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Dieser Artikel ist in der MSZ 5-1980 erschienen.

Systematik


DIE LOGIK DER BEURTEILUNG

Anläßlich eines bedeutenden Ereignisses demonstriert die bürgerliche Öffentlichkeit die Prinzipienlosigkeit, die erforderlich ist, wenn nicht die Klärung der Sache ansteht, sondern ausschließlich das eine Interesse: Parteinahme für den eigenen Staat.

Das pflichtgemäß in jeden Artikel oder sonstige öffentliche Äußerung, die nur irgendwie in die Nähe des Klassengegensatzes geraten, einzustreuende "Argument", daß Beharren auf materiellen Interessen nur Unglück bringt, gilt für Polen umgekehrt. Dört ist Verlangen nach Fleisch und höheren Löhnen genau richtig:

"Tapfere und mutige Arbeiter, die im Kampf gegen ihre Unterdrükker Disziplin und Entschlossenheit bewahren."

Da diese Beglückwunschung des Materialismus sich aber nur der Tatsache verdankt, daß er dem gegnerischen Staat schadet, ist seine Berechtigung sehr relativ. Tauglich ist er dafür aufzuzeigen, daß "das morsche kommunistische System die Lebensbedürfnisse seiner Menschen nicht befriedigen kann" - aber auch nur dazu, weswegen er sich gleich einen Verdacht einfallen lassen muß. Dieser Verdacht wird positiv geäußert, daß nämlich der Materialismus nur - vom "System" aufgezwungener - Vorwand für dahintersteckende und wesentlich höher zu bewertende Bedürnisse sei: "Freiheit, Rechte, Ideologie" seien in Wahrheit die Inhalte des Kampfes, seien die implizite Parteinahme für das System hier. Der sichere Instinkt, der den Bürger im Materialismus einen Angriff auf staatliche Herrschaft überhaupt wittern läßt, macht denn aus diesem angeblichen Streben der polnischen Arbeiter nach demokratischen Herrschaftsformen gleich ein Muß bzw. erteilt ihnen eine Verwarnung, falls sie anderes im Sinn haben:

"Eine Rebellionsbewegung... von der man nicht weiß, ob sie Maß und Ziel hält und mit Teilreformen abgefangen werden kann oder ob sie in romantisch-chauvinistische Exzesse verfällt, auf die doktrinäre Kommunisten diesseits und jenseits der Grenze nur warten, um draufzutrampeln."

Daß man an der Herrschaft drüben etwas auszusetzen hat, heißt noch lange nicht, daß man sie überhaupt abgeschafft wissen will - für die eigenen Zwecke soll sie sich nützlicher machen! Nächster Schritt also die Entschuldigung der polnischen Staatsmannschaft, wofür nun das soeben beschimpfte System ebenso herhalten kann - wie soll denn ein Politiker, "Gefangener seiner eigenen Politik", unter den dortigen Umständen dem Ideal einer effizienten und reibungslosen Machtausübung gerecht werden können? - wie auch die mittlerweile "unrealistischen" Proleten:

"Wo der Volkswille dazu neigt, vom Unmöglichen zu träumen, wird ein politischer Führer zur tragischen Figur."

Der Verwarnung der Arbeiter folgen also die Ratschläge an den anderen Staat, wie er mit dem bei ihm konstatierten "Dilemma" besser fertig werden könne. Hier findet eine Anbiederung vom Standpunkt der Überlegenheit aus statt - hier streiken die Arbeiter ja nicht! - die am staatlichen Widerpart immerhin festgehalten wissen will, daß er Subjekt seiner Geschichte ist und bleiben muß. Dabei wird den Agenten dieses Subjekts der dezente Hinweis zuteil, daß sie sich doch ganz unnötig aufreiben, wenn sie "immer ihre Fehler selbst ausbaden" müssen, wo man doch eine ganz persönlich gehaltene Annehmlichkeit für sie parat hätte:

"Einmal mehr erweist sich die Schwäche des vom ideologischen Daueranspruchs getriebenen Regimes. Eine westliche Regierung mit solcher Bilanz würde abgewählt, die Opposition ihr Glück versuchen und das Elend der Mißwirtschaft auf ihre Vorgänger schienen. In kommunistischen Regierungen hingegen findet Machtwechsel nur durch Säuberungen oder Revolte statt, normalerweise sind sie dann verdammt, ihre Fehler laufend selbst auszubaden."

