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Korrespondenz
"WARUM SOLL MAN VOR SOLCHEN BEWEISEN NICHT ERSCHRECKEN DÜRFEN?"
Betr.: "Rekrutenvereidigung in Bremen" (MSZ Nr. 3/80 S. 12)
Es gibt in der Tat das ziemlich weltfremde Urteil in der linken Szene, daß "vor den Toren des Weserstadions der eigentticlie Krieg stattgefunden habe", und daß die absehbaren Folgen des 6. Mai unbedingt darin bestehen müßten, die eigene sorgfältig gepflegte friedensliebende Würde zu bewahren, indem man die Welt vor den wahren, echten Gewalttätern - und das sind eben die Steineschmeißer - schützt und von ihnen gründlich säubert, was sicherlich ohne praktische Argumente wohl kaum gehen dürfte. Okay, diesen Punkt habt Ihr in dem Artikel zu Recht aufs Korn genommen.
Aber soll diese Reaktion der Linken auch schon gleich der Grund sein, von einer korrekten Kritik an denen Abstand zu nehmen, die versichern, durch einen sehr hautnahen Dialog mit den Hütern der Ordnung etwas gegen die Rekrutenvereidigung ausrichten zu können? Wir meinen: nein. Wenn Ihr hinschreibt, daß stets "das Erschrecken vor einem fliegenden Pflasterstein von einem einzigen Aufruf an die Gewalt begleitet ist, endlich aufzuräumen mit allen Kritikern von Staat und Armee", dann wird so getan, als ob ein Erschrecken vor der Rekrutenvereidigung und ein Erschrecken vor fliegenden Pflastersteinen gar nicht zusammenpassen. In den Artikel will offenbar dank des Hinweises auf die "kleine (soll wohl heißen: große) Differenz zwischen einem Pflasterstein und dem Militär" irgendwie keine rechte Kritik an der falschen Art und Weise zustandekommen, wie die 'Krawallmacher' ihren Gegensatz zum militärischen Gepränge vorgeführt haben. Es ist doch so, daß angesichts des Zwecks der Vereidigung, die Bürger moralisch fit zu machen für die kommenden Scharmützel, wirklich nichts anderes ansteht als Agitation der Bevölkerung. An der Frankfurter Iran-Demo wurde in Eurer Zeitung noch immerhin Kritik daran geübt, daß ein Teil der Demonstranten das Ansinnen des Protests erfolgreich vereitelte, indem dieser Teil ein praktisches Kräftemessen mit der Gegenseite ins Werk setzte, um so der Menschheit den ebenso blöden wie zynischen Beweis zu liefern, daß Widerstand doch tatsächlich möglich ist. Den Meinungsbildern in der Öffentlichkeit war dies in der Regel ein willkommener Anlaß, die Besprechung des Zwecks der Demo durchzustreichen und ihn qua Gleichsetzung mit unrechtmäßiger Gewalt zu ächten. Warum soll man vor solchen Beweisen nicht erschrecken dürfen?
Mit marxistischen Grüßen Heidrun F. und Ulrike P.
Erschrecken, wo es angebracht ist
Ihr stimmt uns zu, daß die Vorgänge im und vor dem Stadion nicht in einen Topf zu schmeißen oder gar auf den Kopf zu stellen sind, landet dann aber auf Umwegen doch wieder bei der Gleichsetzung - über die Wirkung auf Euch: Ihr seid über beides erschrocken und verlangt deshalb nach dem Grundsatz 'Kritik gerecht nach allen Seiten verteilen!' unbedingt auch eine Absetzung von den Vorgängen vor dem Stadion. Angesichts einer von öffentlicher wie linker Seite so sauber geführten Gewaltdebatte, halten wir es allerdings für nicht richtig, unbedingt auch an den Vorgängen vorm Weserstadion eine 'korrekte Kritik' anzubringen. Agitation heißt nämlich nicht, zu allen das Richtige sagen, sondern mit richtigen Argumenten die jeweils ins Feld geführten Ideologien der Adressaten zu bekämpfen. Und Adressaten waren bei dem MSZ-Artikel Studenten, die bestenfalls Euer Problem wälzen, ob man mit solchen Formen des Protestes nicht die Bürger 'unnötig' gegen sich aufbringt und richtige Agitation diskreditiert.
