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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1980 erschienen.

Systematik

Armut in der BRD
DER ARBEITSTAG

Es gab einmal jemanden, der handelte das Kapitel Arbeitstag unter der generellen Überschrift "Die Produktion des absoluten Mehrwerts" ab, der hatte eine ziemlich grundsätzliche Kritik daran, daß die kapitalistische Produktionsweise die Tage und Nächte, die der Arbeiter zu leben hat, in den Dienst ihrer Gewinnmaximierung stellt:

"Das Kapital ist daher rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird." (MEW 23, 285)

So redet niemand mehr über den Tag, dem sein Attribut "Arbeit" die Qualität verleiht. Nachdem die Kapitalisten vor lauter sozialer Einstellung nicht umhin konnten, so frei zu sein, sich von den um ihre Existenz kämpfenden Arbeitern den "Normalarbeitstag" abringen zu lassen, hat man allgemein beschlossen, die Ausbeutung irgendwann zu Beginn des 20. Jhrhunderts für beendet zu erklären. Zwar ist es weiter "normal", daß der Arbeitstag, der eigentlich acht Stunden dauert, durch Überstunden, Schicht- und Nachtschichtarbeit und Samstagsarbeit verlängert wird, aber der "unmenschliche" Zwang frühkapitalistischer Methoden soll vorbei sein. Ganz, ganz viel Zeit gehört Vati der Familie. Zwar kann man an der Konstitution schon des 45-jährigen Arbeiters ausrechnen, wieviel Zeit dieser Mann in der Fabrik verbracht hat, aber eigentlich und im Vergleich könne sich doch wirklich niemand beklagen..., sagen alle der mehr oder minder direkt an dieser segensreichen kapitalistischen Erfindung "Arbeitstag" Beteiligten.

I. Die Unternehmer

machen sich und der Welt am wenigsten vor. Der Arbeitstag gehört ja selbstverständlich ihnen - sie lassen sich den lohnenden Gebrauch der persönlichen Träger von Arbeitszeit schließlich etwas kosten. Und diese Kosten sollen sich für sie lohnen. Deshalb kontrollieren sie mit Stechuhr, Lichtschranken und Aufsichtspersonal die Arbeitszeit ihrer Belegschaft, setzen jede neue Maschine als Zwangsmittel für eine möglichst intensive Verausgabung der Arbeitszeit ein, lassen durch Arbeitswissenschaftler jede Tätigkeit bis in die einzelnen Bewegungselemente zerlegen, um jeden "unnötigen" Kraft- und Zeitaufwand einzusparen, und stacheln mit Prämien die Arbeiter dazu an, ohne Pausen und Fehlzeiten ihrem Arbeitgeber zur Verfügung zu stehen. Kämpfen sie auf der einen Seite um jede Minute ihres Personals, schaffen sie auf der anderen ein Millionenheer von Arbeitslosen, die nur noch Freizeit haben. In diesem Sinne machen sie die jeweiligen Erfordernisse ihres Geschäfts im Umgang mit der Arbeitskraft als Sachzwänge geltend: Extensive und intensive Nutzung des Arbeitstags muß sein! Um die argumentative Ausschmückung dieses Dogmas sind sie deshalb nie verlegen. So braucht's halt einfach

a) Überstunden - wegen gestiegener Aufträge,

b) Kurzarbeit -wegen mangeliider Aufträge,

c) Schichtarbeit - wegen der Aufträge und weil nachts die Hochöfen nicht ausgehen dürfen.

d) Arbeitslose - wegen mangelnder Aufträge, die Entlassungen unumgänglich machen.

