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Dieser Artikel ist in der MSZ 5-1980 erschienen.

Systematik


ABC des dritten Weltkriegs

Den Nutzen einer MSZ-Serie über Perspektiven des Dritten Weltkrieges sehen wir, ohne Umschweife, als äußerst beschränkt an. Perspektiven hat der Dritte Weltkrieg nämlich nicht anzubieten. Allein die Tatsache, daß der kostbare Platz der MSZ mit Labereien über Themen wie: Zu was ist der "Tornado" gut? Was ist der Zweck der Bundeswehr? Wie funktioniert ein Atomkrieg? Kann der Westen das Gleichgewicht noch halten? Haben die Russen schon genug? usw. verschwendet werden muß, ist ein Skandal. Ausnahmsweise geben wir der Behandlung dieser Fragen, die keine Antworten verdienen, durch den Feind vollständig recht, abzüglich der kleinen unabdingbaren Lüge, bei diesen Erörterungen ginge es um die Sicherung des Friedens. Abgesehen von den für Kriegsführung absolut notwendigen Geheimnissen verhandeln unsere Militärs ganz öffentlich über taktische und strategische Fragen des nächsten Weltkrieges. Und wer wollte den Militärs daraus einen Vorwurf machen, daß sie neben ihrer vom Auftrag diktierten Ehrlichkeit auch noch das glatte Gegenteil behaupten, solange Intellektuelle beim Anblick eines Panzers anfangen, über die Sinnlosigkeit des Krieges und die Aggressivität der Menschennatur zu philosophieren?


I. DIE BUNDESWEHR

A. Die Ideologie

Ohne Zweifel ist die Bundeswehr die größte deutsche Friedensarmee und die friedlichste deutsche Großarmee aller Zeiten - jedenfalls ist das die einzig zulässige Meinung über sie, und daran wird sich in unserer linientreuen Republik gehalten. Die offizielle Sprachregelung lautet: Unsere Wehrmacht ist dazu da, nie eingesetzt werden zu brauchen; sie hätte ihren Kampfauftrag verfehlt, wenn sie ihn je erfüllen müßte; also ist jeder Mann und jede Waffe ein Stück Friedensgarantie. Und dieser dialektische Gedanke dient keineswegs nur Politologenhirnen zur Erbauung: bis zum letzten Rekruten prägt er das Selbstverständnis unserer demokratischen Armee.

Kein Wunder, daß das bei schlichteren Gemütern zu mancher Verwirrung führen muß. Denn den normalen staatsbürgerlichen Gedanken, daß die eigene bewaffnete Macht allein für den edlen und moralisch unanfechtbaren Zweck der Verteidigung bereitsteht, den beherrscht zwar ein jeder halbwegs erwachsene Mensch bei uns. Es gehört zum Grundbestand staatsbürgerlicher Vernunft, von den militanten Absichten der eigenen Herrschaft, bloß weil es die eigene ist, zu abstrahieren und deren Fähigkeit zum Krieg für so etwas Ähnliches wie die eigene Armeskraft zu halten, umgekehrt dem Feind jegliche böse Angriffsabsicht zu unterstellen, bloß weil die eigene Herrschaft ihn zum Gegner erklärt hat, und an dessen Militär die gediegene Vorbereitung eines oder mehrerer Völkermorde zu erkennen. Denn das gehört nun einmal dazu, um einem Staat die Treue zu halten, der für seine Verteidigung seine geliebten Bürger in den Tod schickt und dafür alles Nötige vorbereitet.

Über diesen schon ziemlich ungeheuerlichen Trost geht die Ideologie der Bundeswehr aber weit hinaus. Sie möchte allen Ernstes so verstanden werden, als wäre ihre Kampfkraft der größte Bluff der Weltgeschichte und die Kriegsverhinderung durch "Abschreckung" ihr höchster und letztlich einziger Daseinszweck. Dabei läuft die ganze Logik der "Abschreckung" darauf hinaus, dem Gegner seine unterstellten Angriffsabsichten dadurch zu vermiesen, daß man ihm überlegen ist; d.h. also für den Kriegsfall auf Sieg zu kalkulieren und damit für die eigene Seite die Freiheit zu reservieren, allein und ohne "Sachzwang" von der anderen Seite über die Aufnahme von Kampfhandlungen zu entscheiden - kurzum, mit möglichst viel und schlagkräftigem Material die Rolle des Angreifers für sich zu monopolisieren: Alle Vorkehrungen dafür zu treffen, um selbst zu gewinnen ist die Wahrheit der Ideologie, daß heutzutage keiner mehr gewinnen könne, weshalb ein Krieg eigentlich unmöglich sei.