Mal ehrlich: Seid Ihr nicht deswegen über die 'Krawalle' so erschrocken, weil Ihr Euch dadurch in eine Auseinandersetzung mit 'der Bevölkerung' hineingezogen fühlt, die Ihr für vermeidbar haltet; weil ihr meint, man brauche den Leuten mit demonstrativer Unparteilichkeit nur das richtige Argument zu liefern, dann seien sie auch empfänglich für Kritik. Versucht einmal Bekannte oder Fremde damit zu gewinnen, ihr wäret über die Militarisierung erschrocken, aber über diese Form des Protestes auch, weil Ihr sie für unzweckmäßig hieltet. Die werden Euch ganz schnell auf demokratischen Anstand und die schönen demokratischen Freiheiten festlegen, in deren Schranken Protest allenfalls erlaubt ist, und Euch vorwerfen, Euch nicht genügend zu distanzieren. Ob Ihr es wollt oder nicht, dann habt Ihr Eure Gewaltdebatte und die saubere Gleichung: Wer gegen militärisches Gepränge ist, der muß zuallererst und vor allem gegen die gewalttätigen Randalierer sein. Die Bevölkerung hält nämlich die Vereidigung höchstens für einen unnötigen 'faux pas', wenn nicht gar für begrüßenswert, die vereinzelten Pflastersteine und umgestürzten Autos aber auf jeden Fall für den Beweis, daß die Kritiker die Gewalttäter sind. Und darauf wird von der versammelten Linken auch noch selbstanklagend und -rechtfertigend eingegangen.
Mag sein, daß sich gegen die Weise des Protestes alles mögliche einwenden läßt - was etwas ganz anderes als eine Gewaltdebatte ist. Aber einen Gegensatz von Protest und Agitation aufzumachen und bei der Kritik der Öffentlichkeit und ihrer Parteinahme in Sachen Gewalt unbedingt noch anbringen zu wollen, daß man auch kein Befürworter der 'Bremer Krawalle' ist (als ob einen jemand nach seinen Gründen gefragt hätte), das läuft immer auf eine Selbstverpflichtung zur Friedfertigkeit und 'Objektivität' hinaus, die der Öffentlichkeit den unverschämten Gefallen tut, den sie von einem verlangt: sich ein Problem der Berechtigung der eigenen Kritik zu machen.
Insofern waren unsere damaligen Ausführungen zur Frankfurter Demonstration und der von aller Welt heuchlerisch verlangten Distanzierung von solchen 'Exzessen' auch kein 'immerhin' sondern die Kritik, die wir zwecks Klarstellung gegenüber unseren Sympathisanten und Adressaten, nicht aber zur Agitation der studentischen oder sonstigen Öffentlichkeit für nötig hielten. Weder sollte dabei den kritisierten Demonstranten die Schuld an der öffentlichen Reaktion gegeben werden - die bürgerliche Öffentlichkeit findet immer Anlässe, zumal wenn sie es wie in Frankfurt, bewußt darauf anlegt -; noch haben wir für gewaltlosen Protest und eine Agitation in der Bevölkerung plädiert, die deren Abneigung gegen jede Kritik mit dem Argument, gegen Randalierer habe man ja auch was, aber..., auch noch entgegenkommt.
Wir werden uns also hüten, unabhängig von Gegnern und Adressaten immer und überall sehr gerecht, sehr distanziert und unparteilich jedem seine Fehler öffentlich aufzulisten. Angesichts der allgemeinen Friedensheuchelei, die sich so blendend mit den kriegerischen Mitteln der Friedensbewahrung verträgt, angesichts des linken Bekenntnisses, gerade in Zeiten öffentlicher Kalkulation der Staatsgewalt mit ihren militärischen Mitteln, Kritik extra verantwortlich, friedfertig und streng im Rahmen des Erlaubten vortragen zu wollen, also nur noch als Bitte, ihre Friedfertigkeit geflissentlich zur Kenntnis zu nehmen, sehen wir keinerlei Veranlassung, etwas anderes anzugreifen, als die erschreckende Einigkeit in Sachen Frieden - und Gewalt.
