleich mit dem Gegner, dem, weil er gemeinsamen Maßstäben nicht genügt, der Gehorsam verweigert wird, und mit der Berufung auf die Rechtmäßigkeit wird das relativiert, was man erreichen will. Mit-Verantwortung wird da erst theoretisch und dann, sobald man darf, ganz praktisch übernommen. Eine gerechte Ordnung soll in Polen herrschen, und das ist etwas anderes als die Garantie für genügend Fleisch in den Läden. Ehre und Stolz schlagen um in Opferbereitschaft, die ein solcher Führer als Verhandlungsmasse miteinbringt und seinen Anhängern verordnet. Glaube und Hoffnung schließlich versehen das Ganze mit einem guten Gewissen und viel Zuversicht. Zufrieden mit der eigenen erfolgreichen Rechtschaffenheit und mit festen Maßstäben zur Einteilung der Welt in Gut und Böse ausgerüstet, erscheint nichts überflüssiger als Wissen über die objektiven Bedingungen des eigenen Kampfes. Stattdessen ist für alles, was gegen die eigene Gefolgschaft durchgesetzt wird, in einem reinen Gewissen reichlich moralische Rechtfertigung vorhanden.

Gewerkschaftspolitiker mit geöffneter Faust

Wie ein echter Emporkömmling gefällt sich der zu Macht gelangte Walesa in der Zurschaustellung seiner Bedeutung für den Gang der großen Politik. Bei Gelegenheit, besonders gegenüber westlichen Journalisten, leistet er sich Respektlosigkeiten und kraftmeierische Sprüche folgender Art:

"Honecker, Bilak, Ceaucescu... Ich kenne die Herren nicht, ich habe sie nie gesehen und ich möchte sie nie sehen. In meinen Verband nehme ich die nie auf...

Ich kann beim Premier mit der Faust auf den Tisch schlagen, ich kann Generäle sitzenlassen, ohne auf Wiedersehen zu sagen..."

Dabei können weder Honecker noch Bilak noch die Generäle, solange wie sie die Macht haben, den polnischen Arbeitern egal sein und sie sind auch deren Anführer gar nicht egal. Im Gegenteil: Er kokettiert mit bekannten und akzeptierten Machtverhältnissen. Wie aufsässige Schüler sich auf Grundlage der anerkannten Autorität etwas herausnehmen, so steht dieser demonstrative Ungehorsam nicht für den Willen, sich nichts mehr bieten zu lassen, sondern stellt mit der provokativen Regelwidrigkeit die Bereitschaft zur Schau, den schuldigen Respekt auch wieder abzustatten, nur eben unter rechtmäßigen Bedingungen von Gewerkschaftspolitiker zu Staatsvertreter - und umgekehrt. Die Unwahrhaftigkeit des angeberischen Ungehorsams bezeugen denn auch die bei der nächsten Gelegenheit abgegebenen Unterwürfigkeitserklärungen:

"Wir drängen uns nicht zum Regieren. In dieser Hinsicht haben wir am wenigsten zu sagen. Dafür gibt es Fachleute... und wir machen ja sogar Rechtschreibfehler, wir sind doch Arbeiter..."

Walesa stellt sich mit falscher Bescheidenheit als ein einfaches Mitglied des einfachen Volkes dar, dessen Wunsch nichts als das vertrauensvolle Regiertwerden sei - so als wäre er nicht im Gegensatz zum einfachen Volk Mit-Garant dafür, daß es sich regieren läßt -, und offenbart damit den Stolz, staatsentscheidenden Einfluß zu haben, ohne ihn gegen die hohen Herren an der Spitze verantwortungslos auszunützen oder gar selber ein solcher werden zu wollen. Er schmeichelt sich mit der Vorstellung, auf die politische Gewalt zu verzichten, um sie nicht in Frage zu stellen, und verspricht damit, mit seiner ganzen Macht alle Ansprüche abzuwiegeln, die das politische Gewaltmonopol gefährden könnten. Kaum hat Walesa damit geprahlt, daß er es sei, der angeblich Aufstieg und Fall von Politikern in der Hand hätte -

"Zunächst einmal war ich es, der ihn überhaupt gemacht hat, den Herrn Gierek... Daß er aufgestiegen ist, hat Gierek mir zu verdanken, und daß er hinuntergefallen ist, auch..." -,

schon kann er seine Genugtuung darüber nicht verbergen, daß so ein hoher Herr mit ihm verhandelt:

"Wir haben ein Gespräch von Mann zu Mann geführt..."

