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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1980 erschienen.

Systematik

Tarifrunde '81
DIE ERSTE OFFIZIELLE MINUSRUNDE

Die Auffassung, daß der Lohn ein Geld ist, von dem eine gewisse Sorte Menschen ihren Lebensunterhalt bestreiten muß, ist in der Republik ausgestorben und die Unsitte, dieses Geld daran zu messen, wieweit es für diesen Zweck taugt, ebenso. Ignoriert wird der Lohn aber keineswegs, im Gegenteil: alljährlich wird er unter lebhafter öffentlicher Anteilnahme verhandelt. Diese Veranstaltung heißt Tarifpolitik und sorgt dafür, daß die korrekte Verwaltung der Lohnempfänger den sozialen Frieden garantiert und der Lohn andererseits für die Kalkulation "unserer" Wirtschaft kein Hemmnis wird, sondern ganz und gar Instrument unternehmerischer Politik sein kann.

In diesem Geschäft ist der DGB sehr erfolgreich und baut jedes Jahr auf seinen Erfolgen weiter auf. So hat das Rezept der vorvorletzten Tarifrunden - keine "bloßen" Lohnrunden, sondern auch "qualitative" Forderungen mit dem Resultat kontinuierlicher Reallohnverluste - die Grundlage dafür geschaffen, im letzten Jahr den Lohn wieder einmal zum Herzstück gewerkschaftlicher Politik zu erklären und auf diese Weise für die Mitglieder die Zuständigkeit der Gewerkschaft für ihre Sorgen, wie sie unter deren tatkräftiger Mitwirkung zustandekommen, zu bekräftigen. Genial war dabei der Einfall, die Lohnforderungen zu berechnen, und zwar nicht aus gestiegenen Mieten, Stromrechnungen etc., sondern aus gesamtwirtschaftlichen Daten. Nicht deshalb, weil die deutschen Arbeiter die Konjunkturberichte studieren und man daher so mit ihnen argumentieren muß, sondern weil dies die alte gewerkschaftliche Sichtweise, den Lohn in einer Landschaft zu betrachten, so schön methodisch zu der Vorführung ausgearbeitet hat, wie man korrekter- und verantwortlicherweise den Lohn zu allerlei Größen in Relation zu sehen = zu relativieren hat. So eindrucksvoll wie diese Formel geraten ist, taugt sie natürlich hervorragend zum weiteren Gebrauch in diesem Jahr. Dieses Mal nämlich geben die Daten, richtig behandelt, die Handhabe für die erste Lohnrunde als offizielle Minusrunde. Den Auftakt dazu bildet die

Gewerkschaftliche Panikmache

Im Einvernehmen mit sämtlichen Wirtschaftsgutachtern prognostiziert die Gewerkschaft für 1981 die Krise: "Schwere Zeiten" kommen auf uns zu. Daß allenthalben bis zum Gehtnichtmehr geschuftet wird, daß die Produktion von Arbeitslosen im Zuge generalstabsmäßiger Rationalisierungsprogramme erfolgt und keineswegs infolge einer Rezession, braucht nicht beachtet zu werden. Die Stahlregelung, die Rationalisierungen in der Autobranche, DM-Kurs, Leistungsbilanzdefizit - alles taugt als Krisensymbol. Der Entschluß und die propagandistische Ankündigung der Kapitalvertreter, im nächsten Jahr 300.000 bis 400.000 zusätzliche Arbeitslose zu produzieren und damit die Reservearmee aufzustocken, wird von der Gewerkschaft nicht angegriffen, nicht mit Gegenmaßnahmen bedroht, nicht einmal mit dem Wort 'unsozial' bedacht und noch nicht einmal als Panikmache getadelt. Die Gewerkschaft gibt die Ankündigung, mit ihrer Zustimmung versehen, an die Mitglieder weiter, an die zukünftigen Arbeitslosen, die sich jetzt noch voll an "ihrem" Arbeitsplatz verschleißen dürfen, und "erwartet" für 1981 "zusätzliche beschäftigungspolitische Probleme".

Daß Arbeitslosigkeit eine nützliche Einrichtung des Kapitals ist, weiß man ja schon seit längerem. Daß sie aber auch für die Gewerkschaft zur Abwicklung der Tarifrunde taugt, und zwar nicht die, die es gibt, sondern nunmehr bereits die, die geplant wird, das ist wirklich eine moderne Errungenschaft. So erntet der DGB die Früchte seiner Arbeit: Seit mit der 75er Krise die Arbeitslosigkeit zum Problem Nr. 1 erklärt und damit die Gewöhnung an diesen Sachverhalt erreicht wurde, ist die theoretische Definition der Vollbeschäftigung auch zum praktisch anerkannten Faktum gemacht worden. Dieses Mittel der Kapitalakkumulation taugt jetzt zum Beleg für die Krise, die die Gewerkschaft auf diese Weise - ganz konjunkturunabhängig - zur Dauereinrichtung für die Arbeiter macht. In der Krise: lohnpolitische Zurückhaltung; im Aufschwung: lohnpolitisch muß die Krise erst überwunden werden; im Boom: den Aufschwung nicht gefährden; immer noch im Boom: nicht die Krise provozieren; immer noch im Boom: die kommende Krise bewältigen. Die vorgezogene Krisenbewältigung dieses Jahres ist reif für den Friedensnobelpreis.