MSZ-Redaktion
"Die Kritik am realen Sozialismus von den bislang tönernen Füßen holen"
(Betr.: "Warum die Weizenwaffe trifft" in MSZ Nr. 2/1980 und Korrespondenz in MSZ Nr. 3/1980)
1. Ihr behauptet, daß "ein bißchen Naturwissenschaft und Technologie " mehr den Skandal der unzureichenden Versorgung aus der Welt schaffen könnte und bemeßt das "bißchen" am etliches aufwendigeren Etat für Rüstung/Militär. Diese These scheint mir in zweierlei Hinsicht allzu ungetrübt von näherer Tatsachenkenntnis. Erstens läßt sich mit ein bißchen mehr Technologie und "entsprechenden landwirtschaftlichen Methoden" noch lange nicht auf den Bodenertrag "vergleichbarer" amerikanischer Farmen kommen. Schon ein Blick in den Diercke-Weltatlas genügt, um herauszufinden, daß sich selbst die fruchtbarsten russischen Ertragsböden - die Tschernoseme - (die allerdings nur 10% der Fläche der SU ausmachen) in vergleichbar ungünstiger geographischer Lage befinden, da mindestens 10 Grad nördlicher als die amerikanische Schwarzerde; daß ansonsten die SU mit über 33% Podsol- und Bleicherden sehr ungünstige Bedingungen für ertragreichen Ackerbau aufweist. Da wird dann doch mehr als ein bißchen Technologie notwendig, die Tundren in Ackerboden umzuwandeln. Kurz, ihr handhabt mit der Entgegnung auf das revisionistische Entlastungsargument "Klimafaktor" viel zu lapidar, um ernsthaft aufzeigen zu können, daß und wie mit anderen Landwirtschaftsverfahren mehr rauszuholen wäre.
Zweitens benutzt ihr im diesbezüglichen Argumentationszusammenhang den Vergleich mit der Rüstungs- und Kriegstechnologie, unternehmt damit also eine Bewertung der Ressourcenverteilung, nach dem Motto Bildung (sprich Technologie... Erträge) rauf, Rüstung runter. Wenn ihr tatsächlich in der Richtung argumentieren wollt, am Rüstungssektor sei zugunsten des Agrarsektors zu sparen, müßtet ihr schon einige Fakten anführen, die u.a. belegen, daß die SU betreffs militärischer Ausgabeneinsparung Spielraum hat. Ansonsten bleibt ihr auf DKP-Niveau: soooviel Rüstung - sooowenig für Bildung!
Eine Argumentationshilfe: Sicherlich findet im revisionistischen Militärapparat dergestalt millionenfache "Verschwendung" statt, daß die Armee keinen Volksmilizcharakter besitzt und nicht als defensives Abwehrinstrument aufgebaut wurde, so daß sich ein Mithalten im Wettrüsten erübrigte. Wäre in der SU wenigstens annähernd der Weg zur Konsolidierung der Grundlagen des Sozialismus beschritten und stünden nicht permanent unbefriedigte Konsumwünsche der Bevölkerung gegen staatliches "heute für morgen"-Sparprinzip, wäre eine allgemeine Volksbewaffnung - nebenbei relativ kleiner Nuklearwaffenbereich - möglich und damit tatsächlich gewaltige Mittel frei u.a., zur Technologieverbesserung im Agrarsektor.
2. Ihr bezieht die Position, daß der niedrige Stand der Produktivität angesichts des seitens der Planer zwar nicht selbstkritisch als Planungsfehler reflektierten, so doch konstatierten Mangels an Düngemitteln, Mechanisierung, Ersatzteilen, qualifizierten Fachkräften etc. nicht verwunderlich sei. Diese Mängel führt ihr darauf zurück, daß sich die sowjetische Wirtschaftspolitik der "Lösungsmethode verschrieben" habe, die Wachstumsindustrie auf Kosten der Konsumtionsmittelproduktion vorrangig auszubauen.
