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Bundestagswahlen
DAS ERGEBNIS
Am 5. Oktober, pünktlich um 18 Uhr hatte "der Wähler, der oberste Souverän und Herr dieses Landes" (so nannte Herr Kohl die Stimmlieferanten) seine kurze Herrschaftsperiode, die er alle vier Jahre mittels der Gewalt des Kreuzes für einen Tag ausüben darf, beendet. Das nicht überraschende Ergebnis der stimmgewaltigen Machtausübung des Bürgers war, daß weiter über ihn regiert wird; daß die Obrigkeit all die schönen Gesetze, mit denen sie ihre Herrschaft sichert, mit Berufung auf den Willen des Volkes beschließt; daß die Regierung im Auftrag der Wähler all die nützlichen legalen Maßnahmen vornimmt, mit denen sie ihre Herrschaft finanziert und das Wohlergehen der Herren Wachstumsmacher Kapitalisten befördert, indem sie den Wachstum schaffenden Nichteigentümern das Geld aus der Tasche zieht. Das Volk hatte der Freiheit zugestimmt, daß in seinem Namen Staatsgewalt ausgeübt und dafür gesorgt wird, daß Volkes Leistung den Reichtum der Nation erarbeitet.
Jetzt war nichts mehr Wahlkampfthema; jetzt ist nichts mehr Mittel, um bloß die Stimme des Wählers zu gewinnen; jetzt sind alle Gegenstände des Wahlkampfs in das Belieben der Regierung gestellt, sie in ihrem Sinne zu regeln. Es wird nicht mehr mit der Sicherheit der Renten geworben, sondern sie werden gesichert dadurch, daß Rentner, Arbeitslose und die arbeitende Generation allesamt dafür geradezustehen haben, daß der Staat ihre eingezahlten zweckgebundenen Gelder zweckdienlich für die Wirtschaft verbraucht hat. Die Staatsverschuldung wird nicht mehr bestritten oder aufgebauscht, sondern man geht daran, den Haushalt ein wenig zu sanieren, und macht weiter Schulden, beides aus der Kasse des Bürgers - woher denn sonst. Mit dem Versprechen, keine Versprechungen machen zu wollen, wird ernst gemacht. Vom Frieden redet niemand mehr, um mittels der Kriegsangst an Wähler 'ranzukommen', er wird gemacht mit einer entsprechenden Außenpolitik gen Ost und Aufrüstung, damit der für den Fall beschlossene Krieg sicherer geführt werden kann. "Sicherheitsrisikos" bleiben die Politiker (sie schaffen die Kriegsgründe), nur kommt das jetzt nicht mehr vor die Schiedsstelle. Und die Volksvertreter, die sich im Wahlkampf bis aufs Messer bekämpft haben, geben sich wieder die Hände, sitzen wieder an einem Tisch und kümmern sich um Staatsnotwendigkeiten. Das können sie auch, weil es jetzt auf die Stimme des Wählers nicht mehr ankommt. Der "oberste Souverän" hat gesprochen, jetzt haben die Politiker das Sagen. Dementsprechend verhalten sie sich, kaum daß die Hochrechnung mit einprozentiger Sicherheit stimmt.
Die Wahlnacht
Daß es nicht mehr direkt um Stimmenwerbung ging, merkte man den Politikern an. Aber deshalb bleiben sie doch praktische Charaktermasken. Als ob es nicht dasselbe wäre, wenn sich diese Menschen - weil der Gegner sie zwingt, wie sie sagen - im Wahlkampf "danebenbenähmen" und sich dann wieder als ernstzunehmende, verantwortliche Politiker verhalten. Sie handeln immer gemäß den Maximen der Macht iind benehmen sich deshalb auch nie daneben, mögen sie sich noch so übel aufführen.