Und diese Wahrheit des Militärs, auch des eigenen, kriegt der einfache Soldat natürlich irgendwie ganz praktisch mit - damit aber auch das Verrückte an der dialektischen Parole von der Kriegsverhinderungsarmee. Deswegen schlägt er sich entweder auf die Seite der ihm abverlangten ehrlichen Kampfbereitschaft, bastelt sich nach ungebrochener Überlieferung sein Feindbild und gewöhnt sich an die Sorte Faschismus, ohne die die Bereitschaft zum Opfer fürs Vaterland nun einmal nicht geht. Oder er sieht den mit der permanenten Kampfbereitschaft für ihn verbundenen Zwang nicht so recht ein und fällt durch mangelnde Moral unangenehm auf. Vorsorglich muß sich jeder auch schon 'mal von einem so liberalen Bundespräsidenten wie Scheel daran erinnern lassen, daß so das goldene Wort von der Friedensarmee natürlich nicht gemeint sei, "Verteidigungsbereitschaft" vielmehr auch bei uns eine positive innere Einstellung zum Krieg verlange:

"Der schwierige Gedanke der Abschreckung...: Die Erziehung zum Frieden schließt die Bereitschaft ein, dafür auch in den Krieg zu ziehen."

Gründe, aus denen die Bundeswehr etwas wirklich anderes wäre als jede normale Armee eines normalen demokratischen Staates mit weltweiten Interessen von einer gewissen Brisanz, sind also nicht auszumachen. Dann muß es aber wohl Gründe geben, aus denen sie dermaßen penetrant ihren angeblichen Pazifismus herausstreicht. Sollte denn wirklich noch immer, ein halbes Menschenalter seit Hitlers Krieg und nachdem die Nachkriegszeit schon mehrfach für nun endgültig vergangen erklärt worden ist, das alte antifaschistische "Nie wieder Krieg!" der Gründerjahre der Republik herüberwirken? Sollte womöglich die unmittelbare Nachbarschaft des Feindes, verharmlosende Sprachregelungen angeraten sein lassen? Eines Feindes, dessen ostdeutschem Vorposten die BRD immerhin nach wie vor die ganz richtige Souveränität abspricht und dem man in jeder Friedensfreiheitswohlstandsrede die Auskunft erteilt, daß seine Existenz im Widerspruch zu den Prinzipien des eigenen Staatswesens steht, was als prinzipielle Kampfansage ja wohl unmißverständlich ist. Oder ist es etwa ganz einfach so: daß die Bundeswehr etwas u verbergen hat...?

B. Kampfauftrag und Kriegsziel

Selbst dann, wenn unsere Generäle Klartext reden, brechen sie sich vor lauter ideologischem Pazifismus beinahe die Zunge ab eine Kostprobe:

"Die stärkste Panzerabwehr(!)waffe ist der Kampfpanzer, der zugleich Rückgrat des taktischen Gegen(!)angriffs im Rahmen der Defensiv(natürlich!)strategie des Bündnisses ist." (Weißbuch 1979)

Ganz in diesem Sinne hieß das strategische Ziel der bundesdeutschen Wehrmacht von Anbeginn an "Vorwärtsverteidigung", im Zuge der Entspannungspolitik sozialliberal umformuliert in "Vorneverteidigung". Dieses hübsche Bild will nicht sagen, daß die Bundeswehr aufpassen muß, sich im Einsatzfall nicht selbst im Weg zu stehen, sondern soll ein außerordentlich hochgestecktes Kriegsziel ausdrücken.

Grundlage - und nicht etwa das Ende - aller strategischen Planung für die Bundeswehr ist der Umstand, daß die BRD unter strategischen Gesichtspunkten ein einziges Ärgernis darstellt:

"Die geostrategischen Gegebenheiten unserer Lage können für ein Land kaum ungünstiger sein. Erinnern wir uns:

1. Wir haben eine gemeinsame Grenze mit Staaten des Warschauer Pakts von über 1400 km Länge.

2. In einem nur 100 km breiten Raum westlich der innerdeutschen Grenze sind 25% unserer Industrie angesiedelt, und es leben dort 30% unserer Bevölkerung in Großstädten wie Nürnberg, Hannover, Hamburg." (Generalinspekteur Brandt)


Ein Glück nur, daß die Bundeswehr nicht auch noch Westberlin zu verteidigen hat!