Der logische Umkehrschluß dieser These: diese Probleme hätte der real-sozialistische Staat nicht, wäre er nicht so geil auf Förderung der Wachstumsindustrie, verursacht mir Kopfschmerzen, da damit eine grundsätzliche, tieferliegende Frage berührt wird:
Welche praktikablen Alternativen bieten sich industriell unterentwickelten Ländern nach antiimperialistischem Befreiungskampf - als solcher gilt mir die Oktoberrevolution -, wenigstens so nachholend zu industrialisieren, daß im Resultat eine weitgehende Unabhängigkeit bzw. Selbstständigkeit gegenüber dem imperialistischen Weltmarkt rauskommt?
Also das Problem als Kritik an Eurem Artikel auf den Nenner gebracht: Entweder nehme ich die Position ein zu sagen, es gibt generell keine Möglichkeiten für unterentwickelte Länder, aus der unmittelbaren Abhängigkeit vom Weltmarkt freizukommen, dann dürfte ich nicht - wie im Artikel - eine industrielle Akkumulation, die sich auf Kosten der agrarischen Produktion vollzieht, kritisieren, da es eh Jacke wie Hose wäre, ob sich die dortigen Machthaber über kurz oder lang in den Widersprüchen der einseitig vollzogenen Industrialisierung oder in Widersprüchen der zu langsamen agrarischen Akkumulation verheddern.
Oder ich gehe davon aus zu sagen, es gibt für solche Länder durchaus Möglichkeiten des Aufbaus der ökonomischen Grundlagen des Sozialismus... im Falle der SU ist diese Chance vertan worden... daran ist die Politik der vorrangigen Wachstumsindustrieakkumulation schuld... stattdessen hätte in stärkerem Maße die Konsumgüterproduktion ausgebaut werden müssen.
In dem Maße, wie Ihr hier nicht Stellung bezieht, wird die Quintessenz Eures weiteren theoretischen Vorgehens bezüglich Analyse und Kritik des realen Sozialismus unbegründet bleiben: Ihr kritisiert den realen Sozialismus, als gäbe es für diese Länder tatsächlich die sozialistische Perspektive, die aber mangelhaft realisiert worden sei, so daß das heutige Dilemma nicht verwunderlich ist. Von Eurem theoretischen background her - gerade in den "Resultaten" über Imperialismus nehmt ihr aber eigentlich die Position ein, aufzeigen zu wollen, daß der antiimperialistische Befreiungskampf bestenfalls eine Angelegenheit von äußerst geringem Antiimperialismus ist, demzufolge - egal was die bedauernswerten Brüder in solchen Ländern auch anstellen - am Ende immer Yankee-go-home lachend Rückkehr hält und dann sogar noch zeitgemäß verbesserte Ausbeutungsbedingungen vorfindet.
Ich wäre der Denker-Riege des MSZ-Kollektivs - der ich auf diesem Wege meine nie ganz ungeteilte Wertschätzung übermitteln möchte - sehr verbunden, wenn Ihr den Schleier dieses Geheimnisses gelegentlich etwas lüften könntet und die Kritik am realen Sozialismus von den bislang noch tönernen Füßen holtet.
Mit sozialiotischen Grüßen Gerald M.
Kein Problem von "Unterentwicklung"
Trotz unseres inzwischen sehr erweiterten Horizonts in der MSZ möchten wir doch lieber nicht mit Dir eine Debatte über mögliche Landwirtschaftsverfahren für Podsol- und Bleicherdeböden anfangen, da wir der Auffassung sind, daß auch für die Landwirtschaft im realen Sozialismus immer noch die Produktionsweise das entscheidende Argument ist. Zudem bist Du ja selbst der Meinung, daß der "Klimafaktor" - für die Bodenqualität trifft dasselbe zu - ein "revisionistisches Entlastungsargument" ist.
der von Dir als DKPmäffig gerügte Verweis auf den Rüstungssektor besagt ausschließlich, daß der Grund für die unzureichende Versorgung der Bevölkerung ebensowenig wie in schlechten Böden in einer "unterentwickelten" Naturwissenschaft und Technologie zu suchen ist. Ein Staat, der es in der Naturbeherrschung so weit gebracht hat, daß er Astronauten monatelang im Weltraum experimentieren läßt und seine Biologen mit so interessanten Forschungen wie der Züchtung von Seuchenerregern beauftragt, könnte sich durchaus auch für seine Bleicherden etwas einfallen lassen - wenn er es darauf anlegt!