Mit ihren Klagen über die vielen arbeitsfreien Tage, die ihnen auf der Tasche liegen und die Effektivität der Unternehmen beeinträchtigen, sprechen Unternehmer gelassen die von Marx kritisierte kapitalistische Wahrheit aus:

"Konsumiert der Arbeiter seine disponible Zeit für sich selbst, so bestiehlt er den Kapitalisten." (MEW 23, 247)

Bei jeder Forderung nach Verkürzung der Arbeitszeit hat der Unternehmer sein schlagendstes Argument parat: die Konkurrenzfähigkeit des Betriebs im In- und Ausland. Offen dem fatalen Zwang zum Gewinnemachen ausgeliefert, haben die Kapitalisten den Arbeitstag natürlich nicht für die Arbeiter eingerichtet. Für dessen ständigen Ausbau sowie seine Neuaufteilung haben nicht die werten Herren Besitzer von Arbeitsplätzen zu befinden, sondern die, die sie eingerichtet haben, damit sie sinh rentieren: "Arbeitsplätze sind nicht beliebig teilbar".

Und die Reduzierung der Arbeitszeit auf 35 Stunden in der Woche schaffe erst recht keine Arbeitsplätze, während die 40-Std.-Woche wohl Arbeitsplätze en masse hervorbringt. So ist der normale Arbeitstag, der immer gerade so lange dauert, wie die Kapitalseite es für nötig erachtet, ein einziger Segen für die, die auf solche "Angebote" angewiesen sind, weil sie Arbeiter sind.

II. Die Arbeiter

sehen zu, wie sie mit ihrem Arbeitstag zurechtkommen. Sie gehen in die Fabrik und tun, was von ihnen verlangt wird. So machen sie

a) Überstunden - und sagen: "Scheiße; aber immerhin mehr Geld, das ich brauchen kann",

b) Kurzarbeit - und sagen: "Scheiße; aber immerhin mal weniger Arbeit und mehr Freizeit, in der ich mich erholen kann', c) Schichtarbeit - und sagen: "Scheiße; aber immerhin halte ich das für eine gewisse Zeit schon durch."

Auf diese Weise trägt sich das Arrangement des Arbeiters mit dem praktischen Tatbestand vor, daß die zeitliche Ausdehnung der Arbeit, die den Lohn erhöhen soll, um die Reproduktion zu gewährleisten, diese gerade einengt. Ganz individuell wägt er das Verhältnis von Verdienst und Zeitaufwand ab, gerade so als ob mit diesem Verhältnis nicht von vornherein entschieden wäre, daß er mit Haut und Haar von seiner Vernutzung während des Arbeitstags abhängig ist. Das Verhältnis von Zeit und Geld ist eben nicht eines, bei dem er sich lässig entweder auf die eine, oder auf die andere Seite schlagen könnte. Er hat ja nur so nette Alternativen wie die, für seinen Weg zur Arbeit sich entweder ein Auto anzuschaffen, um Zeit zu sparen, oder eine längere Zeit in den öffentlichen Verkehrsmitteln zu verbringen, um Geld zu sparen; entweder eine Wohnung in der Nähe seines Arbeitsplatzes zu suchen, auch wenn sie mehr kostet, oder morgens um 4 Uhr vom eigenen Häuschen auf dem Land zum Arbeitsplatz zu pendeln.

Ebenso ist für sein häusliches Glück die Frage längst prinzipiell geklärt, wie er hier seine Zeit einteilt: Essen und Schlafen muß er, um den folgenden Arbeitstag spritzig angehen zu können, was die Gestaltung seiner Freizeit mit Unterhaltung und sonstigen Vergnügungen vorab beschränkt, sich andererseits jedoch auch als periodische Rücksichtslosigkeit gegen diesen Zwang, für den Arbeitstag zu leben, geltend macht und sich dann erst am Tag nach dem Besäufnis in der Fabrik an ihm rächt.