Strategisch also eine einzige Fehlkonstruktion, dieses Land. Aber auch ein Militär wächst mit seinen Aufgaben. Die adäquate Antwort auf den "Mangel an strategischer Tiefe", in der man den als Angreifer gedachten Feind abfangen kann, heißt schlicht: ihn gar nicht erst hereinlassen.

"Wir können den Raum, den wir notfalls verteidigen wollen, nicht vorher aufgeben." (Generalleutnant Hildebrandt)

oder genauer:

"Die NATO kann die Tiefe des Raumes nicht als Waffe (!) benutzen" (wie dumm!!) (Wehrkunde 11/77)

Also, gegen alle Zweifler und Nörgler auch in der Bundeswehr:


"Verteidigt wird vor Hamburg und Kassel!"

Bloß, wie macht man so etwas, wenn man daran festhält, daß der Feind der Angreifer ist und nicht man selbst? Hören wir nochmal unseren Generalleutnant:

"Im Falle eines Konflikts müssen wir uns deswegen vorne mit aller Kraft und von Anfang an mit großer Beweglichkeit und Wendigkeit der Führung verteidigen." (Hildebrandt)

Zu solcher "Wendigkeit" gehört z.B. folgende Unterscheidung:

"Während die NATO-Truppenverbände den Kampf nur westlich der Grenzen aufnehmen können, ist die Luftwaffe in der Lage, durch Gefechtsfeldabriegelung in die Aufmarsch- und Bereitstellungs(!)räume des Gegners zu wirken und den flüssigen Ablauf seiner Operationen zu stören."

Und wer es nicht glaubt, daß der Präventivschlag zu den fest einkalkulierten Mitteln bundesdeutscher "Vorneverteidigung" gehört, der kann es sich auch noch einmal von General Schulze sagen lassen:

"Unser Ziel muß es sein, den gegnerischen Angriffsplan zu durchkreuzen, wenn er am verletzlichsten ist, nämlich beim Antreten (!) zum Angriff, bevor der Angriff Schwung gewinnt."

Schon für dieses bescheiden formulierte Ziel - "hineinwirken", "stören" - ist allerhand erforderlich, z.B. eine ständige Einsatzbereitschaft - für die die Bundeswehr auch tatsächlich gerühmt werden darf: Journalisten, die den Auftrag haben, das Gegenteil zu beweisen, müssen sich schon einen Weihnachtsabend mitten in Entspannungszeiten heraussuchen, um zu Gruselberichten über die Verwahrlosung bundesdeutscher Gefechtsbereitschaft zu kommen. Bereitschaft allein reicht aber natürlich nicht; denn dummerweise enthält das Gerede über die "konventionelle Überlegenheit" des Ostens ja etwas Wahres. Der Auftrag "Vorneverteidigung" heißt also erst einmal: keinen Verlust an Territorium - also: eine offensive Panzerschlacht (siehe die Definition der Panzerwaffe im Weißbuch!); Erkämpfen der Luftherrschaft über dem Schlachtgebiet, damit dieses auch wirklich im Lande des Gegners liegt; Lahmlegung der "baltischen Flotte" des Gegners bereits in der Ost-, spätestens in der Nordsee, jedenfalls noch ehe sie den Atlantik erreicht und die "Nachschublinien" gefährdet. Also ein umfassender Kampf von Spitzbergen bis zum Ararat, der auch mit der strategischen "Lücke" im NATO-Mittelabschnitt fertig wird:

"Die Verteidigung unseres Landes wird dadurch gekennzeichnet, daß ein zusammenhängender Abwehrkampf mit dem europäischen Südabschnitt der NATO nicht möglich ist. Die neutralen Staaten Schweiz (!) und Österreich liegen zwischen der BRD und dem verbundeten Italien." (Weißbuch 75)

- hallo Alpenfestung!

