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Realer Sozialismus
KLARSTELLUNGEN ZU POLEN II
VI.
Mit der Anerkennung der Gewerkschaft "Solidarität" durch die polnische Justiz ist der Kampf um ihre Anerkennung nicht beendet, sondern auf neuer Stufe eröffnet. Und das liegt nicht daran, daß die neue Gewerkschaft sich falsche Probleme macht. Ihr Gegner, der revisionistische Staat, kann nicht hinnehmen; daß seine arbeitenden Bürger ihm seine Geschäftsgrundlage aufkündigen und als seine Kontrahenten behandelt werden wollen, wo sie doch längst zu seinen alleinigen Nutznießern erklärt sind. Daß die Staatsgewalt diesen Kampf nicht unterbindet, sondern führt, zeigt ihr Kalkül: Von der Gewinnung der neuen Gewerkschaft fürs konstruktive Mitmachen in der nationalen Ökonomie verspricht sie sich einstweilen mehr als von ihrer Unterdrückung. Diese Alternative steht ihr ja allemal noch frei.
Der Test der Partei auf die Fügsamkeit der Gewerkschaft ist negativ verlaufen. Die zwei Generalklauseln, die das Warschauer Bezirksgerichf in die Statuten hineingeschrieben hatte, die "führende Rolle" und die Streichung der Streikparagraphen zugunsten eines erst z u erstellenden Streikrechts, das die Gewerkschaft dazu beauftragt,
"die Entwicklung des Sozialismus vor der Möglichkeit einer Entartung zu schützen" (Entwurf),
sind angesichts der Streikdrohung zurückgezogen worden.
Dieser Streit war alles andere als "scholastisch", auch wenn die Gewerkschaft die "Führende Rolle der Partei" irgendwo schon zugestanden hatte. Für die Partei stand - und steht nunmehr nach wie vor - nichts Geringeres auf dem Spiel als die Geltung des Anspruchs, auf den sie ihre Herrschaft dem beherrschten Volk gegenüber begründet: der politische Arm der Arbeiterklasse und sonst nichts zu sein, also mit ihrer "führenden Rolle" jeglichen Gegensatz zwischen arbeitendem Volk und Staatsmacht grundsätzlich und endgültig aufgehoben zu haben. Es ist eben ein Unterschied, ob das staatstragende Parteienwesen den getrennt von ihm ablaufenden Klassenkampf mit Besorgnis zur Kenntnis nimmt, mit wohlwollenden Kommentaren für beide Seiten begutachtet, auf seinen Nutzen für das Wirtschaftswachstum hin taxiert und durch die abwechselnd wahrgenommene Staatsgewalt unter feste, dem "Nutzen des Ganzen" der kapitalistischen Produktion förderliche Regeln beugt; oder ob die staatstragende Partei für die nationale Produktion verantwortlich zeichnet, die Arbeitskraft des Volkes dabei ziemlich klassenmäßig benutzt und sich für dieses Geschäft auf den Auftrag der derart genutzten Massen beruft. Im ersten Fall ist die Domestizierung der Arbeiterklasse dann als gelungen zu bezeichnen, wenn diese sich in Gestalt ihrer freien Gewerkschaften als autonome, bei allen Streitigkeiten mit dem Tarif"partner", der dann auch schon mal der "Gegner" ist, verantwortungsbewußte besondere Interessengruppe aufführt. Genau dies wäre im zweiten Fall die prinzipielle Aufkündigung des Gehorsams gegen eine Staatsgewalt, die ihren Bürgern dermaßen zu Diensten sein will, daß sie die Existenzberechtigung jeglichen Sonderinteresses ihr gegenüber bestreitet. Ein Streik in der kapitalistischen Demokratie unter der Bedingung, daß er sich für "die Wirtschaft" nicht zur Schädigung auswächst, als notwendiges Kampfmittel der ausgebeuteten Klasse toleriert - bedeutet in der revisionistischen Volksdemokratie grundsätzlich unmittelbar Hochverrat. Und deswegen kann das erste Zurückweichen der polnischen Staats- und Parteispitze gar nichts anderes sein als der Auftakt zu einer einzigen groß angelegten Machtprobe mit dem Ziel, der unabhängigen Gewerkschaft das praktische Eingestandnis abzuringen, daß ihre Autonomie und ihr Recht auf Streik andererseits doch s o nicht gemeint seien.