Aus lauter Parteinahme für die Herrschaft taucht der Kommunismusvorwurf nur noch als Unvermögen der "Diktaturen" auf, sich die Potenzen des diktatorischen Staatsbürgerwillens zunutze zu machen. Da plaudert man ganz nebenbei das Geheimnis der Demokratie aus, - freilich mit dem kleinen Schwindel, es läge an der Verfassung und nicht an den Untertanen -, daß die Herrschaft der Zustimmung des Volkes die entsprechenden Möglichkeiten bietet. In ihrer Begeisterung stellen sie die staatliche Welt auf den Kopf, indem sie der polnischen Regierung empfehlen, sie sollte sich nur die entsprechende Verfassung einrichten, dann würden sich die Polen schon wie von selbst wie ordentliche Staatsbürger aufführen.

Sie täten sich viel leichter, ließen sie das Aufbegehren der polnischen Arbeiter als "demokratische Maßnahmen" auf sie zurückfallen:

"Gierek müßte den Mut zu demokratischen Maßnnhmen aufbringen... nur dann würde er sich - vielleicht - die Arbeiter zu Bundesgenossen machen, denen er auch größere Anstrengungen zumuten darf."

Der Beweis wird dergestalt geführt, daß der Staatsmann seine Schwierigkeiten allein deswegen hat, weil er die empfohlene Umgestaltung noch nicht gemacht hat:

"Das Ausbleiben einer Entwicklung zu mehr Partnerschaft mit mündigen Bürgern wurde dann ein wesentlicher Grund dafür, daß Polens Wirtschaft ins Trudeln geriet.' -

was man ihm auch als Versagen an seinen eigenen Idealen schmackhaft machen kann:

"Längst schon ist Sozialismus im Osten zum bloßen Etikett geworden."

Dieses kleine Augenzwinkern, daß man sich untereinander schon darauf versteht, was unter "Sozialismus " läuft, enthält schließlich eine gesunde Portion Vertrauen in den polnischen Staat: Er darf mit den Vorschlägen auch ganz originiell umgehen - "3. Weg", "Finnlandisierung". Wichtig nur, daß nachher ein "polnisches Modell" herauskommt, versehen mit "beträchtlichen Vorteilen". Bei diesen - soweit ist man sich nun zwischen Staatsfanatikern auf der erreichten Stufe der "Argumentation" einig - handelt es sich keineswegs um welche fürs Volk, sondern um solche, die "sogar dogmatische Kommunisten beeindrucken müßten". Was man sich unter dieser Beeindruckung vorzustellen hat und wie man sie zu unterstützen gedenkt, wird an anderer Stelle verhandelt:

"Kann sich die Sowjetunion einen Infektionsherd in ihrer Nachbarschaft leisten?"

Die alte Weisheit, daß Antimaterialismus und Antikommunismus zusammenfallen, bestätigt sich aufs Neue. Weil unsere öffentliche Meinung eben vermittels ihrer argumentativen Prinzipienlosigkeit ein Prinzip verwirklicht, Parteinahme für den eigenen Staat, hat sie ein Gespür dafür, daß es sich dort drüben nicht um Kommunismus handelt: Insofern ist das für diesen Staat geäußerte "Mitleid" überhaupt kein Widerspruch, sondern Kundgabe des Willens, daß man Aufstände, auch in feindlichen Regimes nach dem Gesichtspunkt zu beurteilen hat, ob sie zu Änderungen führen (könnten), die für die eigenen Belange zweckvoll erscheinen. Insofern spricht die Presse das Geheimnis der Begutachtung ohne Umschweife aus, nämlich daß die Herrschaft dort drüben gemäß hiesiger Überlegungen geändert zu werden hat, und das kann und darf nicht das Werk der Arbeiter sein: Wenn Revolution, dann eine von hier aus gemachte - und das heißt Krieg. Denn nur dann gibt es die Garantie, daß es dort auch wieder eine Herrschaft gibt.