Schon läßt er eine Erklärung vom Stapel, daß er es über alles schätzt, seinesgleichen von solchen Figuren kommandieren zu lassen:

"Polen braucht eine starke Regierung, eine Regierung, die auch wirklich regieren kann, und Jaruzelski kann das. Denn er ist ein Soldat, ein General. Er ist es gewöhnt, Befehle zu geben...

Ich habe es gern, wenn Entscheidungen gefällt werden, unabhängig davon, wie die Entscheidungen ausfallen..."

Und das nur, weil er bzw. seine Gewerkschaft nun Stellung nehmen und ihr Vertrauen in die Staatsgewalt zu Protokoll geben dürfen...

Die Russen - sollen sie doch kommen

Mit viel Siegesoptimismus betrachtet so ein Nationalrebell auch die äußere Lage Polens - solange bis er ins Gegenteil umkippt und den eigenen Heldentod ankündigt.

"Wir lassen uns nicht einschüchtern. Von niemandem... Wir haben keine Angst. Wenn die Russen einmarschieren, sind wir darauf vorbereitet. Die Tschechoslowakei ist nicht Polen. Polen ist anders...

Ich habe Angst. Die Staatsmacht ist nicht so schwach, wie man glauben könnte... Wir wollen keine gewalttätige Konfrontation, das wollen wir wirklich nicht. Aber wenn sie notwendig werden sollte, dann wird niemand sagen können, daß wir Feiglinge sind. Ich selber bin nur allzu bereit zu sterben..." (Als ob davon sich irgend jemand etwas kaufen könnte!)

Der Wechsel zwischen Optimismus und Angst, zwischen dem (Opfer-!)Mut, der sich dem Rückhalt in einer durch und durch nationalen und damit durch und durch gerechtfertigten Sache verdankt, und der Ahnung von der Überlegenheit der Hegemonialmacht, was die Waffen betrifft, ersetzt jede ernsthafte Überlegung, wie man sich gegen sie durchsetzen kann: Da wird keine Berechnung angestellt über die Herrschaftsverhältnisse, mit denen man sich angelegt hat, sondern hin und her laviert. Und das übrigens mit einem sehr eindeutigen Resultat: Die Behauptung, daß er sich von den Russen nicht einschüchtern läßt, ist ja nur halb wahr. Mit welchem anderen Argument als einzig der drohenden sowjetischen Intervention läßt sich der Gewerkschaftsführer denn durch die Regierenden gefügig machen! Die Sorge um den Bestand Polens begründet beides: sowohl das falsche Selbstvertrauen - die Gewerkschaft ist eine echte Volksbewegung und so eine muß doch gewinnen! -, als auch die Bereitschaft, sämtliche materiellen Forderungen Zug um Zug streichen zu lassen zugunsten der rein formellen Anerkennung der Gewerkschaft als zur Mitsprache berechtigter nationaler Arbeiterrepräsentanz - die Gewerkschaft ist eine polnische Volksbewegung und so eine darf nicht leichtfertig die Intervention provozieren und damit die National-Regierung aufs Spiel setzen!