In der Wahlnacht legte der "Dank an den Wähler" Zeugnis davon ab, wofür er taugt und was Politiker von ihm halten. Eine Beschimpfung des mündigen Bürgers findet gleichermaßen bei Siegern und Besiegten statt. Oder sollte es jemand als "Reifezeugnis" aufgefaßt haben, das, der Wähler sich ausstellt" (Brandt), wenn er von Genscher bescheinigt bekommt, "die Bedeutung der Zweitstimme erkannt" zu haben? Oder hat irgendein FDP-Wähler die Versicherung Genschers, der "großen Verpflichtung gegenüber dem Wähler" dadurch nachzukommen, daß man aus ihnen "Stammwähler" machen wolle, als Anerkennung empfunden? Dank verpflichtet, nicht wahr, sonst...! Helmut Schmidt stellte in seiner Person als Kanzler sein 'Danke' vor: "Ich bin hochzufrieden, ich kann jetzt weiterregieren." Das reicht bei einem Kanzler, der weiter darf, völlig.
Die besiegte Union dagegen ließ es sich nicht nehmen, ihrem Ärger über die Niederlage deutlich Luft zu machen und den kurz vorher noch geliebten Wähler als Blödmann hinzustellen: '
- der politisch ungebildet:
"Wir haben eben viele unpolitische Wähler im Land." (Stoiber)
- schwer von Begriff:
"Wir hätten vielleicht noch vier bis sechs Wochen gebraucht, dann hätte der Wähler uns noch besser verstanden." (Strauß)
- stur wie ein Bock:
"Wir haben bewegende Themen aufgegriffen. Aber wir müssen uns dem Votum des Wählers, des obersten Herrn und Souverän dieses Landes beugen." (Kohl)
- so unselbständig, auf die "Hetzpropaganda" der SPD und nicht auf die "sachliche" Hetzpropaganda der Union hereinzufallen.
Damit war die direkte Ansprache an den werten Herrn Wähler gelaufen. Danach unterbrachen die Herren Politiker das Unterhaltungs- und Sportprogramm mit ihren hochgeistigen Versuchen, trotz Wahlkampf und/oder Niederlage die eigene Glaubwürdigkeit unter Beweis zu stellen. Man bedauerte die Entgleisungen (der anderen), versprach, wieder zueinanderzukommen (wenn der Vorwurf "Moskau-Fraktion" oder "Unfähigkeit zum Frieden" zurückgenommen werde) oder lobte sich selbst, den "argumentativen Wahlkampf" mit dem Sachargument: "ohne Schlammschlacht" geführt zu haben und deshalb nicht in der mißlichen Lage zu sein, dem politischen Gegner eine schmutzige Hand reichen zu müssen.
Daß die Union trotz ihrer Niederlage weiter eine starke politische Kraft bleibt und sehr, sehr viel Vertrauen verdient, konnte man auch hören und sehen. Außer der Leistung, ganz, ganz ehrlich zuzugeben, das erste Wahlziel nicht erreicht zu haben, hatten die Christdemokraten so viel Positives über sich und ihr Ergebnis zu berichten und Negatives über den Sieg der sozial-liberalen Koalition, daß der unaufmerksame Zuschauer an seinen Rechenkünsten verzweifelt sein muß. Doch keine Sorge, Politiker sind so souverän, daß sie Dinge einfach umdrehen können. Die SPD habe ihr zweites Wahlziel, stärkste Fraktion zu werden, nicht erreicht, "schwere Zeiten" kämen auf die SPD zu, Helmut Schmidt habe nur einen "Pyrrhussieg" errungen, oder gar "die Wahl verloren", erzählten die Unterlegenen, so daß man meinen konnte, sie wären froh, nicht die nächste Regierung stellen zu müssen:
"Wer die Wahl gewinnt, hat eine viel größere Last zu tragen."
Die so schon viel besser dastehende Union, die nur ihr erstes Wahlziel nicht erreicht hatte (die SPD dagegen hatte nur ihr erstes Wahlziel erreicht), stellt ihren Aufwind fest. Seit Monaten sei sie im Aufstieg begriffen (die Ungerechtigkeit, den 5. Oktober zum Wahltag zu machen, ist so der eigentliche Grund der Niederlage), der "Trend zur Union" sei unverkennbar. Vor allem aber - hier dachten die maßgeblichen Männer von der CDU schon wieder daran, die Konkurrenz mit der CSU zu ihren Gunsten zu gestalten und unter die erwartete Niederlage von Strauß einen versöhnenden Schlußstrich zu setzen - habe man "gemeinsam verloren" und wolle "gemeinsam Verantwortung übernehmen". Da konnte sich der Zuschauer freuen, wie vereint und hoffnungsvoll Strauß und seine Niederlage verdaut wurden. Und wenn er dann noch von Helmut dem Kohligen erzählt bekam, wie standhaft die Union nach vorn blickt, müssen ihm vertrauensbildende Tränen gekommen sein.
