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Dieser Artikel ist in der MSZ 5-1980 erschienen.

Reichsbahnstreik in Westberlin
VIEL FEIND, VIEL EHR

"Wir sind von allen verlassen worden", ist das ziemlich bittere Fazit der streikenden Eisenbahner, welche an ihrem Leibe die unangenehme Kombination von Ostberliner Arbeitgeberschaft und freiheitlicher Westberliner Senatsverwaltung zu spüren kriegten ohne daß sie sich über diese anders als in diesem bitteren Fazit Klarheit verschaffen wollten. Resultat des nahezu zweiwöchigen Arbeitskampfes ist die Besiegelung exakt dessen, was er abwehren sollte: Kündigungen, Lohnausfall mit gedrohten Kürzungen von Zulagen wie Weihnachtsgeld etc.; von Erfolg kann keine Rede sein.

Gezeigt hat die

Reichsbahn

im Umgang mit ihren (Fremd-)Arbeitern, daß der "einzige sozialistische Betrieb Westberlins", gezeichnet "der Arbeiter- und Bauernstaat", im Umgang mit Arbeitern keine Hemmungen kennt, das kapitalistische Argument mangelnder Rentabilität ganz im Sinne seiner Erfinder zu praktizieren: mehr Leistungen für weniger Lohn, durchgesetzt durch Einsparung von Fahrpersonal, wo sein Einsatz nicht lohnt, Streichung von Nachtschichten und Überstunden, um sie andernorts einzuführen, und das alles ohne Rücksicht darauf, welche Nöte dies den Bahnern neben dem eh schon niedrigen Lohn beschert. Aufgeräumt hat die Reichsbahn mit dem alten Reichsbahnerglauben, daß lange Betriebszugehörigkeit über Generationen hinweg vor ihren Kalkülen, sprich Entlassung schützt, und die Ideologie widerlegt, sie mache sich irgendwie von dem Geschick der Rangierer und Lokfahrer abhängig. Wohlvertraut zeigte sich die Reichsbahnleitung mit allen Finessen der Streikniederbügelung und des Streikbruchs: Auswechselung des Fahrpersonals bei der S-Bahn, Einsatz von Bahnpolizei und Transportkriminalpolizei, Lohnauszahlung nur bei Rückgabe des Dienstbuches, fristlose Entlassungen und sehr unbürokratische, gar nicht staatsozialistische Umleitung des Personenverkehrs über Ostberlin. Die dazugehörige Ostberliner Hetze, die streikenden Arbeiter wären Terroristen und Kriminelle (gegen den Arbeiterstaat Streikende können gar keine richtigen Arbeiter sein), mit denen ganz gemäß westlicher Staats- und Bürgerlogik keine Verhandlungen zu führen sind, machte die Reichsbahnverhandlungsposition unmißverständlich klar - und ausgerechnet dieser Vorwurf hat die Eisenbahner so sehr in ihrer Ehre verletzt, daß sie mit der DDR gar nicht mehr verhandeln wollen. Die Westberliner Journalisten jedenfalls wußten gleich, wie dieser Vorwurf mit den Terroristen gemeint war: nämlich als Methode der Arbeitskampfführung. In Sachen Kommentierung von Arbeitskämpfen gewieft, fällt ihnen gleich ein, daß die Methoden der Reichsbahn "frühkapitalistisch" sind. Mit diesem Plädoyer für moderne Klassenkampfführung haben sie nicht nur im Systemvergleich einen Punkt gewonnen - sondern überdies dem Streikmanagement des Westberliner Senats bestens vorgearbeitet.