Den Nachschub wie die Operationsfreiheit im Rücken der vorausstürmenden Vorneverteidigungskräfte sichert das in der Öffentlichkeit zu Unrecht unbekannte "Territorialheer" (Heimschutzbrigaden). Damit müßte sich dann doch das bundesdeutsche Kriegsideal verwirklichen lassen, den Gegner zu schnellem Einlenken zu zwingen. Denn:

"Wir wollen keinen längeren (!) konventionellen Krieg auf deutschem Boden, weil er genauso fürchterlich und genauso zerstörerisch wäre wie ein nuklear geführter Krieg" (eine interessante Klarstellung von Militärseite über die Hoffnungen, die der Bürger auf "seine" Verteidigung setzen darf!) ... Wir wollen aber (!) in der Lage sein, mit konventionellen Mitteln den Warschauer Pakt zu einer Verhandlungspause zu zwingen. Das heißt: Wir müssen einen Abwehrerfolg erringen, der neue Verhandlungen möglich macht." (Heeresinspektuer Poeppel)

Sie sind doch fröhliche Menschen, unsere Generäle. Sogar noch den Befehl zu einem prompten Blitzsieg verstehen sie in der Diktion unbedingtester Friedensliebe auszudrücken. Dabei sind ihnen nicht nur die Wirkungen "konventioneller" Waffen von heute vertraut; auch der Umstand ist ihnen nicht unbekannt, daß es dabei natürlich nicht wird bleiben können:

"Es geht darum, von der ersten Stunde (!) eines Angriffs an, dem potentiellen Gegner die Konsequenzen aus einer Eskalation im Gebrauch der Mittel zu demonstrieren." Und wie geht das? Natürlich: indem man selbst als erster eskaliert: "Dazu gehört einerseits die Fähigkeit unseres Bündnisses, im Rahmen der Triade flexibel im notwendigen (?) Rahmen mit konventionellen, aber auch notfalls (!) mit taktischen oder strateaischen Nuklearwaffen zu reagieren. Vnd dazu gehört auch die Fähigkeit, bereits mit konventionellen Mitteln das kalkulierbare Verwirklichen von Angriffsplänen durch eine flexibel, aktiv" (wozu soll denn das der Gegensatz sein?) und beweglich geführte Verteidigung zu verhindern." (Generalleutnant Hildebrandt)

Letzteres dann wieder der Spezialauftrag, den die Bundeswehr vor dem Szenarium zu erfüllen hat, das "notfalls" die extra so genannten "theatre nuclear forces", nämlich die atomaren Gefechtsfeldwaffen gehörig herrichten. Den erhofften Lohn ihrer Mühen deuten unsere Militärs folgendermaßen an:

"Erfolg oder Mißerfolg der ersten Tage wird die Verläßlichkeit der Satellitenarmeen entscheidend beeinflussen." (General Schulze)

Auflösung des Warschauer Paktes als Frucht der ersten Kriegstage: das ist das friedliche Ideal westdeutscher Militärplanung.

Das Ganze noch einmal ohne ideologische Sprachregelung. "Verteidigung" bedeutet noch allemal, daß Bürger in großer Zahl ihr Leben lassen müssen, um ihren Staat zu retten - in seiner Eigenschaft als Staatsbürger verteidigt zu werden, ist für einen sterblichen Menschen heutzutage eine ziemlich sicher tödliche Sache. Im Falle der BRD liegt die strategische Komplikation vor, daß die Rettung des Staates, nach herkömmlichen Maßstäben geplant, die alle eine gewisse "Tiefe des Raumes" einkalkulieren, nicht mehr genügend Bürger leben läßt, daß die Regierenden hinterher noch Spaß am Regieren haben. Die Verteidigung der BRD braucht deswegen aber keineswegs zu unterbleiben. Nur wird der Verteidigungsauftrag an die zuständige Wehrmacht extrem: Sie hat den Feind, möglichst auf dessen Gebiet, vernichtend zu schlagen und gleichzeitig, natürlich auch in Feindesland, für ein hinreichend breites Spektrum nuklearer "Demonstrationen" zu sorgen, so daß dem Feind seine Unterlegenheit auch auf diesem Gebiet einsichtig wird. Und das alles innerhalb kürzester Zeit. Daran sollte man einmal die Propaganda von der angeblichen mehrfachen östlichen Überlegenheit messen.