"Ich werde doch nicht aus der boblen Hand eine Analyse vornehmen... Wir haben einen Weg zurückgelegt. Wir haben zwischen Flensburg und Rosenheim gemeinsam unheimlich gut gekämpft. Wir werden uns dem Dienst am Vaterland ohne Blick zurück im Zorn in der Opposition stellen."
Schöner kann man es wirklich nicht sagen, daß Politiker zwar verlieren können, aber diese Niederlage, nicht die Regierung stellen zu dürfen, keineswegs dazu führt, daß sie dann arm und ohnmächtigodastehen. Sie drehen die Niederlage schon so hin, daß sie weiterhin das Vertrauen des Volkes genießen, an dessen Beherrschung sie ja eh auch in der Opposition stark beteiligt sind.
Der mündige Bürger nach der Wahl
Er, der kurzfristige oberste Souverän des Landes, verhielt sich so, wie das von einem guten Bürger erwartet wird. Nachdem er zu knapp 90% von seinem Wahlrecht Gebrauch gemacht hatte, weil es ja nichts Schöneres gibt, als sich seine Herrschaft küren zu dürfen, sah er sich nicht ohne Spannung die ersten Hochrechnungen an. Aus ihnen erfuhr er, daß Strauß verloren hatte und die Sozialliberalen die Macht behalten. Daß die FDP über 10% der Stimmen erhält, überraschte ihn - "Das hätte ich nicht gedacht, sowas!" -, oder auch nicht: "Ich habe mir schon so etwas gedacht." Mit Respekt sah und hörte er sich dann die gar nicht respektablen Erscheinungen, Reden und Ausreden der wiedergewählten Herren an. Er hat gewählt; sie haben sich wählen lassen. Das anständige Spiegelbild der Politiker beschwerte sich vielleicht noch über die fehlende Alternative beim Fernsehprogramm und ging dann am Montag wie gewohnt seiner Arbeit nach, während man sich in Bonn erst einmal vom Wahlkampf erholen wollte, oder, was kein großer Unterschied ist, sich auf die neue Regierung und die alte Opposition vorbereitete.
Fast jeder deutsche Bürger hatte wieder nichts dazu gelernt. Trotz des Wahlkampfs, in dem die Kandidaten doch sehr deutlich machten, welchen Status und welchen Charakter sie besitzen; trotz der Versicherung an das Volk, daß es von diesem nur gewählt werden will - den Rest werde man dann schon machen; trotz des unglaublichen Zynismus, mit dem die Politiker die Leichen des Attentats von München für ihr politisches und Wahlkampfgeschäft ausschlachteten... Dies ist leider das letzte Wahlergebnis. Dabei kann es an uns nicht liegen. Immerhin verteilten wir in großer Auflage das Argument zur Wahl (von Charlie Chans Kommentar in der Wahlnacht "Danke sehr vielmals!" einmal abgesehen. ), daß Wählen verkehrt ist, und drucken es noch einmal - optimistisch, wie wir sind - ab:
Wählen ist verkehrt
1
Es springt für keinen gewöhnlichen Menschen etwas heraus, wenn "seine" Regierung zustandekommt. Das wissen sogar die Wähler und behaupten deshalb, sowieso nur das "kleinere Übel" herauszusuchen.
2
Politiker verlangen mit der Stimme des Wählers ausdrücklich sein Vertrauen. Für sie bedeutet das nämlich die Freiheit, über alles entscheiden zu dürfen, was die Wähler dann zu Betroffenen macht: als Arbeiter, kurzgehaltener Rentner, Steuerzahler und Soldat.