haben wir keine "Bewertung der Ressourcenverteilung " abgegeben, sondern der Organisation der Landwirtschaft in der UdSSR einige Hinweise auf das politische Programm dieses Staatswesens entnommen. Die Sowjetunion hat nicht das Problem, das Du aufwirfst, sich gezwungenermaßen vor die Alternative einer "einseitigen Industrialisierung" bzw. "einer zu langsamen agrarischen Akkumulation" gestellt zu sehen, das ist eine apologetische Erfindung revisionistischer Ökonomen - die Vergangenheit ist nämlich heute vorbei. Die in der UdSSR betriebene ökonomische Planung beruht gar nicht auf der Überlegung, was wird gebraucht an Traktoren, Konsumtionsmitteln, Wohnungen usf. usf. und wie läßt es sich herstellen, sondern verpflichtet die Betriebe mit der "wirtschaftlichen Rechnungsfübrung" darauf, Gewinne für die Staatskasse zu erwirtschaften. Diese Politik bezweckt also gar keine Organisation der Produktion gemäß dem Bedarf der individuellen und produktiven Konsumtion, sondern erwartet sich die Bedarfsdeckung als automatisches Abfallprodukt einer Planung, die die Betriebe zuerst einmal als Einnahmequelle des Staates herrichtet, auf daß dieser mit den Gewinnen ein Steuerungs- und Gestaltungsinstrument, ganz viele "ökonomische Hebel-", in der Hand hat, um das revisionistische Gerechtigkeitsprogramm in Szene zu setzen. (Es ist dies der in die Tat umgesetzte Wunsch auch der Revis hierzulande, wenn sie sich darüber beschweren, daß der Staat zu wenig Einflußmöglichkeiten auf Konzerne und Multis besitzt, oder daß umgekehtt die Multis ihn 'unterjochen', und dabei die staatliche Beteiligung an der Ausbeutung fröhlich übersehen)
Eine unmittelbare Konsequenz dieser ökonomischen Planung ist die Tatsache, daß in diesem sogenannten Arbeiterstaat die Konsumtion der Leute als Lohn, also als die Gewinne beschränkender Kostenfaktor berechnet wird und daß auf der anderen Seite im staatlichen Budget die "Sozialausgaben" ebenso mit den anderen Posten konkurrieren. Selbst das von Dir so bezeichnete "heute-für-morgen-Sparprinzip" ist Ideologie -: eingeschränkt werden muß sich nicht für morgen, denn dann ist es wieder genauso, sondern zugunsten des staatlichen Programms. Zweitens bewirkt die Unterwerfung der Produktion unter den Zweck der Gewinnerwirtschaftung für den Staat alles andere als eine zielstrebige Entwicklung der Produktivität der Arbeit samt der Erleichterung der Arbeit; beides geschieht nur bedingt, gemäß der staatlich vorgegebenen Rentabilitätskalkulation und die hat es in sich: Sie schreibt nämlich eine Kostenminimierung vor, im Interesse größerer Abführungen an den Staat, die ein dauerhaftes Hindernis für die staatlich befohlene Erhöhung der Arbeitsproduktivität mit Hilfe technologisch entwickelter Maschinerie bildet. Resultat ist eine Akkumulation "neuen Typs": es wird industrialisiert, aber so, daß daneben immer wieder und immer wieder auf neuer Stufe Mangel erzeugt wird. Es ist ein eigentümlicher Mangel - in einer komplett industrialisierten Gesellschaft - in Kombination mit und als Folge von Verschwendung: wie z.B. diejenige, an veralteten Maschinen ganz viel Arbeit zu vergeuden, weil es für die Betriebe durch die staatlichen Vorschriften unrentabel gemacht wird, sich bessere Maschinen zu leisten; Verschwendung von Gütern, mit denen der Betrieb sein Gewinnsoll erfüllt, die aber als Gebrauchswerte nichts taugen; Verschwendung von Gütern, die wegen