- Klar ist damit umgekehrt für die Gewerkschaft, daß es in ihrem Kampf um den Status eines autonomen, also als eigenständig anerkannten Interessenverbandes, den die Regierung als Vertragsgegner respektiert, um alles geht - nämlich um die Alternative, dem Generalunternehmer der nationalen Ausbeutung überhaupt als Interessenverband gegenüberzutreten oder eben nicht. Der scheinbar genau gleiche Kampf um politische Anerkennung, der in einer kapitalistischen Demokratie die schrankenlose Bereitschaft eines DGB zum Inhalt hat, das vertretene "Sonderinteresse" am Gemeinwohl auszurichten, ist in Polen die prinzipielle Reklamation eines Sonderinteresses der nationalen Arbeiterklasse gegenüber dem Staat und damit der unabdingbare erste Schritt dahin, jemals etwas für dieses Interesse fordern und auch gegen den Staat durchsetzen zu können. Sie müssen darauf bestehen, daß Autonomie und Streikrecht eben genau so gemein sind. In diesem antagonistischen Streit zeichnet die polnische Staats- und Parteiführung sich bislang durch Flexibilität aus. Noch betreibt sie ihre Machtproben mit der Gewerkschaft offenkundig mit dem Ziel, das arbeitende Volk für sich zurückzugewinnen und auf diesem eleganten Weg den Gegensatz der neuen Gewerkschaft zu ihr aus der Welt zu schaffen. Ihre permanenten Tests auf die Widerstandskraft und Kampfbereitschaft der Gewerkschaft in Form von immer wieder zurückgenommenen rechtlichen Behinderungen, Verhaftungen u.a. verbindet sie mit Demonstrationen ihres guten Willens und sagt die Einrichtung der 5-Tage-Woche ab Januar 81 zu, auch höhere Löhne - was allerdings nicht viel nützt, weil dortzulande, umgedreht wie hier, der Mangel an käuflichen Gütern für die Massen größer ist als der an Kaufmitteln! - und die Verbesserung der Versorgungslage durch Rationierungen etlicher Lebensmittel. Daneben ist die Partei - in offenem Widerspruch zu allen bisher verkündeten ehernen Gesetzmäßigkeiten des unaufhaltsamen Fortschritts der sozialistischen Gesellschaft - dazu übergegangen, ihrem Volk die ökonomische Notlage zu demonstrieren und sich darüber mit ihm in ein praktisches Einvernehmen zu setzen. An "Beweisen" fehlt es ja nicht - von Kohlen über Medikamente bis zu Lebensmitteln lauter Mangelware -, man muß das nur richtig sehen, vor allem nicht als Einwand gegen die Errungenschaft der "sozialistischen Planung und Leitung" und den ausufernden Westhandel der Republik. Vorgeführt wird der Sache nach, wie man in der Wirtschafts- und Exportpolitik kalkuliert hat, nämlich über die Grenzen elementarer interner Versorgungsnotwendigkeiten hinaus, so daß jetzt tatsächlich jeder Arbeitsausfall durch Streik die Notlage vergrößert. "Schonungslos" und "in aller Öffentlichkeit" vorgeführt wird dieses erbauliche Fazit des "realen Sozialismus", damit die geliebten Arbeiter darin ihre hohe Verantwortlichkeit spüren, in nationaler Solidarität auf ihr Streikrecht verzichten und sich um ihre Führung scharen, die überdies bestrebt ist, sich von ihren unsympathischsten Mitgliedern zu reinigen und bis zu den örtlichen Parteisekretären hinunter ihre liebenswürdigsten Figuren aufzubieten. Der Deal mit der katholischen Kirche: ein Katholik in der Regierung und ein frei verkäuflicher Osservatore Romano auf polnisch gegen ein paar eindeutige fromme Klarstellungen über die Erfordernisse eines nationalkatholischen Pflichtbewußtseins, läuft ebenfalls ganz flott; und falls es in Polen Anhänger des Parlamentarismus geben sollte, so dürfen sie sich dadurch zufriedengestellt sehen, daß die Partei sich als Parlament ein Stück Kontrolle über sich als Staatsgewalt zugesteht.