Wenn bei denen, für die der Arbeitstag die Mitte des Lebens ist, die Vorstellung existiert, durch Arbeit könne man es doch "zu etwas bringen", obwohl dieses Etwas nach jedem Arbeitstag nicht Reichtum für sie heißt, dann entlarvt sich diese als eine reichlich verlogene Behauptung, die das ständige Scheitern des Versuchs des Arbeiters verdeckt, sich aus seiner Misere herauszuarbeiten. Leicht verrückt ist daher auch der dieser Realität trotzende Stolz des Arbeiters, er komme zurecht dank der hohen Kunst, einteilen zu können, was er - an Zeit und Geld aus sich herausgeschunden - einteilen muß.

Da gibt es auch welche, denen der Arbeitstag und der Stolz auf die eigene Brauchbarkeit so sehr in Fleisch und Blut übergegangen ist, daß sie mit 65 und nach 50-jährigen Arbeitstagen Entzugserscheinungen bekommen, "nicht mehr ausgefüllt" sind, und genußunfähig gemacht den alten Zeiten nach trauern:

"Damals gehörte ich noch nicht zum alten Eisen!"

"Das waren noch Zeiten, in denen man neben der Arbeit noch ein Glas Bier vertragen konnte."

III. Die Gewerkschaft

sieht im Arbeitstag eine Errungenschaft, die verteidigt werden muß. Schließlich hat sie in ihren Tarifverträgen die vielen Arbeitstage deutscher Proleten längst zur eigenen Zufriedenheit geregelt. Und das nicht nur, was die Länge des Arbeitstages betrifft: Jede Tätigkeit ist auf eine Handvoll Bewegungen reduziert, die Zeiten dafür sind festgeschrieben, und der Kraftaufwand ist bewertet. Und der beständig notwendige Streit um die Neufestsetzung liefert Betriebsräten und Gewerkschaften das Material, ihre institutionalisierte Besorgnis über "soziale Probleme" zu demonstrieren. Weil also hier und heute in Sachen Arbeitstag "alles Machbare" gemacht ist, gilt ihr vom Arbeitstag emanzipierter Kampf

a) der Jahrhundertforderung "35-Stunden-Woche", die eine gerechte Verteilung der Arbeitstage erlaubt, denn dieses knappe Gut ist so wertvoll, daß nicht zuletzt den Arbeitslosen wenigstens etwas davon zustehen sollte,

b) der Verankerung des "Rechts auf Arbeit" im Grundgesetz, womit doch wohl klar sein dürfte, daß man froh und dankbar sein sollte, Arbeit zu haben,

c) schließlich dem insofern "unbarmherzigen" Arbeitstag, als er ihrem Ideal "menschenwürdiger Arbeit" widerspricht, das sie als "qualitative Forderung" anstelle "rein quantitativer Ansprüche" (mehr Lohn, weniger Arbeitszeit) geltend macht:

"...unbarmherziges Arbeitstempo und ein unerbittlich zugeteiltes Arbeitspensum,... eine erschreckend hohe Zahl an Frühinvaliden und arbeitsbedingt Erkrankten,... aufgelöste Arbeitsplätze, Stammbelegschaften schrumpfen und der verbleibende Rest der Beschäftigten hat nachweisbar eine höhere Belastung zu ertragen..."

Es ist schon eine Ungeheuerlichkeit, wie die Gewerkschaft die Rücksichtslosigkeit des Kapitals, zu der sie laufend ihre Zustimmung gibt, als "soziale Probleme" bejammert, derer sie sich mit diesen Klagen angenommen hat. All das paßt nicht zu ihrem Bild vom hohen Wert der Arbeit. Darauf freilich hat sie es abgesehen, weil sie nun der Welt vorrechnen kann, daß alles ganz anders sein müßte und könnte, wenn man bei der Gestaltung des Arbeitstages auf die Gewerkschaft hören würde.