Als Führer der Bewegung und als Adressat des Gegners, der Regierung, wird Walesa von dieser Seite mit dem Einmarsch der Roten Armee erpreßt. Erpreßbar ist er aber, weil er Nationalist ist. Siegesoptimismus und Angst, demonstrativer Ungehorsam und vertrauensvolle Unterwürfigkeit gegenüber der neuen Garnitur von Staatschefs, diese Kombination beruht nicht nur auf Unwissenheit, sondern auf dem festen Vorsatz, unwissend zu bleiben, weil die Selbstgewißheit dieses Kampfs in etwas anderem ihre Grundlage hat. Weil das Unrechtsbewußtsein das Programm eines solchen Arbeiterführers ausmacht, leistet er sich eine ziemliche Gleichgültigkeit gegen die Chancen, etwas zu erreichen, und ist ebenso sehr bereit, Erfolge zu sehen, während sich objektiv für die polnischen Arbeiter die Lage nur verschlechtert hat, und läßt sich von seinen politischen Gegnern auf das gemeinsame Interesse an einer National-Regierung verpflichten. Es wäre ja wirklich egal, ob einer mit der Madonna, mit Koscinszko oder Marx im Kopf kämpft, würden auch verkehrte Auffassungen über die Welt Erfolg bringen. Nur ist dies leider ein Ding der Unmöglichkeit.

Was man leistet und was sein muß

Ein Arbeiter, der Ehre im Leib hat der auf sich hält als einen, der seine Pflicht und Schuldigkeit kennt, der aufsässig geworden ist nur um dessentwillen, was sich gehört, ist zum Arbeiterführer avanciert. Und die politische Offensive, die er eröffnet, bemüht denselben Arbeiterstolz, den Stolz auf das, was man sich zumuten läßt. Es ist die kämpferisch vorgetragene 'Vernunft', die ohne große Mühe einsieht, daß zum Verteilen nichts da sein soll, daß nur fortgesetzter Verzicht und harte Arbeit die Rettung Polens versprechen, daß schließlich vor allem "das Erreichte" zu bewahren ist, auch wenn davon keiner mehr zu essen hat. Ein Urteil über die Produktionsverhältnisse, die die Arbeiter naturgesetzlich zur Armut verurteilen, oder zumindest einen leisen Zweifel daran will sich Walesa nicht anmaßen. Im Gegenteil; der Stolz auf die eigene "Fähigkeit", entbehren zu können, führt sich vor als die Quelle der Widerstandsfähigkeit. So ein Arbeiterpolitiker bringt es lässig zustande, im Lauf ein- und desselben Interviews seinen Auftrag mit dem Hunger der armen Leute zu begründen -

"Wir wollen nur darüber wachen, daß die armen Leute ein bißchen mehr essen können und ein bißchen zufriedener sind..." -

und sich mit der Opferbereitschaft seinesgleichen zu brüsten, also mit der Absicht, seiner Klientel noch mehr Hunger zuzumuten:

"Der Kommunismus hat sehr viel für uns getan. Er hat erreicht, daß wir das Gegenteil von dem glauben, was man uns eingetrichtert hat... Sie wollten, daß wir materialistisch werden, Opfer scheuen. Wir aber sind antimaterialistisch und sehr wohl fähig, Opfer zu bringen..."

Das Angebot werden die kommunistischen Verführer in der Regierung mit Dank entgegennehmen! Auch ein polnischer Arbeiter hat seinen Stolz, zwar zu nichts mehr als zum Arbeiter zu "taugen", aber als Arbeiter ordentlich hinlangen zu können. So einer, zum Gewerkschaftsfunktionär aufgestiegen, bietet die Einsatzbereitschaft seiner Klasse kämpferisch an: Wenn ordentlich regiert wird, wird auch die Arbeiterschaft ordentlich ihre Pflicht tun. Dasselbe Subjekt, das großkotzige Sprüche über die Unbeugsamkeit der Klasse hören läßt -

"Wer ist für wen da? Wer muß sich wem anpassen? Wir an diese Verhältnisse, die jemand nicht ändern will, oder diese Verhältnisse unseren Forderungen?" -,

legt postwendend "Einsichts"bereitschaft gegenüber sogenannten nationalökonomischen "Notwendigkeiten" an den Tag: Die Versorgung kann nicht besser sein, schließlich muß doch exportiert werden... Streiken schadet der Wirtschaft und (ist daher keine brauchbare Waffe, sondern) muß eingestellt werden - ein Witz in Polen, wo wegen Stromabschaltungen weitaus mehr Fabriken stillstehen als wegen Arbeitskämpfen! Aber die Kohle muß ja auch außer Landes geschafft werden... Arbeitslosigkeit - es ist gut möglich, daß so etwas zur Sanierung der Wirtschaft notwendig ist...

