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Dieser Artikel ist in der MSZ 4-1980 erschienen.

Systematik

Gesundheitswesen
ÖKONOMISIERUNG DER KRANKHEIT

Daß die medizinische Sorge um den pflichtversicherten Teil der Menschheit keineswegs in der unbedingten Bereitstellung von medizinischem Wissen und Können liegt, sondern im Gegenteil ganz wesentlich von der Kalkulation mitbestimmt ist, ob sich der Aufwand lohnt, ist sowohl für den Mediziner als auch für den Patienten eine Selbstverständlichkeit.

Wo sich kein Arzt der Einsicht versperrt, daß es einen "vernünftigen Umgang mit ärztlichen Mitteln und Leistungen" zu geben hat, sind auch die betroffenen Patienten nicht unempfindlich für die Berechtigung von Kosten-/Nutzenkalkulationen in bezug auf die Gesunderhaltung. Man weiß ja selber viel zu gut, daß ein Kranker seiner Umwelt vor allem eine Last ist. Und daß "unser" Versicherungssystem schamlos ausgenutzt wird, den faschistischen Spruch ist jeder Normalbürger schon einmal losgeworden, so daß sich auch bei ihm nicht selten das schlechte Gewissen einstellt, wenn er in die Lage kommt, als Stammkunde der Ärzte aufzufallen.

Grenzfragen der medizinischen Ökonomie

Der Gesetzgeber kann sich beim Kampf gegen 'überzogene Ansprüche' ganz auf die "Selbstverwaltungsorgane des öffentlichen Gesnndheitswesens" verlassen, die die in ordentlicher Weise zu Papier gebrachten Kodifizierungen dieses Zustandes, den Betroffenen Gesundheitsmaßnahmen zuzuweisen oder sie davon auszuschließen, mit Hilfe des Onkel Doktors durchsetzen:

"Ist die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten infolge von Krankheit oder anderer Gebrechen... gefährdet oder gemindert und kann sich voraussichtlich erhalten, wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden", so gewährt der Träger "alle erforderlichen medizinischen Maßnahmen, vor allem Behandlungen in Kur und Spezialkliniken."

Ist der Patient aber bereits erfolgreich verschlissen, daß ein erneuter Einsatz als Arbeitsmaterial nicht in Frage kommt, fallen die Kriterien natürlich etwas anders aus. Daß es von sehr zweifelhaftem Nutzen ist, auf ein körperliches Wrack noch umständliche und kostspielige Gesundheitsmaßnahmen zu verschwenden, steht fest. Was von dem übriggebliebenen Stück, Mensch noch zu halten ist, ergibt die Berechnungsgrundlage für die Legitimierung medizinischer und sonstiger Leistungen, so daß vor Gericht solche Fälle verhandelt werden wie die Weigerung einer Krankenkasse, die Anschaffung eines Rollstuhls für einen geistig Behinderten zu bezuschussen. Was braucht ein Depp auch schon in der Welt herumzufahren, oder - philosophisch ausgedrückt - wird unter dem Apparat medizinischer Versorgung nicht der letzte Rest menschlichen Lebens erstickt? Wo noch von Wiederherstellbarkeit gesprochen werden kann und wo das defekte Gesundheitswesen abgeschrieben werden muß, ist eine interessante Grenzfrage, die die genaue Taxierung der Brauchbarkeit wie z.B. die Berechnung in Invaliditätsprozenten erfordert. Die Kategorien der (Noch-)Verwendbarkeit werden sorgfältig differenziert ebenso wie die Frage der Krankheitsursache. Ob ein Leiden wirklich als in verantwortungsvoller Berufsausübung erworben oder nicht vielleicht doch einfach selber zugelegt definiert wird, ob es sich also um eine Berufskrankheit handelt oder um eine "private", davon hängt es noch sehr ab, auf welche Leistungen Ansprüche erhoben werden dürfen. Ebenso behält sich der Staat die Entscheidung vor, mit welchen medizinischen Leistungen er einen Menschen für genügend wiederhergestellt oder gebessert ansehen will, um wieder als Gesunder beansprucht zu werden.

