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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1980 erschienen.
Ernährung
ÖSTROGENSKANDAL EINGEFROREN
Das Problem als solches ist nicht gerade neu. Da die Dauer der Herstellung eines Produktes - auch die Zeit bestimmt, nach der sich das investierte Kapital durch gewinnbringen den Verkauf 'rentiert', war die Viehzucht vom Standpunkt der kapitalistischen Produktion aus betrachtet immer schon eine äußerst fragwürdige Angelegenheit.
"Was den Viehstand angeht, wollen wir einfach fragen: Wie ist der Umschlag zwei- und drejähriger Schafe und vier- und fünfjähriger Ochsen zu beschleunigen?" (W. Good, Landwirtschaftsexperte des 19. Jahrhunderts, zit. Karl Marx, MEW 24, S. 238)
Die Menschheit mit vielen wohlschmeckenden Schnitzeln zu versorgen, war also das Anliegen dieses Agrariers nicht. Für den Standpunkt des Gewinns bedeutet hier die Dauer der Aufzucht ein Ärgernis: Seine Sorge gilt der Natur des Gebrauchswerts, der großgezogen wird, weil er für den Zweck der Produktion von Gewinn ein Hindernis darstellt. Diese widrige Abhängigkeit von Naturbedingungen ließ auch damals schon die Landwirte nicht ruhen, wie Karl Marx zu berichten weiß.
"Es ist natürlich unmöglich, ein fünfjähriges Tier vor dem Ende von fünf Jahren zu liefern. Was aber innerhalb gewisser Grenzen möglich, das ist, durch veränderte Behandlungsweise Tiere in kürzerer Zeit für ihre Bestimmung fertigzumachen. ... Durch sorgfältige Zuchtwahl reduzierte Bakewell, Pächter von Dishley Granee, das Knochenskelett der Schafe auf das zu ihrer Existenz notwendige Minimum. Seine Schafe hießen New Leicesters. 'Der Züchter kann jetzt drei Schafe auf den Markt liefern in derselben Zeit, in der er früher eins fertigstellte, und das in breiterer, runderer, größerer Entwicklung der am meisten Fleisch gebenden Teile. Fast ihr ganzes Gewicht ist pures Fleisch' (Lavergne)." (ebd., S. 240)
Der Fortschritt
ist jedoch -- ohne Mr. Bakewells persönliche Verdienste schmälern zu wollen, muß dies festgestellt werden - auf diesem Gebiet unverkennbar. Er und seine runden Schafe würden sich wundern, könnten sie einen Blick in das Inferno eines bundesdeutschen Schweinestalls anno 1980 werfen:
"Wenn Schweine, damit es sich lohnt, innerhalb von 180 Tagen zu Zwei-Zentner-Fleischbergen hochgepäppelt werden, wächst das Knochengerüst nicht schnell genug mit, die Tiere brechen häufig unter dem eigenen Gewicht zusammen. ... Wenn jemand die Stalltür allzu heftig schließt, fällt schon mal ein Schwein, vom Herzinfarkt getroffen, tot um." (Spiegel, 44/80)
Die 'Behandlungsweise', Tiere 'in kurzer Zeit' 'fertigzumachen', besteht heutzutage im Einsatz von Chemie im Stall. Medikamente und chemische Substanzen aller Art machen es möglich, das liebe Vieh in großem Maßstab so schnell so fett zu päppeln, daß 'es sich lohnt'. Neben prophylaktischen Antibiotikagaben und Masthilfsmitteln wie MTU (Schilddrüsenhemmer) wird als neueste Wunderdroge zur Zuchtbeschleunigung in der Kälbermast synthetisches Östrogen (DES) gespritzt. Resultat für den Landwirt: in kürzerer Zeit bei gleicher Futtermenge Tiere mit bis zu 20% mehr Fleisch - in DM: beim Kalb durchschnittlich 80 DM mehr pro Tier. All diese Wundermittel haben die unangenehme Eigenschaft als gesundheitsschädliche Rückstände im Fleisch zu verbleiben. Zur Freude des Essers tummeln sich darin Beta-Blocker, Tranquilizer, Anabolika, Antibiotika, Hormone und ähnlich schmackhafte Substanzen.
"Die Moral von der Geschichte... ist die, daß das kapitalistische System einer rationellen Agrikultur widerstrebt..." (Marx, MEW 25, S. 131)
Die rentierliche Anlage von Kapital stößt in der Landwirtschaft nämlich auf natürliche Schranken - und die Mittel, die gemäß der kapitalistischen Rationalität des Profits eingesetzt werden, um sie zu überwinden, leisten dies durch die Zerstörung des Gebrauchswerts der Produkte.