Die schöne Übung, auf sich als einfachen Mann, als Opfer der Verhältnisse zu reflektieren, der aber auf seinem Platz seinen Mann steht, behält auch der Arbeiterführer bei: nur tut er dies für andere. Zwar wird da noch ein bißchen mit denkbaren nationalökonomischen Modellen herumspekuliert, die Polen ganz schnell nach vorne und die Arbeiter zu sinnvoller Arbeit und Brot brächten, was aber die anerkannten fiktiven Subjekte, die Wirtschaft und Polen, wirklich "brauchen", das läßt sich so einer dann doch von den wirklich mit der Herrschalt befaßten Subjekten sagen. Und bringt es seinerseits denen bei, die Arbeiter bleiben. Von wegen 'Rechtschreibfehler', 'doch nur Arbeiter'!

Führungstaktik gegen die Basis

Vom Gegner auf die gemeinsame Verantwortung verpflichtet, reift der einfache Arbeiter im Handumdrehen zum Taktiker gegenüber dem eigenen Verein, zum kongenialen Fachmann in Sachen Disziplinierung 'überzogener' Ansprüche. Denn die Mitglieder stellen notwendigerweise den Vergleich zwischen Ausgangsforderungen und Ergebnissen an, und der hat ein sehr eindeutiges Resultat. Außer einigen freien Samstagen und der Existenz der Gewerkschaft ist nichts herausgesprungen, die Versorgung wird ständig schlechter, und auch auf dem Gebiet der Anerkennung der Gewerkschaft findet ein permanenter Kleinkrieg statt. Unzufriedenheit in der Gewerkschaft kann deren Führer überhaupt nicht leiden, und als derjenige, der diese Resultate mit herbeigeführt hat, macht er sich daran, sie als einzig möglichen und weiter nicht zu kritisierenden Erfolg zu verkaufen. Weil er für die Durchsetzung eines falschen Ziels einsteht, wird er auch zum Agenten des darin enthaltenen Gegensatzes von Staat und Arbeitern: Das Abrücken von den mit der nationalistischen Kritik legitimierten materiellen Forderungen ist seine gewerkschaftspolitische Leistung. Deswegen führt sich der Arbeitervertreter als Vertreter von lauter Kompromissen mit der Regierung, d.h. der schrittweisen Aufgabe von Mitgliederanliegen auf. Die vertritt er nun offensiv nach innen - "verantworten" heißt das in der Politikersprache. Damit eröffnet er den Gegensatz von Führung und Massen und bedient sich zum Zweck der Disziplinierung der Massen der einzig dafür tauglichen Mittel - von wegen 'Naturtalent'! Die "Argumente" sind da selbstverständlich nicht dem gemeinsamen Ziel und den objektiven Erfordernissen seiner Durchsetzung entnommen, sondern dem Gegensatz zur Basis, dessen guter Sinn beschworen wird: Erpressung mit der Unverzichtbarkeit seiner Person, die Rücktrittsdrohungen; Erpressung mit seinen besonderen Informationen aus Regieiungskreisen, seinem erweiterten Horizont, den die anderen selbstverständlich nicht teilen die geschäftsmäßige Verachtung der Klassengenossen stellt sich sehr bald ein! -; Erpressung mit dem "Erreichten", das nicht leichtfertig gefährdet werden dürfe - so geht die Trennung von Gewerkschaftspolitik und Idealen vonstatten. Erpressung schließlich mit der Nation, für die dieselbe "Vorsicht vor leichtfertiger Gefährdung" gilt. Diese richtig einzuschätzen, ist wiederum nur er in der Lage mit seinem Horizont etc. ... Mit sich und seinen Führungsqualitäten wird da argumentiert, und die Weisheiten fallen notwendigerweise ziemlich dürftig aus:

"Da braucht man Geduld. Da braucht man Weisheit. Ich weiß, wie ich die Wut der Leute, die manchmal platzen möchten, kontrollieren kann, weil ich weiß, wie man sich mit ihnen auseinandersetzen muß. Obwohl ich es nicht gelernt habe, weiß ich, wie man die Dinge mit den richtigen Worten anspricht. Bei dem Streik der Bauern in Jelenia Gora zum Beispiel, da habe ich sie angeschrien: 'Ihr seid Vorkämpfer der Dummheit, und ich bin gegen euren Streik.' Das verschlug 300 Leuten die Sprache. Hm."