Es wird also ein differenziertes Gesundheits"denken" gepflegt, was aber selbstverständlich nicht heißt, daß damit dem Staat die Sorge um die" Kostenexplosion" im Gesundheitswesen abgenommen worden wäre. Ihm ist die Gesunderhaltung immer zu teuer, weswegen er sanft auf "Kostendämpfung" dringt. So hat die Reformkoalition das Gesundheitswesen um das "Krankenversicherungskostengesetz" bereichert, das im Bereich der ambulanten und Arzneitherapie Höchstverordnungsgrenzen festgelegt hat: ein gelungenes Mittel, dem Eigeninteresse des Kassenarztes an der Versorgung des "Patientengutes" einen wirkungsvollen Dämpfer zu versetzen: Verordnet er zuviel, darf er selbst bezahlen, womit dafür gesorgt ist, daß andere die Zeche zahlen. Besagte Organe der gemeinsamen Selbstverwaltung haben neuerdings eine Neufassung der "seit Jahrzehnten bestehenden Arzneimittelrichtlinien" beschlossen - wobei der Staat sie nur "wie üblich veröffentlich" hat -, die etwa 300 Arzneimittel gegen "geringfügige Gesundheitsstörungen" nicht mehr auf Krankenkassenrechnung zu verordnen erlaubt: Schlafmittel, Schnupfenmittel, Präparate gegen niedrigen Blutdruck sowie gegen Durchfall, Venenmittel und Mittel für Mund- und Rachendesinfektion. Die verschiedenen Unzuträglichkeiten - von "Krankheiten" kann ja nach den Richtlinien nicht die Rede sein - in Kauf nehmen oder selber für die Mittel zur Abhilfe blechen, das ist eine Alternative, die den mündigen Patienten fordert.

Eindeutige Orientierungshilfen

Weitere eindeutige "Orientiernngshilfen für die Krankenkassen" auf dem "Weg in die achtziger Jahre" werden vom Ärzteblatt selecta ungerührt so zusammengefaßt:

"Obwohl keine Chance auf Heilung besteht, sind teuere Behandlungen notwendig. Auch überflüssige Leistungen (Operationen), allzu langer Krankenhausaufenthalt, kostspieliae Kuren oder übertriebener Arzneimittelkonsum werden von den Experten kritisiert." (7/80)

Aufregen tut sich ein bundesdeutscher Arzt keineswegs bei Expertisen dieser Art über die kaltblütig ausgesprochene Empfehlung, die Heilung des vom Staat krankgesprochenen Gesundheitswesens durch die Vorenthaltung von Therapien zu betreiben. Er ärgert sich allenfalls über die implizite Unterstellung, die Kassenärzte würden sich aus

"ihrer Verantwortung für Kostendämpfung und stabile Qinanzielle Verhältnisse unseres Krankenversicherungssystems"

stehlen. Vorschläge einer hohen Dame vom Staat -

"Warum soll dem Patienten nicht auch im Sprechzimmer gesagt werden, aus welchen übergeordneten und den Einzelinteressen der Patienten vorgehenden Gesichtspunkten der Gesetzgeber hat Regelungen treffen müssen, die nur bei oberflächlicher Betrachtung als nachteilig erscheinen können." (Antje Fuchs am 16.11.79) -

werden achselzuckend als sachfremde Einmischungen zur Kenntnis genommen. Daß man in den zur Verfügung stehenden 3 1/2 Minuten keine Zeit für Nachhilfeunterricht in Staatsbürgerkunde hat, sondern sich gründlich um Herz und Nieren kümmert, ist doch auch im Interesse des Patienten - schließlich ist das Wartezimmer voll von Leuten, die noch früh genug und ohne viel Worte die Resultate der den Einzelinteressen vorgehenden Gesichtspunkte zu spüren bekommen.