VII.
Die Gewerkschaft "Solidarität" führt den ihr aufgezwungenen permanenten Kampf um ihre Anerkennung in dem falschen Bewußtsein, keinen Klassenkampf gegen die staatlich inszenierte Ausbeutung der nationalen Arbeiterklasse, sondern einen überaus konstruktiven nationalen Kampf um die Rettung ihres Heimatlandes auszufechten. Ihr immer wieder nachdrücklich bekundeter Wille, Polen z u sanieren, ist weder die heuchlerische Einkleidung eines Klasseninteresses, das sich seiner Besonderheit staatsbürgerlich schämt, noch taktisch. Wie sehr dies Grundlage und oberster Zweck ihres Kampfes ist, zeigen nicht zuletzt die Spintisierereien über den nunmehr einzuschlagenden "polnischen Weg", in denen die erstmals freigelassene Phantasie der Gewerkschaftsführer und ihrer ideologischen Ratgeber sich ergeht.
Von der christlichen Inspiration dieser Phantasie ganz zu schweigen!
Die Agitation der polnischen Regierung über die Ausweglosigkeit der Lage des Landes, aus der es nur einen Ausweg gebe, nämlich eine grundlegend erneuerte Einsatzbereitschaft der Arbeiter, stößt bei der neuen Gewerkschaft keineswegs auf taube Ohren. Leute, die im Schnitt auf jede zweite Interviewer-Frage und auch ungefragt immerzu ihren Paß zücken -
"Wir sind Polen", "Wir sind echte Polen,... wirkliche Polen" etc. -,
meinen es auch ehrlich, wenn sie auf die Streichung der zunächst auferlegten Unterwerfungsklauseln in ihren Gewerkschaftsstatuten mit dem Versprechen reagieren,
"zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen Situation des Landes beizutragen."
Und als ehrlich muß wohl auch die folgende Bekundung tiefen Verständnisses für die machthabende Gegenseite gelten:
"Wir sind uns völlig der schweren Probleme bewußt, denen die Regierung (!) gegenübersteht. Deshalb wollen wir der Regierung helfen zu überlegen, weil wir wissen, daß es keinen anderen Weg gibt."
Denn tatsächlich strengen die Gewerkschaftsführer ihren Verstand an, nicht um hinter die Gründe der "Schwierigkeiten" zu kommen, die ihnen (mitten im Kampf!) Grund für ganz viel Solidarität mit ihrer geplagten Regierung sind, sondern um sich die abenteuerlichsten Rezepte für die ihrer Meinung nach anstehende ökonomische Sanierung ihres Heimatlandes auszudenken. So gibt der hierzulande zum polnischen Nationalhelden hochstilisierte Arbeiterführer Walesa seit dem positiven Gerichtsbescheid über seine Gewerkschaft die Parole aus:
"Wir werden aus Polen ein zweites Japan machen!"
und damit deutliche Auskunft darüber, mit was für Auffassungen von der Welt revisionistisch geschulte polnische. Arbeiter ihre Auseinandersetzungen mit ihrem Staat bestreiten. Von der Ausbeutung auf japanisch hat der gute Mann in seinen Zeitungen nichts lesen können, dafür aber allerhand über die wirtschaftliche "Potenz" dieses Landes und den "Fleiß" seiner Bewohner. Und in dem Punkt glaubt er als Pole es mit den Japanern durchaus aufnehmen zu können. Das Grunddogma seiner realsozialistischen Herrschaft: daß es in der Ökonomie letztlich allein auf den Leistungswillen der Arbeiter ankommt, und die dazugehörige Ahnungslosigkeit darüber, daß noch zum verrücktesten Fleiß ein paar objektive Bedingungen hinzukommen müssen, damit die Nation in einer durch den modernen Weltmarkt ökonomisch geregelten Welt erfolgreich mithalten kann, sollen dem Arbeiteraufwand gegen revisionistisches Wirtschaften die nationale Perspektive liefern. Die Verschönerung der dazugehörigen "Produktionsverhältnisse" wird in der Phantasiewelt der neuen Gewerkschaftsführer ebenfalls nach dem revisionistischen Glaubenssatz geregelt, dem Kapitalismus seien die optimalen Leistungsmechanismen für eine vorteilhaft geplante Wirtschaft abzulauschen, und die Konkurrenz der Nationen wäre dazu da, daß eine jede sich aus den Errungenschaften der anderen ihre speziellen ökonomischen Gesetze zusammenstrickt:
"Wir könnten uns beispielsweise an bestimmte Länder wenden, die ihre landwirtschaftlichen Probleme besser gelöst haben. Wir könnten die Schweiz oder Schweden auffordern, uns bei der Landwirtschaft zu helfen. Die wären dann dafür verantwortlich, daß sie dieses Problem bei uns in den Griff kriegen. Bleibt's aber trotzdem schlecht, werden wir auch gegen die streiken. Auf der ganzen Welt wird es gegen diese Länder einen Boykott geben, weil dann klar ist, daß das schlechte Landwirte sind."