Kaum ein dreiviertel Jahr lang Funktionär, schon "weiß" so einer, wie man es "den Leuten" geben muß, und plaudert genüßlich darüber, wie er die Unvereinbarkeit der Ziele, materielle Besserstellung der Arbeiter und Besserstellung der Nation, bewältigt. Was es an Taktik braucht für einen solchen Führer, um die Basis bei der Stange zu halten, darauf kommt er wirklich ganz von selbst: Sie ist eben bloß die Basis, die auf die Führung zu hören hat. Nach getaner Arbeit wird der Führer selbstverständlich wieder ganz leutselig und patscht den kleinen Kindern auf die Backen. Auch die Streitigkeiten mit anderen im Gewerkschaftsvorstand bzw. mit den Mitgliedern des KOR erledigt Walesa mit entsprechend üblen Methoden. Auf die Kritik von Gwiazda, dem Kampfgefährten seit den 70er Jahren, antwortet er mit einem offenen Brief, mobilisiert also die öffentliche Meinung - als ob die das etwas anginge! -, und schreibt in demselben auch noch, was er von Gwiazda hält, anstatt sich über die korrekte Linie zu streiten. Dieselbe Tour, seine Kontrahenten schlicht für unfähig zu erklären, praktiziert er gegenüber dem KOR, wenn er es für opportun hält: sie sind umständliche, zuweilen lästige Intellektuelle. An die Stelle politischer Kritik tritt persönliche Herablassung und Verachtung.

Für die Ausübung solcher Kunstfertigkeiten erntet er dann das offizielle Lob seiner Kumpane aus dem Lager des Gegners:

"STERN: Herr Rakowski, wie schätzen Sie Lech Walesa ein?

RAKOWSKI: Wenn ich meine positive Meinung über ihn hier äußere, dann schadet ihm das nur. Die Radikalen in der 'Solidarität' haben ihn doch schon beschuldigt, mit mir so leicht eine gemeinsame Sprache gefunden zu haben. Andererseits: Noch lesen nicht alle in Polen den STERN. Also kann ich sagen: Er ist ein Mann, der sehr schnell in seine Rolle als Politiker hineinwächst, als Gewerkschaftspolitiker. Er ist sehr clever."

Das unverschämt gute Gewissen

So geriert sich ein Arbeiterdiplomat, profiliert sich damit, daß er mit Regierungsleuten umgehen und umgekehrt dem Volk ordentlich Bescheid sagen kann, wenn es nottut. Dabei hält er sich zugute, daß er an dieser zweiten Front selbstlos kämpft und unersetzlich ist: "Ich muß bleiben, wo ich bin; kämpfen, die ewig neu aufflammenden Feuer austreten, wie ein Feuerwehrmann, die Bewegung in eine Organisation umwandeln..."

Das Wissen davon, daß er den eigenen Klassengenossen einiges zumutet, bewältigt er umstandslos mit einem guten Gewissen:

"Warum ich Erfolg habe? Ganz einfach, weil ich die Wahrheit sage. Ich habe keine andere Stärke als die des Herzens und des Glaubens, Jeden Morgen gehe ich zur Messe und zur Kommunion. Warum? Weil das die Quelle meiner Stärke ist. Ohne tiefen Glauben würde mein Kopf davongeblasen. Ich preise die Jungfrau. Für mich ist sie die Königin Polens..."

Ein bißchen Zuspruch von deren weltlichen Repräsentanten bringt das Gewissen auch wieder total auf die Beine:

"Das Gespräch mit dem Papst hat mich aufgeladen wie eine Batterie, die nun wieder Energie an andere weitergeben kann..."