3
Und auch das wisser die Wähler daß sie mit ihrer Stimme die Regierung von jeder Rücksichtnahme auf ihr Wohlergehen befreien. Gerade unter Berufung auf die Wähler, deren Zustimmung Politiker schätzen, können sie nach Belieben schalten und walten.
4
Daher versprechen die Wähler sich von ihrer Stimmabgabe im Ernst auch nur das Eine: daß die Rücksichtslosigkeit der gewählten Staatsmacht die anderen trifft, denen es immer zu gut geht und die sich zuviel herausnehmen: je nachdem also die zu faulen Arbeiter; die schmarotzenden Arbeitslosen, die verwahrloste Jugend, die Japaner, die Ölscheichs und andere Gastarbeiter...
5
Genau diese Hoffnung läßt jede Regierung nach ihrer Wahl in Erfüllung gehen. Mit dem Argument, sie könne es unmöglich allen recht machen, macht sie es jedem recht und behandelt jeden so, wie er es für die anderen will: als Leute mit überzogenen Ansprüchen. Mit einer kleinen Ausnahme: für "die Wirtschaft" muß natürlich alles getan werden.
6
Die Wirtschaft lebt nämlich von den Anstrengungen und Opfern, die der Wähler mit seiner Stimme weitere vier Jahre zu bringen verspricht. Deshalb gibt es i n der Wahl keine Alternative, wohl aber zur Wahl. Und die heißt nicht einfach: "Nicht wählen!" Wer nicht ständig vertrauensseliges Opfer von Wirtschaft und Staat bleiben will, der muß schon etwas gegen deren "überzogene Ansprüche" unternehmen.
7
Wer natürlich meint, er hätte keinen Grund, von den Polen zu lernen, wie das geht - der soll doch wählen gehen.
Noch zwei Wahlergebnisse
Über der großen Politik nach der Wahl sollen zwei Sieger nicht vergessen werden, ohne deren Einsatz und politische Selbstlosigkeit für den Erhalt der freien Republik das Wahlergebnis furchtbar ausgesehen hätte.
Da ist zunächst einmal eine unaufdringliche, runde Plakette, die bescheiden aber doch offensiv an deutschen Pullovern, Blusen und Jacken hing und ihr Wahlziel voll erreicht hat. Indem sie dafür sorgte, daß Schmidt und vor allem Genscher gewählt wurden, stoppte sie Strauß. Dieser Plakette gebührt der Dank des deutschen Volkes. Sie hat die Macht vor Machtmißbrauch bewahrt und entscheidend dazu beigetragen, daß die Sozialliberalen sich, durch die Wahl gestärkt, um so besser der Macht bedienen können.
Dann sind da noch die Grünen, die in der Wahl mit ihrer moralischen Begleitmusik und ihrem warnenden Zeigefinger den Grundwerten, mit denen hier kräftig Politik gemacht wird, eine noch tiefere Fundierung verschafften, damit die Überlebensfähigkeit der Politik nicht zum Teufel gehe. Mit ihrer gewagten, aber doch verständlichen Hauptparole:
"Sei kühn - wähl Grün
Deine Zweitstimme für das Leben"
erfüllten sie den Geist einer anderen: "Stoppt Strauß, bremst Schmidt, vergeßt Genscher!" Auch sie können als Wahlsieger bezeichnet werden, da sie das schwierige Problem prozentual genau meisterten, einerseits nicht zu viele Stimmen zu bekommen, weil sie damit der Stoppt-Strauß-Plakette in den Rücken gefallen wären, andererseits aber demonstrieren zu können, daß die "Grüne Bewegung wächst". 568.265 Zweitstimmen "für das Leben" und 731.210 Erststimmen "für...?" sind die exakte Lösung dieses verzwickten politischen Programms. Ein wirklicher Doppelsieg:
"ein wichtiger Lernprozeß"
"Wir sind gar nicht enttäuscht. Immerhin haben wir unser Wahlziel, Strauß zu verhindern, erreicht.".
Auch den Grünen gebührt wegen dieses sauberen Wahlergebnisses der Dank des Deutschen Volkes.