Das wird der Schweiz sicher das Genick brechen!
Immerhin bliebe dann aber noch das großherzige Angebot der US-Regierung, mit ihren Krediten auch gleich ein paar Experten nach Polen zu schicken - vielleicht sind ja Milton Friedman's Chicago Boys rechtzeitig aus Chile, England oder sonstwo zurück! -: Die "Solidarität" würde sich noch umschauen, wie weit das Kapital es inzwischen bei der profitlichen Ausnutzung wie Ignorierung des Leistungswillens nationalbewußter Untertanen gebracht hat!
Einstweilen gehen der Führungsspitze dieser Gewerkschaft aber auch so die Einfälle nicht aus: Von der plötzlichen Freiheit, sich zum Wohle Polens alles denken zu dürfen, macht sie entschlossen Gebrauch nach dem Motto: "Ich stelle mir vor...". Durch die Parteizeitung "Polityka" befragt, gaben fünf Repräsentanten der "Solidarität" zu Protokoll:
"POLITYKA: Soll die Gewerkschaft ausschließlich die Interessen der Belegschaft vertreten?
BORUSEWICZ: Ihre Aussage beweist einen gewissen Dogmatismus. Sie nehmen an, daß der Direktor gezwungen sein wird, immer mehr und mehr zu zahlen. Aber wieso? Das Modell, das Sie vorgeschlagen haben, ist nicht richtig, denn der Direktor hat seine Grenzen... Ich nehme an, daß unser Mechanismus dahingehend geändert werden muß, daß der Direktor den Arbeitern sagen kann, hört, wir können bankrott gehen.
WALESA: Genauso ist es, ein staatlicher Direktor, aber auch ein solcher, der private Entscheidungen fällen kann.
POLITYKA: Glauben Sie, daß unser System die Möglichkeit zum Bankrott enthalten muß?
WALESA: Nicht die des Bankrotts, nur daß der Direktor sagen kann, was er kann und für wieviel er das kann.
POLITYKA: Aber wenn er nicht kann, wenn er an die Grenze der Rentabilität gelangt?
WALESA: Wer ist für wen da? Wer muß sich wem anpassen? Wir an diese Verhältnisse, die jemand nicht ändern will, oder die Verhältnisse an unsere Forderungen? Sollen wir, die Arbeiter, sie verändern?
BORUSEWICZ: Die Unternehmen müßten eine viel größere Selbständigkeit haben, aber das ist meine Privatmeinung.
POLITYKA: Was soll im Extremfall, wenn der Bankrott droht, den Betrieb und die Arbeiter retten?
WALESA: Wir sind am wenigsten dazu berufen, Vorschläge zur Wirtschaftsreform zu machen...
POLITYKA: Was nennen sie absurd? Daß niemand kompetent ist oder daß alle Besitzer sind?
GWIAZDA: Das bisherige System hat zwischen beiden Phänomenen eine enge Verbindung hergestellt.
POLITYKA: Welche Lösung stellen Sie sich vor? Eine Reprivatisierung?
BORUSEWICZ: Nein, eher schon eine Vergesellschaftung.
GWIAZDA: Aber nein. Das stelle ich mir nicht so vor. Dann müßte die Belegschaft entscheiden, was produziert wird und was nicht... Wäre nicht eine fähige Administration besser, die den Eigentümer repräsentiert? Etwas in der Form eines sozialistischen Konzerns, dessen Arbeiter die Aktionäre sind...