Weil er selbst seine 'Kraft aus dem Glauben schöpft', kennt er auch die Macht des Glaubens über die Köpfe seiner Brüder im Herrn und verständigt sich mit den polnischen Kirchenpolitikern über die gottgefällige Solidarität seiner Schäfchen gegenüber den Erfordernissen der 'Krisenbewältigung'. Da erhalten die Maßstäbe der Gerechtigkeit, Ehre und Hoffnung nicht nur ihre höheren Weihen, sondern auch ihre staatserhaltende Korrektur. Von solchen nationalen Autoritäten läßt sich der 'einfache Gläubige' Walesa geistliche Anweisungen gefallen, ohne mit der Vorstellung zu kokettieren, er könne diese Herren auch nicht kennen. Stattdessen bricht er bei der Kunde vom Attentat auf den Papst in Tränen aus und überlegt spontan, von Japan stehenden Fußes als Glaubensvertreter Polens nach Rom zu reisen.

Dummdreiste Selbstgefälligkeit - der Mann des Volkes

Wer sich ganz als Vollstrecker eines höheren Auftrags begreift, der beginnt auch, sich selbst äußerst gut zu gefallen. In der Form des Selbstmitleids präsentiert Walesa seine Eitelkeit:

"Ich bin müde, hundemüde. Und nicht nur körperlich. Weil ich nicht schlafe, weil man Herz nicht so arbeitet, wie es sollte. Es schlägt zu heftig. Es schmerzt. Ich bin auch innerlich müde, in der Seele. Dieses Leben ist nichts für mich: Leute zu treffen, für die man slch einen Schlips umbinden muß, bei denen man auf gute Manieren achten muß... Schlipse bringen mich um, ich kann sie nicht tragen..."

Gemessen an der Schwere der Bürde ist der, der sie trägt, wohl eine außerordentliche Persönlichkeit. Und das teilt Walesa nicht nur der Welt mit; er ist in diesem Punkt von einer so widerlichen Mitteilsamkeit, wie es nur jemand zustandebringt, der das Repräsentieren als Mittel einer entsprechenden Politik benutzt: Wo anstelle der Durchsetzung der Arbeiterinteressen, rücksichtslos gegen die Meinung der Feinde und rücksichtsvoll nur gegen die Bedingungen des eigenen Erfolgs, für die Ehrbarkeit der eigenen Sache um öffentliche Anerkennung geworben wird, da plustert sich auch der Vertreter der Sache ganz als die ehrbare Persönlichkeit auf. Sie begutachtet sich selbst Wohlgefällig und serviert ihr peinliches Innenleben mit dem Bewußtsein, daß wohl alles darin der Welt gezeigt werden muß, weil es Ausweis des guten Willens und damit der Richtigkeit der Politik ist.

Für solche Veranstaltungen, für Reisen und die zahlreichen Interviews, die Walesa zu geben für angebracht hält, dafür ist er nie zu müde. Aber zwei Stunden Nachdenken, was denn eigentlich der Grund für Fleischmangel, Unterproduktion, zu wenig Wohnungen, Kohle für den Export und nicht für die polnischen E-Werke, was der Grund für all diese Schönheiten der revisionistischen Produktionsweise ist, das scheint nicht drin zu sein. Stattdessen mag er in Interviews die eigene Vorzüglichkeit besprechen:

"Ich bin ein Mann mit felsenfestem Glauben und ich weiß, daß dieser Augenblick einen Mann wie mich erfordert: einen Mann, der mit gesundem Menschenverstand Entscheidungen treffen und Probleme vorsichtig und vermittelnd lösen kann..."

Der "gesunde Menschenverstand" reicht noch nicht einmal dazu, das üble bürgerliche Verfahren zu durchschauen, an dem er sich da beteiligt: die Befragerei, die die Person und ihre Widersprüche zum Hauptgegenstand einer ziemlich bitteren Angelegenheit erklärt, nämlich der, daß die Herrschaft die ihr Untergebenen kaputtmacht. Er genießt es und rückt mit Intimitäten heraus. Mit einer naiven Eitelkeit und Offenheit, die schon wieder eine höhere Sorte Berechnung ist, stellt er 'den Menschen' Walesa vor, und er freut sich - auch da ganz Emporkömmling und selbstzufriedener Vertreter des 'einfachen Volkes' ohne den Respekt und die Distanz, die Verwalter von Staatsämtern haben und genießen - über jede Gelegenheit, aus der Schule zu plaudern. Anstatt sich die Frage vorzulegen, was denn in Herrgottsnamen eine hergelaufene italienische Luxusjournalistin das Eheleben mit Frau Danuta angeht, wird das in aller Angelegenheit erörtert, nicht ohne den Hinweis, daß er auch gerne öfter mal mit anderen Frauen... So ein Mann, so ein Mann!