Der Westberliner Senat

hat im Einvemehmen mit der Presse so tiefes Einverständnis mit den streikenden Arbeitern zu zeigen gewußt, daß kein Streikender auch nur auf die Idee kam, er sollte Streikgeld zahlen, statt die LKW's und Panam-Tickets zur Abwicklung des Verkehrswesens zu finanzieren. Stobbe hat diesen Arbeitskampf in bewährt antikommunistischer Manier ausgeschlachtet - Tenor: Das hat man davon, wenn man einen kommunistischen Arbeitgeber hat, und deshalb sind die Eisenbahner sehr zu bedauern. Die Problematik der "geteilten Stadt" kam schwer ans Tageslicht, in Ansehung der vom Streik am Güterbahnhof überhaupt nicht tangierten Lebensmittelversorgung der Stadt betonte Bürgermeister Stobbe, daß r die Lage unter Kontrolle habe. Die gesamte Presse stimmte in die fiktive Beschwörung von Blockadezeiten ein, so schlimm sei es gottlob noch nicht (auch eine Art, den Streikenden eine Warnung auszusprechen), und demgegenüber war der drohende Verlust der beruflichen Existenz der Eisenbahner, noch dazu von den Ostlern verursacht, ein typisches Berlinschicksal. So hat der Herr Bürgermeister, flankiert von der Westberliner Presse das Argument Nr. 2 vorbereitet, daß er bitteschön in diese Sache nicht hineingezogen zu werden wünscht. An ihn Forderungen zu stellen ist realitätsblind und tatsachenfremd, so daß sich die Arbeiter mit ihrer "Umwandlung von sozialen in politische Forderungen" selbst ins Abseits gestellt haben. Die streikenden Arbeiter haben verstanden, wie es gemeint war. Der ideologische Erfolg, nach Polen zumal, gegen DDR-Arbeitgeber zu streiken, war nach ein paar Tagen eingestrichen, die Karten im Westberliner Bahnpoker mit der DDR um eine Kostenbeteiligung am Defizit der S-Bahn neu gemischt, - das zur politischen Seite dieser "ganz normalen, tarifpolitischen Auseinandersetzung". Da hält sich der Senat ganz heraus. Nun, die streikenden Bahner waren enttäuscht und genau das durften sie sein, Motzen war erlaubt, schließlich sind wir ja im freien Westen. Und da beschimpft man seine streikenden Bürger nicht als Terroristen, sondern erzählt ihnen, daß man das, was man gar nicht will, gar nicht kann. Was hat nicht der Senat schon seit Jahren an Sorgen mit der S-Bahn (hier darf keinem einfallen, daß der Senat im Verbund mit der Presse und DGB gegen die S-Bahnbenutzung gehetzt hat), die Rechtslage bindet ihm die Hände, - und überhaupt sind da doch die Alliierten.

Vom Bankett der hohen Politik aus betrachtet konnte dann auch schon kein Eisenbahner mehr auf Helmut Schmidt, Bundeskanzler, sauer sein. Helmut Schmidt hatte zu Beginn des IG-Metall-Kongresses in Berlin staatsmännisch verlauten lassen: "Wir üben keinen Druck aus, auf wen auch immer", und mit dieser Gelassenheit zu erkennen gegeben, daß Brechung des Streikwillens durchaus zum Repertoire demokratischer Staatsführungskunst gehört, in diesem Falle aber gar nicht opportun ist. Er wollte der Illusion Einhalt gebieten, seine staatlichen Kalküle im normalen erpresserischen Umgang mit der DDR, die er als Bundeskanzler so betreibt - allgemein in Bestrebungen, den "Menschen hüben wie drüben Erleichterungen zu verschaffen" getauft - würden sich von den erbosten Eisenbahnern beeinflussen lassen, und verstand es sehr souverän, die Bewältigung des Arbeitskampfes als Prüfstein der Vertragstreue der DDR einzusetzen. Es bleibt als Frucht der SPD-Entspannungspolitik zu loben, daß die DDR "ihre vertraglichen Verpflichtungen im Zusammenhang der Beeinträchtigung des Transitpersonenverkehrs durch den Streik" eingehalten hat, wofür ihn nicht zu bekümmern braucht, daß diese Einhaltung mit ziemlich rüdem Polizeieinsatz und Rücksichtslosigkeit gegen die Streikenden zusammenfällt. Denn Ruhe und Ordnung der Untertanen, als Voraussetzung für das Gerangel der Regierenden muß bei aller verständnisinnigen Betrachtung der Eisenbahnersorgen gewahrt bleiben - und in diesem Punkt sind sich die Alliierten, der Senat, die Bundesregierung, die DDR samt Reichsbahn einig.