POLITYKA: In einer rational geführten Wirtschaft müßten viele der heute in unseren Unternehmen Beschäftigten als Überschuß ausgestellt werden.
WALESA: Wieso: Man kann den Arbeitstag auf vier Stunden kürzen...
GWIAZDA: Ich kann mir eine gesunde Wirtschaft nicht vorstellen, in der Hände und Köpfe nicht für die Arbeit gebraucht werden.
POLITYKA: Und der Westen?
GWIAZDA: Daß im Westen Arbeitslosigkeit herrscht, beweist, daß das eben nicht das beste Modell ist...
POLITYKA: Sie werden aber doch zugeben, daß bei einer guten Arbeitsorganisation ein Teil der Leute entweder ausgestellt werden muß oder man ihnen eine andere Arbeit geben, d.h. daß man investieren muß.
WALESA: Das durchschnittliche Alter des Landwirts beträgt zur Zeit 63 Jahre. Das Dorf braucht Leute... Uns droht doch gar keine Arbeitslosigkeit. Im Bauwesen werden Leute gebraucht, in der Landwirtschaft werden Leute gebraucht.
POLITYKA: Aber man muß sie doch für diese Arbeit ausbilden, man muß doch investieren und dafür gibt es kein Geld.
WALESA: Heute haben wir kein Geld, aber morgen.
POLITYKA: Morgen, aber die Leute müssen heute essen.
WALESA: Warum sollte man sparen, indem man Leute entläßt?...
BORUSEWICZ: Es muß jetzt einfach eine Veränderung eintreten. Die Elemente, die die gesellschaftliche Initiative gebremst haben, werden immer weniger, obwohl sie noch nicht ganz eliminiert sind... Die Gesellschaft wird gut arbeiten, wenn sie nur eine Perspektive hat. Diese Perspektive beginnt sich jetzt abzuzeichnen, aber sie ist immer noch nicht klar...
GWIAZDA: Zuerst muß man unsere Wirtschaft von Lügen befreien, von dem ganzen Haufen von Unsinn und Entstellungen, erst dann kann man auf Ihre Fragen antworten."
Wo sich eine redliche revisionistische Ignoranz darüber, wie eigentlich Imperialismus, Ost-West-Handel, Ausbeutung im Betrieb, Akkumulation und Arbeitslosigkeit gehen, mit so viel unbedingtem Willen zu einem konstruktiven "Lösungsvorschlag" verbindet, da ist es am Ende nur konsequent, wenn die Arbeiterführer dann doch lieber davon Abstand nehmen, mit ihren Einfällen für das Funktionieren der nationalen Ökonomie verantwortlich gemacht zu werden, in kämpferischer Bescheidenheit ihre Nichtzuständigkeit für solche Angelegenheiten erklären und damit ihre feste Absicht bekunden, ihren eigenen Gegensatz zu ihrer Regierung tatsächlich bloß als Optimierungsproblem der ökonomischen Planung und Leitung zu betrachten, also ganz entschieden nicht ernst z u nehmen:
"Wir sind Polen, verantwortungsbewußte Polen. Wir drängen uns nicht zum Regieren. In dieser Hinsicht haben wir am wenigsten zu sagen. Dafür gibt es Fachleute wie Juristen und wir machen ja sogar Rechtschreibfehler, wir sind doch Arbeiter. Wir wollen keine Beamten sein, sondern Werktätige, nur Kontrolleure. Wir wollen ordentlich arbeiten und kontrollieren. Wieviele jener Aktivisten, die einst Arbeiter waren, sind hoch nach oben gekommen und zu großen Tieren geworden. Wollt ihr uns wieder auf dieses Gleis drängen?"
Aus dem soeben im Gegensatz zur Regierung wiederentdeckten Klassenbewußtsein wird so im Handumdrehen die Vorstellung einer prinzipiell harmonischen gesellschaftlichen Arbeitsteilung; die Gegensätze zur politischen Herrschaft kürzen sich auf die radikale Forderung zusammen, diese sollte ihre Arbeit so richtig fachmännisch tun. Das wollen diese Gewerkschaften kontrollieren, und vom Ergebnis der Kontrolle ihr Vertrauen abhängig machen. Und so gesehen erscheint das Unterfangen der polnischen Regierung, eben jene Arbeiterklasse, die ihr sehr militant das Prinzip revisionistischen Gehorsams aufgekündigt hat, auf dem Weg über ihren dummen Nationalismus wieder für sich zu gewinnen nicht einmal aussichtslos.