Überhaupt schätzt es Walesa, diese Abteilung des Arbeiterlebens ordentlich herauszukehren, streikende Stahlarbeiter mit der Aufforderung abzuwiegeln, sie sollten nach Hause gehen, um ihren ehelichen Pflichten zu genügen, zu berichten, daß sich seine Frau Sorgen um ihn macht und das beste Gegenmittel wäre, ihr ein neues Kind zu machen etc. etc. Da prahlt ein Prolet mit seinem Materialismus der Not als Lebensfreude: Das einzige Vergnügen, das kein Geld kostet, das man sich leisten kann, das wird sich auch geleistet, ohne Rücksicht auf Verluste; denn gegen die Pille spricht ja Bruder Wojtyla. Einen Haufen Kinder in die -Welt setzen, unter Verhältnissen, wo schon die Beschaffung der notwendigen Nahrungsmittel ein täglicher Kleinkrieg ist, das ist Arbeiterluxus!

So führt Herr Walesa sich vor als Repräsentanten der polnischen Arbeiter und macht deren Ehre vorstellig.

Nationalpolitischer Einfallsreichtum

Bis zum Erbrechen strapaziert er den Trick, 'zwar Funktionär, aber dabei ganz einfach, ganz Mensch geblieben'. Bei Gelegenheit hüpft er grinsend auf die Bühne, schwingt kämpferisch die Fäuste und kehrt den Volkstümlichen heraus. Und umgekehrt, weil er wer ist und sogar die Bürde eines Schlipses trägt, hat auch jeder Scheiß, den er von sich läßt, seine eigene Wichtigkeit. Auch das muß natürlich wieder zum Gegenstand der Selbstdarstellung gemacht werden:

"In diesem Interview ist es, als würde ich laut denken... Manchmal kommen einem im Gespräch plötzlich Ideen, und man fragt sich, warum habe ich das nicht schon vorher gedacht? Das ist die Art, wie Ideen entstehen, und diese Kanarienvogelidee könnte sich noch mal als gut erweisen.

FALLACI: Auch die Idee, Weizen auf Steinen anzubauen, ist gut.

WALESA: Ja, ja, ja..."

Das ärmliche Weltbild, das sich aus der Projektion der eigenen moralischen Maßstäbe auf die Welt zusammensetzt, taugt auch zu sehr persönlichen Geschmacksurteilen über den Imperialismus und seine Größen Reagan ist in Ordnung, im Grunde ein Typ wie er:

"Ich mag Reagan. Jawohl. Ich mag ihn sehr. Wie er so geht, wie er spricht: genau wie ich... Ich hoffe nur, daß er sich nicht ändert. Daß er nicht vergißt, woher er kommt. Das wäre schade..."

Aus Polen will er ein zweites Japan machen, denn so fleißig wie angeblich die Japaner sind seine Polen schon lange. Wie ein Kapitalismus funktioniert, und daß dessen Funktionieren im Verein mit der polnischen Planwirtschaft seiner Klasse viel Arbeit und wenig Essen beschert, davon weiß er nichts und will nichts wissen. Und ausgerechnet die Schweiz - wahrscheinlich hat er mal Heidi im Kino gesehen - soll die polnische Landwirtschaft auf Vordermann bringen.

"Bleibt's aber trotzdem schlecht, werden wir auch gegen die streiken. Auf der ganzen Welt wird es gegen diese Länder einen Boykott geben, weil dann klar ist, daß das schlechte Landwirte sind."