Auf der Grundlage dieser kapitalistischen Rationalität läßt sich dann auch aus der gesunden Aufzucht (im Gegensatz nicht etwa zur kranken) eine besondere Delikatesse für Leute machen, die es sich leisten können, für "unübertroffene Fleischqualität" eine Menge Geld auszugeben. Otto Normalverbraucher dagegen kann, so die ZEIT, dem Gift nicht entkommen, weil es sein muß.
"Wie sooft im Leben, kollidieren zwei Wünsche: jener nach möglichst bllliger, zeitlich und mengenmäßig umfassender Versorgung mit Nahrungsmitteln und jener nach generell schadstoffreier, gesunder und schmackhafter Kost. Billige Massenproduktion aber... ist ohne Chemie nicht möglich." (ZEIT, 14.11.1980)
Daß der Wunsch des "Verbrauchers" nach "gesunder und schmackhafter Kost", die es nur in den teuren Feinschmeckerläden gibt, an dessen Geldbeutel scheitert, was in ihm natürlicherweise den "Wunsch " nach Billigprodukten erweckt, ficht den Schreiber nicht an. Ebenso selbstverständlich, wie Lebensmittel für die Massen billig zu sein haben, wächst aus ihnen quasi naturwüchsig die Menge der Schadstoffe.
Der Östrogenskandal
besteht also zweifellos nicht in der reichlichen Versorgung der Bevölkerung mit Giften, die da plötzlich und unerwartet enthüllt worden wäre. Im Gegenteil, diese "perfekt geregelt" zu haben, gereicht unserem Staat zur Ehre.
"Im Lebensmittel-, im Arzneimittel-, im Fleischbeschau- und Futtermittelgesetz ist nahezu alles perfekt geregelt: ... welche Mengen von Schadstoffen im Fleisch höchstens noch enthalten sein dürfen; ... wieviel Prozent der Schlachttiere auf Rückstände untersucht werden müssen; welche Zusätze zu Futtermitteln erlaubt sind." (SPIEGEL 44/80)
Ebenso wie Schadstoffe am Arbeitsplatz gehören die im Fleisch zum "allgemeinen Lebensrisiko einer Industriegesellschaft", das der Staat seinen Bürgern zuzumuten gedenkt und auf deren Ausmaß er per Festlegung von Zumutbarkeitsgrenzen ein Auge hat. Das künstliche Östrogen, eine Krüppel erzeugende Substanz, bei der Mast zu verwenden, ist verboten - das Mittel auf den Schwarzmärkten der Republik, die sich zufällig in der Nähe jeder Kälbermästerei finden lassen, für ein paar Mark erhältlich. Freimütig bestätigt ein Referent im Landwirtschaftsministerium Nordrhein-Westfalens:
"Wir müssen davon ausgehen, daß zumindest die großen Betriebe alle mit den verbotenen Östrogenen arbeiten." (SPIEGEL, 44/80)
Alle Jahre wieder führen die spärlichen Kontrollen zu positiven Befunden, in der Öffentlichkeit kaum registiert und mit geringen Geldbußen geahndet. Erst die spektakuläre Aktion eines italienischen (ausgerechnet!) Provinzrichters, der wegen des DES den Verkauf von Kalbfleisch in ganz Italien verbot (und dort deshalb als 'il coraggioso', der Tapfere, gefeiert wird), erregte Aufmerksamkeit und Befunde in Babynahrung die Gemüter - der Verbrauch von Kalbfleisch ging mittlerweile um 50% zurück. Grund genug für unsere freie Presse, ihr demokratisches Wächteramt wahrzunehmen, einen Östrogenskandal auszurufen
und seine öffentliche Bewältigung
in Angriff zu nehmen. Diese beginnt mit der beschwichtigenden Feststellung, so spektakulär sei die ganze Angelegenheit auch wieder nicht. Stolz verweist der SPIEGEL darauf, sie schon 1971 in dem Artikel "Gift auf den Tisch" aufgetischt zu haben/und die ZEIT konstatiert ungerührt:
"Insider wissen ohnehin seit langem, daß nämlich im gesamten Bereich der Mast, vor allem also beim Schwein, aber auch beim Geflügel, auch beim Rind, eine Fülle von unkontrollierten Chemieprodukten zum großen Teil illegal verwendet werden."