des ungenügenden - weil wieder Kosten verursachenden - Ausbaus des Transportwesens einfach verrotten; Verschwendung schließlich von beträchtlichen Teilen der Ernte, weil zur Erntezeit nicht genügend Traktoren vorhanden sind (u.a. auch Folge der seltsamen, weil erzwungenen Rentabilitätsrechnung der Kolchosen), was wiederum durch Sondereinsätze von Komsomolzen etc. ausgebügelt werden soll, eine sozialistische Form der Zwangsarbeit, die bei den Zwangsverpflichteten die entsprechende Widerspenstigkeit hervorruft. Du liegst also ziemlich daneben, wenn Du diese Ökonomie unter dem Gesichtspunkt knapper Ressourcen betrachtest, weil die spezifischen Knappheiten in der Sowjetunion noch allemal aus ihrer ökonomischen Politik resultieren und keineswegs aus dem Widerspruch ungenügend entwickelter Produktivkräfte gegenüber den Erfordernissen einer außenpolitisch notwendigen Selbstbehauptung. Im übrigen ist dort, wo es der Staat darauf anlegt, von Knappheit nichts zu bemerken: Fürs Militär ist alles Erforderliche vorhanden und sogar für solchen Mist wie eine Olympiade ist der Staatsetat zu haben. Was so an Produktivkräften in der Sowjetunion mittlerweile herumsteht, würde lässig für eine ziemlich komfortable Versorgung der Sowjetbürger genügen - wenn nicht ihr Staatswesen andere Absichten hätte.
4. Diese sind auch am Militär auszumachen. Was Du als "Verschwendung" bezeichnest, folgt nicht aus innenpolitischen Gegensätzen, aufgrund derer der Sowjetstaat es sich nicht leisten könnte, seiner Bevölkerung ein Gewehr in die Hand zu geben. Das kann er - seine Soldaten in Afghanistan benutzen die Schußwaffen ja auch nicht zur Revolution, sondern führen getreulich Krieg. Der sowjetische Militärapparat stellt auch keine Verschwendung dar gemessen an den Kriterien, die ihm zugrundeliegen, nämlich denen der sowjetischen Außenpolitik, die mit den USA um den Spielraum einer Weltmacht konkurriert.
Ein Staat, der sich U-Boote in sämtlichen Weltmeeren leistet, der sich mit dem gesamten Waffenaufgebot von konventionell bis nuklear auf eine Strategie der Kriegsführung in allen Stufen der Eskalation vorbereitet, hält sich sein Militär nicht zur Verteidigung einer antiimperialistischen Revolution. Für diesen Zweck würde ein Minimum davon genügen, nämlich genau so viele und so wirksame Zerstörungsmittel - also gerade keine "Volksmiliz" -, um den USA gegenüber die Drohung glaubhaft zu machen und das heißt, notfalls auch realisieren zu können, daß sie einen Angriff auf die Revolution bitter bezahlen müßten. Was die Sowjetunion aber mit ihrem Militär anstellt, ist alles andere: Im Vietnamkrieg (Genaueres Resultate Nr. 5) hat sie weltpolitisch taktiert und ist nur darin den USA ein Hindernis gewesen. Was Afghanistan betrifft, sagen ja inwischen zumindest führende Politiker der Sowjetunion die Wahrheit, daß es sich nicht um eine aufopferungsvollen Feldzug zugunsten des afghanischen Volkes gehandelt hat, sondern um einen rein strategischen Einsatz. Auch die "Zwänge" des Militärs sind also welche, in die sich die Staatsmänner der Sowjetunion sehr freiwillig hineinbegeben haben, weshalb es grundfalsch ist, sich in Anbetracht dieses Staats die Unnnöglichkeit einer "sozialistischen Perspektive" einfallen zu lassen, anstatt die Politik zu erklären und zu kritisieren, die sie betreibt und die sich dabei immerzu auf die "sozialistische Perspektive" beruft, die Du Dir vorstellst.