Daß die Patienten nicht nur das gutwillige Material zur Abarbeitung der "Einzelleistungsvergütung" sind ("recht schönen Dank auch, Herr Doktor"), sondern letzten Endes die Schuldigen an der "nahezu ungebremsten Kostenentwicklung im Gesundheitswesen" -an dem Punkt sind sich Praktiker wie Experten und Staatsvertreter wieder einig: Die Bundesbürger

"setzen sich mit wachsendem Wohlstand immer mehr mit ihrer Gesundheit auseinander und sind ganz im Vertrauen auf die Medizin - immer weniger bereit, auch kleinere Beeinträchtigungen der Gesundheit zu ertragen." (selecta 7/80)

Da erinnert man sich gerne an die Nachkriegszeit, als die Leute nicht wußten, ob die Magenschmerzen vom Hunger oder von Krankheit herrühren. Heute beanspruchen die Wehleidigen

"dadurch natürlich alle Gesundheitseinrichtungen mehr als je zuvor und treiben dabei vor allem im Bereich der Medizintechnik die Ausgaben der Kassen in die Höhe." (ebd.)

Der Beitrag der Ärzte

Natürlich will sich keiner von der Ärztemafia selber das Wasser abgraben und keiner, der in solchen Reden über die eingebildeten Krankheiten und die verrückten Patienten, die einem wegen jedem Scheiß die Tür einrennen, herzieht, schickt reihenweise die Leute wieder nach Hause mit dem Bescheid, daß ihnen nichts fehlt. Schließlich hat der Ärztestand in der Behandlung der nicht zu knapp vorhandenen Krankheiten seine Verdienstquelle und wird ihm d a hereingeredet, schlägt er mit voller Wucht der Hippokrates-bis-Albert-Schweitzer-Moral zurück. Für den Fall werden dann auch die Patienten mit Aushängen in den Wartezimmern aufgehetzt, wo ihnen mitgeteilt wird, daß sie sich über den Angriff auf die ärztliche Freiheit als einen auf ihre Gesundheit aufzuregen haben. Aber in ihrer eigentlichen Verantwortung und Einnahmequelle haben die Ärzte ja auch nichts zu befürchten, und so verträgt sich ihr "humanitärer" Auftrag bestens mit den reaktionären Ideologien, die sie sich daneben halten. Der freundlich-herablassende Onkel Doktor aus der Sprechstunde mokiert sich außerhalb über die Simulanten, die ihn "belästigen", oder entrüstet sich, je nach Naturell, über die Verantwortungslosigkeit gegenüber unserem sozialen Versorgungssystem, die sich unter der Menschheit breitmacht. Beschimpfungen dieser Art sind bei der Ärzteschaft so beliebt, daß sie auch nach Feierabend in höheren Sphären Anklang finden. Und so lassen sie sich auch mal gerne von einem emeritierten Professor der Chirurgie, der, wäre er nicht privatversichert, längst unter die Rubrik 'demographisches Risiko' fallen würde, auf das "Feld des Unerforschlichen" führen. Dort führt er, auf dem Feld der schönen Rede, die Beschimpfung des Anspruchsdenkens der Leute zu einer Spekulation, was Gesundheit eigentlich sei, weiter:

"Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Störungen. Gesundheit ist die Kraft, mit ihnen zu leben." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.3.80)

Mit dieser programmatischen Leitlinie hat dieser Herr, der

"zutiefst das Menschliche respektiert, daß Wohl, Würde, Individualität und Freiheit das höchste und ureigenste Gut ist, das der Mensch ins Spiel der Kräfte einbringt",

bewiesen, daß er weiß, wovon er spricht: Der kalkulierte Umgang mit dem Patientengut gelangt aus dem Dunstkreis von staatlich vorgegebenen Verordnungen zu einer aus der Sache begründeten medizinischen Notwendigkeit, deren oberstes Ziel die "Annahme" des ihnen "auferlegten Lebens" durch die Kranken ist.

Mit einem solchen Therapieplan ist der Arzt gegen das "Paradoxon" gewappnet, daß die "steigende Vervollkommnung der ärztlichen Kunst wohl dem Individuum zugute kommt, die menschliche Gesellschaft aber ruinieren muß."

Dieser Aufruf zur Gewalt wurde standesgemäß mit moderatem Beifall von der Zuhörerschaft aufgenommen.