Worin dieser Auftrag sich von dem Plan zu einem Präventivkrieg, also einem Angriffskrieg, unterscheiden soll, ist uns auch nicht klar. Klar ist damit allerdings, daß die Bundeswehr mit einer derartigen Aufgabe allein denn doch überfordert wäre - nicht zuletzt fehlt ihr ja die letzte Entscheidungsbefugnis über Bomben und Munition für die nukleare Abteilung der "theatre forces"; aber auch für die konventionelle Schlacht reichen die 900000 Mann des Heeres im Kriegsfall, obwohl sie durch 1,5 Millionen weitere Reservisten immer wieder ergänzt werden können, nicht zuverlässig aus. Das nationale Verteidigungsziel der BRD hat also die Eigenart, daß es in nationalem Rahmen gar nicht zu realisieren ist. Auch dies kein Grund, es zu lassen, im Gegenteil. Die nationale Verteidigung der BRD war von Anfang an ein internationales Anliegen; und die westdeutsche Kriegsvorbereitungspolitik setzt alles daran, daß sie das auch bleibt.

C. Bundeswehr im Bündnis: Vorneverteidigung mit Raumtiefe

Die politische Führung der BRD hat seit jeher umsichtig dafür Sorge getragen, daß der geplante Verteidigungskrieg auch dann keineswegs zuende zu sein braucht, wenn der Bundeswehr die Erfüllung ihres Siegauftrags nicht gelingt. Es soll sich wirklich kein Bürger hinterher beschweren dürfen, er wäre nicht verteidigt worden - wenn schon nicht im Feindesland, dann wenigstens bei sich zu Haus, und wenn schon nicht durch deutsche, dann um so mehr durch alliierte Soldaten und Waffen:

"Ein wichtiges Element unserer Verteidigungspolitik ist die Präsenz der Streitkräfte von sechs anderen Bündnispartnern auf unserem Territorium. Sie sind Ausdruck des gemeinsamen Verteidigungswillens und zugleich Signal des Risikos für einen Aggressor.

Die Streitkräfte der USA auf unserem Boden bilden für uns die wirksamste Verklammerung auch des strategischen Nuklearpotentials der USA mit der europäischen Verteidigungskomponente." (Generalinspekteur Brandt)

Da kann der deutsche Bürger doch gleich viel ruhiger schlafen, wenn der ganze Westen sich zusammengetan hat, um seine Republik zu beschützen - sogar die Franzosen sorgen sich um uns, wenn auch erst ab der Pfalz. Auffällig allerdings, daß das Vertrauen auf die Bündnispartner sich immer wieder in Mahnungen der folgenden Art Luft macht:

"Die Anerkennung des Prinzips der 'Vorneverteidigung' im Bündnis ist eine unabdingbare politische Voraussetzung jedes deutschen Verteidigungsbeitrags und bildet damit eine Geschäftsgrundlage unserer Mitgliedschaft im Nordatlantischen Bündnis." (wiederum Generalinspekteur Brandt)

Den nationalen Egoismus im Kriegsfall zum internationalen Anliegen zu machen, das ist eben eine schwierige Sache. Denn irgendwie kann es ja gar nicht ausbleiben, daß die BRD sich damit von dem nationalen Egoismus der Bündnispartner abhängig macht; und das hat natürlich seine Nachteile.

Im Verhältnis zu den USA, der Führungsmacht des Bündnisses, besteht das strategische Problem darin, daß das nationale Verteidigungsinteresse der BRD im Vergleich zu der strategischen Planung der befreundeten Weltmacht nicht mehr als einen frommen Wunsch bedeutet und von der Hoffnung leben muß, daß im Endeffekt beides sich irgendwo deckt:

"Europäische Verteidigungspolitik muß... bereit sein, sich amerikanischen Vorstellungen in einem gewissen Grade anzupassen;... europäische Staaten können nur eine Verteidigungspolitik konzipieren und realisieren, die mit den US-Verteidigungsinteressen in Übereinstimmung eebracht werden kann. Diese Einschränkung ihrer politischen Handlungsfähigkeit muß jede westeuropäische Regierung in ihrem eigenen Sicherheitsinteresse hinnehmen, auch wenn es der einen oder anderen Regierung schwerfällt oder sie es öffentlich nicht zuzugeben wagt. Natürlich können die westeuropäischen Staaten Ihrerseits erwarten(!), daß auch die USA Rücksicht auf europäische Belange nehmen..." (General Ulrich de Maiziere)