Also: "Schwere Zeiten kommen auf uns zu", und in völliger Übereinstimmung mit den Wirtschafts(wunsch)prognosen von Kapital und Staat steckt die Gewerkschaft für ihre Mitglieder den Rahmen ab, in dem sich die diesjährige Tarifrunde bewegt: mit der umstandslosen Übernahme der Untemehmerdrohung, jede Lohnerhöhung mit ein paar weiteren 100.000 Entlassenen beantworten zu müssen, wird klargestellt, daß dieses Jahr nicht einmal dem Schein nach um mehr Lohn verhandelt wird.

Eine Tarifrunde ist aber eine Tarifrunde, und da wird um den Lohn gekämpft. Also gehört ein Streit her; und die konjunkturpolitische Einigkeit mit dem Feind, den Lohn dieses Mal rein als zu verringernden Kostenfaktor zu verhandeln, muß mit der Form der Auseinandersetzung versehen werden.

"Wir lassen uns unseren Schneid nicht abkaufen"

1. Die Abteilung "Angriff auf die Tarifautonomie" wird dieses Jahr nicht mit der Lohnprognose der Gutachter erledigt, deren Zahlen will man ja teilen. Empören muß man sich dieses Jahr über die Tatsache, daß die andere Seite u früh angefangen hat,

"bevor die Forderungen innerhalb der Gewerkschaft diskutiert sind." (IG Metall)

Ist ja auch wirklich gemein.

2. wird dem Gegner ganz scharf an den Karren gefahren. Seine konjunkturpolitische Behandlung des Lohns ist falsch. Nicht deshalb, weil die Arbeiter davon leben müssen, was ihnen laufend allerlei Kunststücke von der Art "sich einteilen" abverlangt, sondern konjunkturpolitisch ist es ein Fehler: Da wird von Lohnkürzungen viel u viel erwartet, lautet der gewerkschaftliche Protest:

"Die gewerkschaftliche Tarifpolitik kann solche Maßnahmen (zur Stützung der Konjunktur) nicht ersetzen, sondern nur flankieren."

Das ist die Kunst der Dementis! Von früher so beliebten Kaufkraftargumenten, die den Lohnverlusten den Anschein eines wirtschaftspolitisch verantwortungsbewußten Lohnzuwachses verleihen sollten, wird dabei offen als Ideologie Abstand genommen: Als erstes erklärt die Gewerkschaft die Rezession mit mangelnder Kaufkraft, ohne dann auch nur pro forma dieses ihr Rezept zur Abwendung der Rezession anzubieten.

3. hat das Kapital die diesjährige Runde angefangen: Entweder mit der Forderung, die Tarifrunde für ein halbes Jahr ausfallen zu lassen (Stahl), oder mit dem Angebot, höchstens den sogenannten Produktivitätszuwachs von "objektiven 2,5 bis 3%" sich abringen zu lassen. Das geht nicht, das können wir uns nicht bieten lassen, "lohnpolitischer Katastrophenkurs". Ein Riesenstreit läßt sich darüber führen, daß eine "Nullrunde" nicht in Frage kommt, daß nicht der Produktivitätszuwachs allein (der auf diese Weise natürlich auch zum gültigen Kriterium avanciert, was immer er seiner ökonomischen Natur nach sein mag), sondern die Inflationsrate als zweite Größe berücksichtigt werden muß. Der Rahmen für die Tarifrunde 81 also bereits abgesteckt, weil es schon ein Sieg der Gewerkschaft ist, wenn sie die Unternehmerseite überhaupt zu Lohnverhandlungen zwingt. Auf dieser Grundlage wird dieses Jahr die geballte gewerkschaftliche Macht für den "vollen Inflationsausgleich" eingesetzt, für ein Ziel also, das angefangen vom "voll" bis zum "Ausgleich" eine einzige Lüge ist. Denn das, was dieses Ziel bedeutet und was schon die letzten Tarifrunden geleistet haben: die kämpferische Durchsetzung einer Reallohnminderung, läßt sich "aus optischen Gründen" schlecht zur Kampfparole machen.