Zumal der Glaube bei den Führern (Walesa mag die Pille nicht!) wie bei den Massen eine nicht zu unterschätzende Unordnung in den Gedanken schafft. Die nationale Haltung der aufbegehrenden Arbeiter ist ja schon schlimm genug - aber daß sie gleich noch in katholischem Gewande auftritt, verheißt überhaupt nichts Gutes.
VIII.
Der Vorwurf der "sozialistischen Bruderstaaten" Polens, die Gewerkschaft "Solidarität" sei von antisozialistischen und prowestlerischen Kräften durchsetzt, besteht vor und unabhängig von all den nationalbewußten Spinnerein des polnisch-revisionistischen Arbeiterbewußtseins, an denen er sich nach Belieben bestätigen kann. In Vorwürfen dieser Art und entsprechenden Mahnungen an die zuständige Staatsführung teilen die um den Bestand ihres Bündnisses besorgten Nachbarn den Polen mit, daß auch sie die Kalkulation anstellen, bis zu welcher Grenze die neue Opposition in Polen für sie noch tragbar ist, und daß sie sich bei dieser Kalkulation keineswegs von derjenigen der polnischen Regierung auf alle Fälle abhängig machen. Genau diesen Umstand nützt die Regierung wiederum für ihren Kampf um die konstruktive Vereinnahmung der Gewerkschaft aus: Im Namen der Unabhängigkeit Polens werden Kania und Walesa sich über das unerläßliche Maß an "Mäßigung" letztlich einig.
Während Regierung und Gewerkschaft in Polen sich über ihren antagonistischen Gegensatz hinweg auf ein verrücktes nationalistisches Arrangement (unter dem Segen des Papstes) hinarbeiten, bemerken die benachbarten Bruderparteien die fortschreitende Auflösung eherner Prinzipien des "Marxismus-Leninismus". Und während die polnische Partei- und Staatsführung einstweilen noch auf die Gewinnung ihrer abgedrifteten Untertanen im Namen Polens setzt, fällt ihren revisionistischen Kollegen ringsum laufend der alte Kalauer von der "Verschwörung antisozialistischer Kräfte" und von "westlicher Subversion" ein, mit dem der Glaube an die automatische "Haupttendenz" der Welt Richtung Sozialismus sich seit jeher jeglichen Rückschlag erklärt. Wie sonst ließe sich auch der Glaube aufrechterhalten, den die polnischen Arbeiter gerade dementieren, daß nämlich die exklusiv und unmittelbar staatliche Verwendung der nationalen Arbeiterklasse diese lückenlos mit ihrer Herrschaft versöhne und für Differenzen und Gegensätze keinen Raum mehr lasse -? Die einstweilen noch bloß ideologischen Angriffe aus anderen "Ostblock"-Ländern auf den Gang der Dinge in Polen haben also keineswegs ihren Grund in all dem, worauf sie sich als Beleg berufen können: den allzu betont uneigennützigen Spenden westlicher Polenfreunde; der Unbefangenheit, mit der Mitglieder der "Solidarität" sich vom westlichen Fernsehen als Kronzeugen gegen den "Kommunismus" und für die "demokratischen Freiheiten" vorführen lassen; den reformkapitalistischen Idiotien, die sie in ihre phantasievollen Zukunftsentwürfe einbauen; usw. - sie legen ihren Mahnungen an die polnische Adresse ja auch keine Argumente bei, mit denen die Polen von etwaigen Sympathien für die westliche Ausbeutung abzubringen wären. Stattdessen kündigen sie darin auf wenig elegante Weise einen möglichen gemeinsamen Besuch an, dessen Zweck natürlich auch nicht die Aufpolierung des revisionistischen Weltbildes ist. Sie kalkulieren - in unterschiedlichem Maße - mit Polen als ausnutzbarem Bündnispartner und können es unter diesem Gesichtspunkt nicht besonders vertrauenerweckend finden, daß die zuständige Regierung offenbar nur noch bedingt Herr der Lage im eigenen Land ist. Wann sie die Zeit gekommen sehen, der polnischen Partei bei der Wiederherstellung ihrer Souveränität gegen ihr Volk behilflich zu sein, richtet sich daher auch nur einerseits nach dem Erfolg der innerpolnischen Doppelstrategie der Machtproben und der Vertrauenswerbung. Der übergeordnete Gesichtspunkt ist der: wie dringlich Polen als Bündnispartner im Warschauer Pakt gebraucht wird.