Dies hindert sie keineswegs daran, auf der Suche nach den Schuldigen für das Östrogen im Kalb die Idylle einiger "schwarzer Schafe" unter den Bauern zu entwerfen, die "viele untadelige Kälbermäster und Landwirte, die sich an die Gesetze halten", in Verruf bringen. Die Schattenseite der bekannten Schlitzohrigkeit des Bauernvolks wird wieder einmal beleuchtet und den Deliquenten als verwerfliche Geldgier vorgerechnet. (So heißt das edle Gewinnstreben immer, wenn die 'Streber' dem Auge des Gesetzes unangenehm aufgefallen sind, ihr Tun infolgedessen als Verstoß gegen die über jeden Zweifel erhabenen 'Prinzipien unserer Marktwirtschaft' und sie selbst als zwielichtige Figuren zu entlarven sind.)
Bei der Beantwortung der Schuldfrage zweiter Teil, wie die so als "Giftmischer der Nation" entdeckten Bauern "zu diesen Drogen kommen konnten", kann die bundesdeutsche Presse allerdings dem Staat den harschen Vorwurf nicht ersparen, seine Aufpasserrolle vernachlässigt zu haben. Der gute Wille der Gesundheitspolitiker zum "Verbraucherschutz", der in all den schönen Vorschriften über den zulässigen Grad der Vergiftung von Fleisch zum Ausdruck gekommen sein soll, "scheitert" kläglich bei der Kontrolle ihrer praktischen Durchsetzung. Der SPIEGEL schmückt dazu das zu einem bewegenden Drama "machtlose Behörden im Kampf gegen Mafia aus Großmästern, Tierärzten, Futtermittelhändlern und Pharmaindustrie" aus und beweist mit seiner Auflistung von staatlichen Versäumnissen -
- "Gezielte Rückstandsuntersuchungen gibt es gegenwärtig nur "für einen "Bruchteil der gesundheitsschädlichen Substanzen."
- "Die nötigen Untersuchungsmethoden" wurden nicht entwickelt.
- Den Tierärzten machen die "Gesetze die krumme Tour leicht... Laut Arzneimittelgesetz" dürfen sie Medikamente "selbst verkaufen,... was einige Vertreter dieser Zunft weidlich zum großen Geldverdienen nutzen".
- Wenn sie "wirklich einmal erwischt werden,... dann zahlen die nur allzugern ein Bußgeld von 10.000 Mark".
- "70% des Umsatzes der Pharmaindustrie mit Tierarzneimitteln geht" direkt oder indirekt an "den Schwarzmarkt mit den illegalen Mitteln". (SPIEGEL, 44/80)
- Punkt für Punkt nur, daß die Politiker den Bauern das Geschäft mit dem Einsatz der Zuchtbeschleuniger inklusive des verbotenen Östrogens nicht verderben wollen.
Die Politiker: Der bester Verbraucherschutz...
Der Vorwurf nachlässiger Kontrolle bietet den zuständigen Figuren die treffliche Gelegenheit, sich als ausgefuchste Kontrolleure in Szene zu setzen. Gesundheitsministerin Antje Huber hält die
"bestehenden Gesetze" für "klar und eindeutig..., die strengsten der Welt",
und verweist auf die Zuständigkeit der Länder für die "überwachung und Einhaltung der Gesetze". Bayerns CSU-Tandler gibt, nicht faul, den schwarzen Peter umgehend zurück. Er hat in seinem Freistaat für "schärfere Kontrollen als anderswo" gesorgt und fordert vom Bund noch "schärfere Gesetze". Bei soviel gegenseitiger Scharfmacherei ist die kongeniale Auflösung des Streits durch das Duo Huber/Tandler nicht überraschend.
"Man kann nicht neben jedes Kalbsschnitzel (jede Kuh) einen Polizisten stellen." (Tandlers Version in Klammern)
Diese Heuchelei ernstgenommen, könnte die Polizei auch ihre Rauschgiftdezernate weitbehend auflösen! Aber der Verweis auf die Unmöglichkeit der "totalen Kontrolle" bildet ja sowieso nur den offensiven Auftakt zu der fälligen Abwiegelungskampagne.
"Man ißt nicht jeden Tag Kalbsschnitzel. Es besteht keine akute Gefahr." (Huber)
Richtig: Von einseitiger Ernährung mit Östrogenen ist abzuraten, auf die richtige Mischung mit Anabolika und Beta-Blockern kommt es an. Auch in Sachen "Drogen" ist eben eine abwechslungsreiche Kost die Garantie für Gesundheit und langes Leben!