Der "Ausgleich" ist einer für die prognostizierte Inflation im Jahr 81 von 4,5 bis 5,5 Prozent - unter diesem Titel firmieren also die gesamten Lohnverluste durch die 80er Inflationsrate, durch all das, was in die offizielle Inflationsrate nicht eingeht bzw. durch deren interessierte Berechnung gedrückt wird, und durch die gesammelten "Sparmaßnahmen" der Bundesregierung, die ab sofort die gewerkschaftliche Klientel mit voller Wucht treffen. War es der IG Metall letztes Jahr immerhin noch ein "Argument" wert, die sog. "importierte" Inflation und Mehrwertsteuererhöhung aus dem damaligen "Inflationsausgleich" auszuklammern, wird dieses Jahr über so etwas gar nicht gesprochen. Mit ihrer Krisenagitation ist das auch schon miterledigt, da ist gleich auch noch die staatliche Haushaltspolitik stillschweigend in die "schweren Zeiten" miteingeschlossen. Dafür, daß unser Staat zur Zeit seine Prioritäten ordnet, Sparen fürs Militär auf die Tagesordnung setzt und dies mit erhöhten Zahlungen seiner arbeitenden Bürger finanziert, hat die Gewerkschaft so viel Verständnis, daß davon nicht einmal mehr als Höherbelastung der Lohnempfänger im Rahmen der Tarifrunde gesprochen wird.

Gekämpft wird also um diesen "vollen Ausgleich", und das heißt nach den Regeln der Tarifautonomie, daß die als solche behauptete Prozentforderung als Ausgangsforderung zum Herunterrechnen fungiert, denn Kämpfen geht ja nicht ohne beiderseitiges Nachgeben. "Voller Inflationsausgleich" ist also im Resultat alles, was sich von den 2,5% der Untemehmer unterscheidet.

4. Kämpfen muß sein. Also: Verhandeln, Warnstreiks, verhandeln, eventuell Streiks, verhandeln, Nachtsitzung mit mühsamem Kompromiß, der sich aber sehen lassen kann. Ein Sieg der Gewerkschaft in jedem Fall, nicht wegen des Ergebnisses, sondern weil die inszenierte Abfolge beweist, daß mehr nicht drin war und alle Möglichkeiten ausgeschöpft worden sind.

Eine Tarifrunde ist eine Tarifbewegung

Nicht vergessen werden darf natürlich die innergewerkschaftliche Demokratie: die Basis muß mitwirken. Nach der generellen Klarstellung, wie es um "unsere" Wirtschaft steht, ist der Rahmen für die betriebliche und bezirksmäßige "Ermittlung" der Lohnforderung klar, mit Forderungen über 10% kann man sich nur noch lächerlich machen. Dann wird gesammelt und gewichtet, bis das vorher beschlossene Ergebnis als Forderung der Basis dasteht. Die weitere Mitwirkung der Mitglieder besteht in bunten Gewerkschaftszetteln, die je nach Stand der Dinge auf einmal massenhaft im Betrieb auftauchen mit harten Sprüchen wie "Ruhrmagnaten", "Schlotbarone" etc. und je nach Streikstrategie in ein paar Stunden oder Tagen Ausstand, bis die Bezirksleitung anruft und sagt, daß Schluß ist.

Daß so etwas möglich ist

ist offensichtlich keine Frage. Dazu gehören zwei Seiten, die Kunst gewerkschaftlicher Politik unterstellt natürlich die Bereitwilligkeit der Mitwirkenden an der Basis. Die Entscheidung der deutschen Arbeiterklasse, ihren Beitrag zum Lohn durch ganz viel Arbeit zu leisten, überläßt der Gewerkschaft den Streit um den Lohn ganz als Mittel für deren politische Ambitionen. Die Beurteilung von Zwecken, Bedingungen und Formen des Streits obliegt gänzlich deren Politik, und beurteilt werden deren Erfolge anhand der Maßstäbe, die sie setzt. Und wenn gerade angesichts der diesjährigen Tarifrunde, die ganz öffentlich den "notwendigen" Abzug vom Lohn verhandelt, der Verdacht aufkommt, ob denn die Arbeiter nicht gleich auf diese Institution verzichten könnten, so ist das nicht ganz unberechtigt. Nur, die Gewerkschaft kann darauf nicht verzichten: In regelmäßigen Abständen muß die Basis daran erinnert werden, daß sie eben die Basis der gewerkschaftlichen Macht ist, indem ihr die Zuständigkeit der Gewerkschaft für die Sorgen eines Arbeiterlebens praktisch vorgeführt wird. Kein deutscher Arbeiter kommt an seiner Gewerkschaft vorbei, die ihm die Anerkennung seiner selbst als eines sozialen Problems verschafft, und dies muß doch Grund genug sein, die Pflichterfüllung als Basis fortzusetzen.