Was der gute General da als prinzipielle Schranke autonomer europäischer Kriegsplanung bemerkt -

"Damit haben sich die betreffenden Staaten eines ihrer wichtigsten Souveränitätsrechte begeben, nämlich der alleinigen und letzten Entscheidung über den Einsatz ihrer bewaffneten Macht, zumindest von wesentlichen Teilen ihrer Streitkräfte" -

das ist natürlich kein akademisches souveränitätstheoretisches Problem; und ebensowenig trifft es zu, daß jede europäische Regierung davon in der gleichen Weise betroffen wäre. Die ganze Schwierigkeit liegt darin, daß die Logik der amerikanischen Strategie gebietet, Westeuropa und damit eben vor allem die BRD als Vorfefd zu behandeln, also erstens mit dem Gebiet der BRD als Schlachtfeld, zweitens als Feld für eine durchaus länger andauernde, den Gegner zermürbende Schlacht zu kalkulieren:

"Wir sollten - abhängend von den Kosten - die Option haben, einen nicht-nuklearen Feldzug auf unbegrenzte Zeit fortzusetzen" -

so sieht der amerikanische Annual Defence Report die Lage, selbstverständlich ohne die "Option" auf einen ausgiebigen nuklearen Feldzug auf europäischem Gebiet preiszugeben.

Sogar noch in ihren liebevollen Beteuerungen ehrlichster Bündnistreue lassen amerikanische Verteidigungsminister an ihrem Standpunkt keinen Zweifel:

"Die US-Bereitschaft zum Einsatz in Europa ist nicht begründet durch historische Bindungen oder durch die Tatsache, daß hier seit 1945 rund 30 Milliarden Dollar investiert wurden, sondern schlicht durch die Erkenntnis, daß Freiheit und 'american way of life' nicht mehr das Gleiche wären, wenn Westeuropa von einer Macht beherrscht wird, die den USA feindlich gesinnt ist. So gesehen erkennen Verantwortliche bald, daß das NATO-Territorium eine Einheit ist, die auch das Territorium der USA einschließt. Der Atlantik trennt nicht, er ist Verbindung und Brücke." - nur eben daß auf der einen Seite der "Brücke" die USA liegen und auf der anderen Seite ihr Brückenkopf! (Schlesinger zu Lober laut Geaeralinspekteur Brandt)

Das Ganze ist den Führern der deutschen Nation natürlich kein Geheimnis; und als der derzeit Oberste noch in der Opposition war, hat er sich sogar empört aufgespielt:

"Bei den Herbstmanövern der Nato 1960 in Schleswig-Holstein rechnete man infolge des Einsatzes taktischer nuklearer Waffen nach 48 Stuaden mit 300.000 bis 400.000 Toten auf Seiten der Zivilbevölkerung. Was angesichts solcher Manöverergebnisse jeden unvoreingenommenen Beobachter überraschen muß, ist die Tatsache, daß die deutsche Kritik an der Koazeption der Nato so überaus maßvoll und zurückhaltend ist! ... Es ist unvorstellbar, daß es bei dieser Konzeption bleibt." (Helmut Schmidt 1961)

Das "Unvorstellbare" ist natürlich wahr geworden - und fand bei demselben Herrn Schmidt bereits wenige Jahre später einen erheblich "maßvolleren" Kommentar:

"Die unter der Überschrift 'Vernichtung Europas' behandelten Fragen (?) der Verteidigung mit 'taktischen' Nuklearwaffea fallen inzwischen in das schon mehrfach berührte Gebiet der innerhalb der NATO umstrittenen strategischen Konzeptionen."

Aufgehört hat dieser"Streit" bis heute nicht - es ist auch gar nicht abzusehen, wie das der Fall sein könnte.