Alle Nationen = Menschen, die guten Willens sind, müssen zusammenhelfen; die Japaner, Deutschen, Schweizer helfen 'uns', der Papst gibt Kraft und Segen - so geht internationale Politik. Unbekümmert und sich beharrlich weigernd, auch nur einen nüchternen Gedanken zu fassen, schwadroniert dieser Mann ununterbrochen über den Fortschritt der 'Solidarität', die Zukunft Polens, den Aufschwung der Wirtschaft usw. Heraus kommt dabei notwendigerweise ein krudes Sammelsurium politischer und ökonomischer Dummdreistigkeiten von drüben und hüben, die einem polnischen Erzbürger mit viel Begeisterung für die wahren Werte seines Landes und Volkes eben so in den Kopf kommen, wenn er sich - statt die Politik zu kritisieren - aufgerufen fühlt, sich eine bessere Politik vorzustellen.

Mit seinem durch den "Erfolg" redselig gewordenen Selbstbewußtsein glaubt Walesa schließlich selbst noch an all die erdichteten Leistungen, die ihm nach guter bürgerlicher Sitte angehängt werden: Er bespricht sich als:

- Führer mit sogenannten Führungsqualitäten:

"Übrigens ich war es, der das Treffen zwischen den Studenten und Vizepremier Rakowski arrangiert hat...";

  • als Machtfaktor, der die Welt - zumindest in Polen - erschüttert hat, ungetrübt von jeglicher Ahnung, wieviel die weltpolitische Konstellation dazu beigetragen hat, daß er nicht bei der ersten Gelegenheit erledigt worden ist;
  • als Erfinder einer eigenen Linie, der sog. "gemäßigten Linie", soll heißen: die Abwiegelei intern, die er zur Durchsetzung der mit der Regierung beschlossenen Kompromisse betreibt;
  • und rundum als historische Persönlichkeit. Schließlich erkundigt er sich peinlicherweise auch noch danach, ob das Bild, das die Welt von ihm hat, mit dem seinen übereinstimmt:

"Können Sie mu sagen, was die Leute im Westen über mich denken?... Was sagt man über mich im Westen?"

Der Garant Volkspolens und seine Freunde

All das wäre ziemlich lächerlich und banal, würde er nicht jenseits aller Meinungsunterschiede im Westen genau dafür einhellig mit Lob überschüttet: Von den Politikern, weil er gegen die Russen brauchbar ist; von den Christen, weil er gegen die Russen und für ein anständiges Volk samt eigener Herrschaft einsteht und dafür jeden Morgen auch noch zu Füßen der Jungfrau kniet; von Gewerkschaftlern, weil er ein Freiheitskämpfer wie jeder nationalistische Gewerkschaftler ist; von den Linken, weil er ihnen 'trotz allem' (sprich: wegen dem allen) als Kommunist gilt, es also für die BRD-Linke schon gar nicht mehr darauf ankommt, was so ein Mensch im Kopf hat, wenn er nur im Namen der Massen eine 'autonome'und 'ihrem Bewußtseinsstand adäquate' nationale Politik macht. All das wäre ziemlich lächerlich und banal, wenn er nicht bei den polnischen Arbeitern damit Erfolg hätte und von den dortigen Politikern und Pfaffen nicht benutzt würde zur Erhaltung der Einheit von Staat, Volk und Kirche. All das wäre schließlich ziemlich lächerlich und banal, waren seine Dummheiten nicht das getreue Programm für den Fortschritt der 'Solidarität'; wäre er damit also nicht die Person, mit deren Einsatz die polnischen Arbeiter sich mit Armut und Hunger nunmehr selbstverwaltet und mit einem der ihren als Führer versehen abfinden. Und wäre es nicht auch das Schwadronieren eines Arbeiterführers, der bei leicht geänderter Kalkulation der Staatsgewalt oder deren ausländischer Schutzmacht als erster hinter Mauern verschwindet. Das mitleidig-überhebliche Bewußtsein, daß hier einer vor ihr sitzt, der sich potentiell um Kopf und Kragen redet und dessen Volksgenossen sich potentiell unter seiner Führung mit seinem gläubigen Nationalismus verheizen lassen, ist der ganz spezielle Reiz des Interviews, den die Fallaci sich und ihrem westlichen Publikum bietet.