IV. Die Intellektuellen und ihre Öffentlichkeit,

die mit dem Arbeitstag eines Fabrikarbeiters unmittelbar nichts zu tun haben, spinnen sich über ihn am meisten zurecht. Sie bereichern damit ihren intellektuellen Arbeitstag:

a) über den Arbeitstag des Proleten reden sie erst gar nicht. Daß es den Arbeitern heute gut geht, ist ihnen so selbstverständlich, daß sie sich in souveräner Eigenwilligkeit Notständen des gesellschaftlichen Wesens zuwenden:

"...das eigentliche Armutsproblem unserer Zeit... umfaßt soziale Isolation, die Desorientierung des einzelnen Menschen in der modernen Gesellschaft, als Opfer ihrer sozialen Anonymität und gesellschaftlicher Strukturen."

b) So gesehen ist ihnen der Arbeitstag mit seiner schönen Ordnungsfunktion u kurz. Bei der "vielen Freizeit" der Proleten rümpfen sie die Nase ob des "primitiven" und gar nicht originellen Freizeitgebarens: Entweder sie hängen vor dem Fernseher rum oder auf dem Teutonengrill an der Adria. Intellektuelle Verfechter aktiver Freizeithygiene vermissen hier natürlich, daß sich der Prolet nicht ihren Rezepten von "Selbstverwirklichung" widmet. Andererseits begegnen Intellektuelle solch mangelhaftem proletarischen Bewußtsein mit Verständnis, weil sie es als proletarisches Selbstverwirklichungs- und Kreativitätsproblem selbst erfunden haben.

c) Wenn man meint, daß sie über Schichtarbeit reden, reden sie gar nicht darüber, sondern betrachten sie unter dem Gesichtspunkt: "Daß es so etwas heute noch gibt!" und problematisieren deren Auswirkungen auf die "Persönlichkeit des Arbeiters" (oh Mann!) und sein Triebleben in und außerhalb der Fabrik:

"Die strukturellen Auswirkungen der Schichtarbeit... (waren) Kommunikationsstörungen, verdrängte Sexualität, Kompensation durch Überangepaßtheit oder Demutshaltung gegenüber Vorgesetzten im Betrieb..."

d) Bezüglich der Rationalisierungsfortschritte des Kapitals spekulieren die Kopfarbeiter über "Fluch und Segen der Technik" und ob der moderne Mensch in der Arbeit noch einen Sinn sehen könne; und die wachsende Zahl der Arbeitslosen bedenken sie mit dem Trost, daß die stille Revolution der Mikroprozessoren und Roboter zwar alle möglichen "unqualifizierten" Berufe aus der Welt schafft, dafür aber ganz viele neue hochqualifizierte und saubere Arbeitsplätze schafft, an denen es eine Lust sein wird, in den Arbeitstag hineinzuleben.

Fazit:

Über die "primitive" Erkenntnis, daß der Arbeitstag für den Arbeiter die "Verausgabung von Hirn, Muskel, Nerv" (MEW 23, 58) ist, sind also Unternehmer, Arbeiter, Gewerkschafter und Intellektuelle allesamt erhaben. Der Arbeitstag ist heute höchstens noch ein "Problem" und erfüllt deshalb seinen Zweck besser als je zuvor.

Demokratischer Sozialismus

Das rote Musterländle Hessen hat seinen 180.000 Armen eine saftige Weihnachtsüberraschung beschert. Sozialminister Armin Clauss (SPD) hat den monatlichen Sozialhilfesatz von derzeit 312 auf 330 Mark erhöht. "Veränderungen im Konsum auch der unteren Lohnempfänger machten eine deutliche Erhöhung der Regelsätze notwendig". Auch wenn nicht der gestiegene Lebensstandard, sondern das Gegenteil, nämlich gestiegene Ausgaben vor allem im "Bereich der Haushaltsenergie (Licht/Kochen) sowie für die Minderjährigen (Ernährung) und der allgemeinen Lebensführung" der Anlaß für diesen Akt sozialer Gerechtigkeit sind; im Vergleich zur nächsten Lohnerhöhung ist die deutliche Steigerung von ca. 5,8% einfach begeisternd.