5. Was den Befreiungskampf in der sogenannten 3. Welt betrifft - und der ist objektiv mit ganz anderen Bedingungen konfrontiert als es die Oktoberrevolution war (die es vor dem 2. Weltkrieg noch nicht mit der Weltmacht zu tun hatte) und die Sowjetunion heutzutage ist -, darüber gibt es wirklich nicht viel Optimismus zu verbreiten. Das liegt zum einen an der politischen Zielsetzung all dieser Befreiungskämpfer siehe Simbabwe (MSZ Nr. 2/80), Nicaragua (MSZ Nr. 4/80) ebenso Cuba (MSZ Nr. 32/79), die nichts weiter darstellt als die Anpassung von Freunden einer garantiert eigenstaatlichen Souveränität an die ökonomische und militärische Erpressung, die der Imperialismus solchen Ländern gegenüber ausüben kann. Zum anderen aber - deshalb ist es so verkehrt, die heutige Sowjetunion auf der gleichen Ebene wie 3. Welt-Revolutionen unter dem Gesichtspunkt 'Unmöglichkeit einer sozialistischen Perspektive' zu behandeln - liegt es daran, daß die Sowjetunion dieser Erpressung nicht so, wie es sich für revolutionäre Politik gehören würde, entgegentritt. Stattdessen bündelt sie mit den übelsten Staatswesen und taktiert um Einflußsphären, wie es ihr zur Stärkung ihrer Position opportun zu sein scheint.
Schließlich - wäre Deine Problematisierung der "sozialistischen Perspektive" zutreffend, wäre die von Dir vorgestellte Zwangslage wirklich existent, und gäbe es keine Alternative dazu, die eigenen Leute so zu schikanieren, dann wären wir uns, ehrlich gesagt, zu schade dafür, einen solchen Staat zu machen. Von denen im Ostblock ist aber nicht einmal ein kleines 'leider' zu hören. Ganz im Gegenteil: Die Unverschämtheit, mit der dort die Massen immer wieder erneut dafür, hergenommen werden, die staatliche Politik und deren Konsequenzen auszubaden, hält dem Vergleich mit westlichen Politikern durchaus stand.
6. Zum Schluß gestatten wir uns doch noch einen kleinen Ausflug in die Landwirtschaft, deshalb weil es der gute Leonid in seinen Erinnerungen so schön anschaulich vorführt, wie die Revi-Politik aussieht. Wenn er auch die Neulandgewinnung in den fünfziger Jahren beschreibt - daß diese sogenannte "Epopöe" jetzt als ruhmreiches Dokument herausgebracht wird ohne eine Spur von Selbstkritik, beweist, daß der geschilderte Raubbau an menschlicher Arbeitskraft und an der Natur nach wie vor als legitime Methode sozialistischer Ökonomie betrachtet wird.
"Waren wir von vielen Wissenschaftlern gewarnt worden, daß durchgängiges Aufpflügen die Steppe in eine unfruchtbare Wüste verwandeln kann? Natürlich, und wir hatten das auch berücksichtigt. Die agrotechnische Politik der Partei auf dem Neuland beruhte - kurz gesagt - darauf, die negativen Folgen eines Eingreifens des Menschen in die urwüchsige Steppennatur auf ein Minimum zu reduzieren, höchstes Ackerbauniveau durchzusetzen und anschließend ein dieser Dürrezone gut angepaßtes Ackerbausystem zu schaffen. Wie dieses System jedoch konkret aussehen sollte, wußten wir anfangs nicht und konnten (?) es auch nicht wissen... Wir wußten, was unserer harrte, aber wissen ist eins, und etwas anders ist es, wenn man zusehen muß, wie die kostbare, mit so viel Schweiß und Mühe abgerungene Ernte zugrunde geht. ... So sammelten wir Schritt für Schritt Erfahrungen. Aber neben Erfolgen gab es Mißerfolge. Die Voraussage von Wissenschaftlern, daß eine Winderosion eintreten könne, begann sich zu bewahrheiten..."
Für solche "Schicksalsschläge" ebenso wie für die Beendigung der Anlage von Waldschutzstreifen, die die Windgeschwindigkeit bremsen und die Verdunstung verringern sollten, dafür lassen sich nun weder die Böden noch der Wind oder der Breitengrad verantwortlich machen. In den 50er Jahren wurden dafür jedenfalls Kostengründe ins Feld geführt.