"Auch liegen Beobachtungen über carcinogene Wirkungen beim Menschen bei solch niedrigen Konzentrationen nicht vor." (Bundesgesundheitsamt BGA, SPIEGEL, 46/80)
Weil die Wirkungsweise des DES nicht erforscht, die krebserzeugende Wirkung aber erwiesen sei, stellt ein Toxikologe des BGA fest, kein
"Wert, wie winzig auch immer, sei völlig ungefährlich", weshalb auch kein Grenzwert für eine unbedenkliche Minimaldosis aufgestellt werden könne.
Die offizielle Verlautbarung des BGA zieht aus demselben Sachverhalt die entgegengesetzte Schlußfolgerung: Da carcinogene Wirkungen bei niedriger Dosierung noch nicht "beobachtet" wurden, hat damit zweifelsfrei festzustehen, daß ihr mögliches Auftreten keinen Grund zur Beunruhigung abgibt. Dieses "minimale Risiko" ist also in Kauf zu nehmen. Aber Kreuzzüge gegen das Rauchen führen und die Tatsache, daß man soviel Gifte für zulässig erklärt hat, als Beruhigungsmittel anbieten!
...ist der Schutz des Verbrauchers vor Panikmache
Andererseits - was der Bürger nicht weiß, macht ihn nicht heiß. Da im Grunde die Sache mit den Giften schon ihre Ordnung hat, liegt die eigentliche Gefahr in der "maßlosen Übertreibung" durch die Öffentlichkeit, die den Bürgern unnötig "heillosen Schrecken" einjage: Die "Panikmache", (Tandler) der Presse ist es daher letztlich, vor der der Verbraucher in Schutz genommen werden muß. In Übereinstimmung mit den Länderministerien beschloß daher Frau Huber, um solche Ärgernisse in Zukunft von vornherein auszuschließen, von nun an
"Verstöße gegen das Lebensmittelrecht nur noch dann bekanntzugeben, wenn eine unmittelbar drohende Gefahr abgewendet werden muß."
Diesen Beschluß inopportunerweise 'bekanntgegeben' zu haben, als die öffentliche Debatte über die "drohende Gefahr" noch in vollem Gange war, war der kleine faux pas des Staatssekretärs Wolters, den er und seine Ministerin zum Anlaß nahmen, sich in bestem Einvernehmen zu trennen. Während Wolters also nicht eigentlich als Leidtragender des Skandals zu betrachten ist - "Ihm war es recht, er mochte ohnehin nicht mehr", weiß der SPIEGEL zu vermelden -, stehen als die eigentlichen Opfer inzwischen die Bauern fest. Der Preisverfall des Kalbfleischs aufgrund des "Boykotts der aufgescheuchten Verbraucher" veranlaßte die Brüsseler EG-Kommission,
"immer eine verläßliche Helferin, wenn landwirtschaftliche Erzeuger in Not sind,... mit Billigung des deutschen Landwirtschaftsministers Ertl, das von den Verbrauchern jetzt verschmähte Kalbfleisch auf Kosten eben derselben einzulagern." (ZEIT, 14.11.80)
Das entspricht den üblichen Gepflogenheiten des EG-Agrarmarktes bei "gestörten Marktmechanismen": Die 20.000 Tonnen Kalbfleisch incl. Östrogen werden solange aus dem Verkehr gezogen, bis der Verbrauch und damit die Preise wieder anziehen. Aufgrund der etwas ungewöhnlichen Umstände brach allerdings ob dieser Aktion ein Streit i n der Regierung aus, der den letzten, die praktische Maßnahme trefflich ergänzenden Akt der öffentlichen Bewältigung des Skandals bildete. Ertl machte sich einmal mehr bei den Bauern als ihr mutiger Fürsprecher beliebt; der Rest der Regierung empört sich öffentlich über diesen "Alleingang" "gegen den erklärten Willen" des Kabinetts und nimmt entschieden Partei für den "hilflosen Verbraucher". So geht eben politische Arbeitsteilung.
Erfreulicherweise zeichnet sich am politischen Horizont bereits ein Kompromiß in diesem häßlichen Streit ab, der allen Seiten gerecht zu werden verspricht. Frau Huber will nunmehr dem Östrogenskandal ein Ende setzen, indem sie trickreich durch die Aufhebung des Östrogenverbots und die Festsetzung eines Maximalwerts an Hormonrückständen den Einsatz von DES aus der 'Grauzone der Kriminalität' holt.
So können sich zuguterletzt Landwirte und Verbraucher gemeinsam an diesem Stück Lebenskraft erfreuen.