IX.
Für den Westen ist der Kampf der Gewerkschaft "Solidarität" um staatliche Anerkennung nicht bloß ideologisch ein Knüller. In gut imperialistischer Gleichgültigkeit gegen die Absichten und Risiken der polnischen Gewerkschafter nutzt er deren Kampf politisch als erstklassigen Anlaß, der Sowjetunion auch innerhalb ihres eigenen Machtbereichs Rücksichtnahme auf das Mitspracherecht abzupressen, das er sich herausnimmt. Mit ihren Nicht-Einmischungsdrohungen machen die engagierten NATO-Größen von Schmidt und Genscher bis Giscard und Reagan aus der Krise des polnischen Revisionismus einen ersten markanten Schritt hin zum Zerfall des "Ostblocks".
Daß die Sowjetunion und ihre Verbündeten anläßlich des polnischen Gewerkschaftsstreits gleich um das weltweite "Kräfteverhältnis" fürchten - und zwar zu Recht! -, liegt weder an den Zwecken dieser Gewerkschaft noch an ihren amerikanischen Kopierapparaten. Die Sache ist härter. Noch ohne - bislang - zusätzliche Fregatten in die Ostsee entsandt zu haben, ergreifen die führenden NATO-Staaten, flankiert durch fast gleichlautende Friedensmahnungen aus Jugoslawien und Schweden, die Unruhen in Polen als hervorragende Gelegenheit, ihre politische Zuständigkeit für das Herzland des Warschauer Pakts zu reklamieren: Sie verlangen kategorisch von allen Beteiligten "Nicht-Einmischung", "Zurückhaltung" sogar von der polnischen Regierung selbst, und stellen mit allem diplomatischen Nachdruck ihren Willen heraus, eine "Einmischung von außen" in Polen "nicht hinzunehmen". Diese eindeutige Drohung bezieht sich zwar auf die Zukunft, tut ihre politische Wirkung aber durchaus aktuell. Im Unterschied zu den längst vergangenen Zeiten des "Kalten Krieges" wird da ja nicht mehr bloß auf den sowjetischen Hauptfeind geschimpft, sondern ihm ganz offiziell die Souveränität bestritten, in seinem "Völkergefängnis" für Ordnung zu sorgen. Offenbar ist vom Westen her der "Eiserne Vorhang" schon längst kein Hindernis mehr, um jenseits desselben Respekt vor NATO-Machtworten zu fordern. Zumal der Westen ja inzwischen in den West-Schulden seiner östlichen Handelspartner und in deren selbstgeschaffenen Import- und Exportnotwendigkeiten über sehr zugkräftige vormilitärische Erpressungsmittel verfügt. Die Sowjetunion vor einer "Einmischung" innerhalb ihres eigenen Machtbereichs zu warnen, zeigt nicht bloß, wie viel die Führungsmächte der freien Welt sich inzwischen herausnehmen können; das ist ein politischer Eingriff in den Zusammenhalt des "Ostblocks".
Und damit ist diese Warnung das genaue Gegenteil einer förderlichen Maßnahme zur Sicherung der Gewerkschaftsautonomie in Polen oder friedlicher Verhältnisse in Europa. Eben weil sie eine politische Schwächung der engsten und festen politischen Einflußsphäre der Sowjetunion ist und sein will, provoziert sie genau die Gegenmaßnahmen der östlichen Führungsmacht zur Stabilisierung ihres Bündnisses, gegen welche die Drohung sich richtet. Sie erzielt somit einen politischen Effekt, der die "Notwendigkeit", sie demnächst einmal in nicht mehr "bloß" politischer Form wahr werden zu lassen, wieder ein Stück näher rückt. So macht man sich - als Polenfreund heute - um Frieden und Menschenrechte verdient, Frohe Weihnacht!