Die Alliierten

im Allgemeinen und in Gestalt des britischen Offiziers "Mr. Henessy" im Besonderen haben festgestellt, daß gemäß der Rechtslage der Einsatz der Bahnpolizei gegen die Streikenden rechtens ist, die Besetzung des Containerbahnhofes an der Heidestraße umgekehrt illegal. Sie haben deshalb die Streikenden höflich gebeten, selbigen zu räumen und zur Unterstreichung dieser Bitte den Containerbahnhof mit ansehnlicher Westberliner Polizei umstellt. Die Eisenbahner haben Besonnenheit gezeigt. Sie wollten sich schließlich zuallerletzt von den Westagenturen als Terroristen beschimpfen lassen, haben zähneknirschend den Containerbahnhof geräumt - und damit ihr letztes Druckmittel gegen die Reichsbahn aufgegeben. Sie haben sich nicht entblödet, der Westberliner Polizei für den Geleitschutz ihrer Demonstration durch nachttote Schering- und Bewag-Betriebsgebäude zu danken, sich von ihnen ein Mikrophon geliehen und bis zum Schluß glauben wollen, daß die Bahnpolizei mit ihren zwanzig Mann auf den Gleisen, die einer gesehen haben will, den Bahnhof stürmen wollte, und das Riesenarsenal Westberliner Polizei zu ihrem höchstpersönlichen Schutz vor der Balinpolizei aufgefahren worden ist.

Das Fazit

der Eisenbahner, "wir sind von allen verlassen worden", stimmt also überhaupt nicht. Als deutsche Arbeitnehmer sind sie gegen ein feindliches Regime in den Streik getreten und haben darauf gesetzt, daß die offizielle Politik gegen den Hauptfeind des freien Westens ihnen bei der Durchsetzung ihrer ökonomischen Forderungen hilft. Den Jubel über den Streik in Polen, den die westliche Presse angestimmt hatte, hat wohl so mancher Reichsbahner mit Sympathie für Arbeiterinteressen verwechselt. Getäuscht haben sie sich bis zuletzt darin, daß die in Westberlin besonders gepflegte Feindschaft gegen den Osten ihnen in irgendeiner Weise nützen könnte. Stattdessen sind sie für diese Feindschaft benutzt worden. Und daß sie damit einverstanden zu sein haben, diese letzte "bittere Wahrheit" haben die Eisenbahner zu ihrem moralischen Erfolg gemacht.

Die Westberliner Bevölkerung, so das Fazit der Streikleitung am Weddingplatz, weiß endlich,

  • daß "wir keine Kommunisten sind". "Wir können uns sehen lassen und gehen mit geradem Rücken aus diesem Streik hervor", womit die Streikleitung die materiellen Gründe ihres Streiks gegen die Reichsbahn zu einem bloßen Anlaß herunteraewirtschaftet hat, der Bevölkerung mal zu zeigen, daß sie auch was gegen die DDR hat (worauf die Westberliner Bevölkerung bekanntlich schon seit 1961 wartet, als sie mit dem Spruch im Herzen, jeder Pfennig für die S-Bahn ist ein Millimeter Stacheldraht an der Mauer, die S-Bahn gemieden hat wie der Teufel das Weihwasser);
  • der DDR haben die Reichsbahner endlich gezeigt, daß man mit Arbeitern so nicht umspringen kann und sichergestellt, daß "niemand mehr zur Reichsbahn geht" - man kann also gespannt sein, ab wann die jetzt gefeuerten Eisenbahner die verbliebenen bzw. verbleibenden Kollegen und Neuhinzukommenden ebenso als "Menschen zweiter Klasse" behandeln, wie sie es kennen.

Daß sie sich von der getretenen Eisenbahnerehre und deren Schutz vor Ostberliner Hetztiraden auf den Westberliner Arbeitsämtern nichts kaufen können, das wissen sie selbst zur Genüge, aber gerade deshalb kommt es so verflucht auf diese an.