Die Schlußfolgenng, dann doch lieber die Finger vom Verteidigen zu lassen, folgt daraus aber noch lange nicht, schon gar nicht für einen strategisch aufgeklärten sozialdemokratischen Kanzler. Der praktische Schluß lautet genau umgekebrt: Die BRD muß sich für die USA dermaßen nützlich machen, daß die USA die Rettung des westdeutschen Territoriums für noch lohnender befinden als seine Benutzung im Sinne von "Tiefe des Raumes als Waffe" und für einen längeren Krieg im Vorfeld des großen Atomschlags: deswegen setzt die Staatsgewalt alles daran, die BRD nach Möglichkeit zu einem einzigen riesigen Militärcamp sowie Raketen- und Flugzeugträger der USA zu machen. Weiter: Die BRD muß für ihr Konzept der "Vorneverteidigung" so viel tun, seine Erfolgsaussichten dermaßen wahrscheinlich machen, daß der große Bruder es auch im Ernstfall als Mittel für seinen Zweck, den Hauptfeind verbluten zu lassen, akzeptiert und mit seinen Streitkräften unterstützt: deswegen ist das bundesdeutsche Militär so willig bereit, jede Hauptlast im NATO-Mittelabschnitt zu übernehmen und sich in ein "konventionelles" Rüstungsabenteuer nach dem anderen zu stürzen, so daß die BRD heute ein Waffenproduzent der internationalen Spitzenklasse und von den USA in diesem Punkt unabhängig geworden ist. Und schließlich: Die BRD muß, um die Vormacht des Bündnisses in beiden Punkten zu überzeugen, immerzu dafür sorgen, daß die übrigen westeuropäischen Partner geschlossen hinter ihrer Kriegsplanung stehen.

Und da hat sie viel zu tun. Denn wenn schon vom Standpunkt der BRD aus das NATO-Bündnis das Mittel nationaler Verteidigungsplanung ist, indem dadurch nämlich die deutsche Grenze zum internationalen Anliegen und so die "Vomeverteidigung" erst realisierbar wird, dann gilt es immerzu darauf aufzupassen, daß die Partner sich nicht die Freiheit herausnehmen, das internationale Bündnisanliegen ihren nationalen Interessen unterzuordnen. So hat Frankreich deutlich gemacht, daß es als Feld seiner Vorneverteidigung die BRD einplant, weshalb seine Mittelstreckenraketen entsprechend ausgerichtet sind. Bürde und Tugend des Oberaufpassers im Bündnis lesen sich im Verteidigungsweißbuch 1979, programmatisch zusammengefaßt, folgendermaßen:

"Die Bündnisstaaten können auf bestimmte Probleme von Fall zu Fall im Lichte der nationalen Interessen reagieren." Das ist zwar ärgerlich; aber: "Dafür auch (!) Verständnis (!!) zu zeigen, ist Teil richtig verstandener Bündnispolitik. Dabei muß allerdings (!) in jedem Falle (!!) die Funktionsfähigkeit des Bündnisses erhalten bleiben. Das Bündnis darf nicht zu einer Allianz unterschiedlichen Engagements und abgestufter Mitgliedschaft degenerieren."

Die BRD hat schon ihre Last mit ihren Freunden, die dummerweise nicht so wie sie mit dem Osten noch eine offene "nationale Frage" zu regeln haben, dem Hauptfeind weltweit als ökonomisch wie politisch potenter Konkurrent in die Quere kommen, mit jedem Ostblockstaat besondere handels- und entspannungspolitische Zwecke verfolgen, im Ernstfall teils weniger interessant, teils weiter weg vom Schuß sind - und deswegen am Konzept der "Vorneverteidigung" ein elementares Interesse haben müssen. Da muß die deutsche Militärpolitik sich schon die Freiheit nehmen und sich um alles kümmern

- im Norden:

"Norwegen und Dänemark halten an ihren Vorbehalten gegen die dauerhafte Stationierung verbündeter Truppen und gegen die Dislozierung von Nuklearwaffen im Frieden auf ihrem Territorium fest. Aber auch in diesem Raum sind NATO-Manöver und rechtzeitige Zufuhr von Verstärkungskräften aus Nordamerika und Großbritannien ausschlaggebend für Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses."

wie im Süden:

"Die europäische Südflanke der NATO birgt strategische Probleme. Politische Instabilität in den Ländern dieser Region könnte von der Sowjetunion zum eigenen Vorteil genutzt werden. Das könnte RUckwirkungen auf das Kräfteverhältnis Ost/West haben, zumal der Südflanke eine wichtige strategische Aufgabe zufällt: Sperre gegen ein Vordringen der Sowjetunion in den Mlttelmeerraum, vor allem in den Nahen Osten und an die nordafrikanische Gegenküste...", für die die BRD sich also auch noch zuständig fühlen muß!

denn:

"Nord-, Süd- und Mittelabschnitte der NATO in Europa sind eine strategische Einheit." (Weißbuch)

Bei bloßen Sorgen läßt die bundesdeutsche Bündnistreue es natürlich nicht bewenden. Die BRD ist auf allen Ebenen der Vorkämpfer gegen Antiamerikanismus in Westeuropa. Den zivilisierten Nachbarn im Norden und in der Mitte, die aus lauter innenpolitischer Rücksichtnahme ihre Bündnispflichten schleifen lassen, vor allem für amerikanische Atombomben nicht die rechte Begeisterung aufbringen oder sogar bei einem gemeinsamen Manöver unentschuldigt fehlen, will diplomatisch auf die Füße getreten sein. Den unsicheren Kantonisten und finanziellen wie politischen Schwächlingen im Süden muß man anders kommen. Sie kriegen von der Bundeswehr die jeweils zweitneuesten, gerade erst abgelegten Waffen geschenkt, dürfen sich auch mit Sonderwünschen an die west-deutschen Waffenschmieden wenden. Bei ihnen wäre es auch ganz falsch verstandene Zurückhaltung, wollte man ihnen ihre Innenpolitik ganz allein überlassen - also steht die BRD all den Türken, Griechen, Portugiesen (und, wenn alles gut geht, den Spaniern demnächst innerhalb des NATO-Bündnisses) mit demokratischem Rat, wirtschaftspolitischen Diktaten und Geldern gar nicht einmal bloß für Militärisches zur Seite. An Finanzen soll es nicht fehlen, wenn sich mit ihrer Hilfe das "politische Umfeld" einer auswärtigen NATO-Streitmacht "stabilisieren" läßt; und in der Frage, wer die Kaltstellung des Volkes besorgen soll, ist die bundesdeutsche Demokratie sehr undogmatisch.

D. Weltpolitik vom Standpunkt der Bundeswehr: "Abschreckung" universal

Die strategische Kalkulation des bundesdeutschen Militärs läuft darauf hinaus, über das NATO-Bündnis - plus Separatvertrag mit Frankreich - die gesamte kapitalistische Welt in das "Vorwärts" ihres Konzepts der "Vorneverteidigung" einzubinden, damit im Idealfall des Notfalls der Sieg nach Tagen errungen ist, folglich von der BRD noch genug zum Regieren übrigbleibt und womöglich der atomare Vemichtungsschlag gar nicht mehr erst ausprobiert wird - wenigstens nicht vom unterlegenen Feind. Es ist eine Kalkulation auf Sieg im Blitzkrieg, die nur aufgehen kann, wenn sie zum internationalen Anliegen der "freien Welt" wird. Und das hat Konsequenzen über den Rahmen des Bündnisses hinaus.

Denn das ist ja klar: Nach dem Konzept "Abschreckung durch Überlegenheit" ist der Sieg - pardon: der Friede am sichersten, wenn die ganze Welt wie ein Mann gegen dea Hauptfeind des Westens zusammensteht. Der Weltfrieden, so wie die BRD ihn sieht und will, verlangt gebieterisch, daß nirgends auf der Weltkugel der Sowjetunion ein Fußbreit Bewegungsfreiheit und die Gelegenheit zu "Überraschungen" gelassen wird - also weltweit eine so gelungene "Eindämmung" des Hauptfeindes wie an der europäischen Front. Leider sieht die Sowjetunion die Sache mit dem Weltfrieden ungefähr genauso - bloß umgekehrt.

Gottlob sehen die NATO-Partner die Angelegenheit wiederum von derselben Seite wie die BRD. In logischer Konsequenz der gemeinsamen NATO-Strategie enthalten die mächtigsten unter ihnen die Hauptteile ihrer Streitkräfte dem gemeinsamen Bündnis-Oberkommando vor, um sie im Rest der Welt, außerhalb des NATO-Bündnisbereichs, wirksam werden zu lassen. Was umgekehrt bedeutet: Amerikanische, französische und britische Flottenverbände und Eingreiftruppen bevölkern die Welt nicht bloß, um ihre nationale Fahne aufzupflanzen, sondern im Interesse der gemeinsamen Sache.

So ist es also sehr gerecht und das Gegenteil von militärischer Zurückhaltung im imperialistischen Weltgeschehen, wenn die BRD wiederum ihren Verbündeten in Europa den Rücken freihält.