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Dieser Artikel ist in der MSZ 3-1980 erschienen.

Systematik

Das jugoslawische Modell
DIE SELBSTVERWALTETE HERRSCHAFT

Das Credo der jugoslawischen Kommunisten heißt "De-Etatisierung". Als einziger der sozialistischen Staaten insistieren die Jugoslawen ausdrücklich auf dem "Absterben des Staates" in der Übergangsgesellschaft:

"Daher zeigt sich, nach der Festigung der Macht der Arbeiterklasse und der werktätigen Menschen im allgemeinen, die Frage des allmählichen Absterbens des Staates als grundlegende und entscheidende Frage des sozialistischen Gesellschaftssystems." (Programm des SKJ, des Buudes der Kommunisten Jugoslawiens, S. 45)

Damit wird bereits im Programm des SKJ deutlich, daß sie anderes im Sinn haben als ehemals Marx und Engels, die das "Absterben des Staates" gerade nicht für die "grundlegende und entscheidende Frage" in der Übergangsgesellschaft ansahen. Das bekannte Engels-Zitat aus dem Anti-Dührung (es gehört zu den Lieblingszitaten der jugoslawischen Kommunisten) -

"Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem anderen überflüssig und schläft dann von selbst ein. (...) Der Staat wird nicht 'abgeschafft', er stirbt ab." (MEW 20, S. 262) -

wird ins Gegenteil verfabelt. Wo Marx und Engels darauf verwiesen, daß es keiner von den Produzenten getrennten politischen Gewalt über diese bedarf, wenn jedem Gegensatz zwischen ihnen ökonomisch der Boden entzogen ist, wo folglich das "Problem" der Staatsgewalt nicht mehr existiert, daraus machen die jugoslawischen Kommunisten ein ganzes Programm für das "Absterben des Staates". Es wird für sie zur gesonderten Frage, deren "Lösung" sie seit drei Jahrzehnten hartnäckig mit immer umfangreicheren verfassungsrechtlichen Anstrengungen betreiben. Erfolge dürfen dabei nicht ausbleiben: "Worin ist bei uns der Beginn des Absterbens des Staates zu sehen?",

fragt Tito und antwortet:

"Ich werde nun folgende Beispiele anführen. Erstens die Dezentralisierung der staatlichen Verwaltung, besonders der Wirtschaft. Zweitens die Übergabe der Fabrikern und der Wirtschaftsbetriebe überhaupt an die Arbeitskollektive zur weiterein Verwaltung usw. Die Dezentralisierung, nicht nur der Wirtschaft, sondern auch des politischen, kulturellen und sonstigen Lebens, trägt schon an sich nicht nur zutiefst demokratisches Gepräge, sie birgt auch den Keim des Absterbens des Zentralismus wie des Staates überhaupt als eines Zwangsapparates in sich." (Tito, S. 141)

Staatsabbau mit 406 Verfassungsartikeln

Erfolge in der 'De-Etatisierungskampagne' sind tatsächlich leicht auszumachen, wenn die De-Zentralisierung der vorhandenen Staatsgewalt, wenn die Beteiligung aller Jugoslawen an ihrer Exekution - vornehm 'Verwaltung' genannt - vor allem in den Bereichen, in denen sie sich ökonomisch für den Reichtum der Nation einsetzen sollen, als deren Eliminierung ausgegeben wird. Es ist dabei ein sehr bewußter Irrtum, wenn Tito diese staatliche Organisation des gesamten gesellschaftlichen Lebens, also eine Form der Ausübung der Staatsgewalt, mit dem Beginn ihres Absterbens gleichsetzt. Der Hinweis auf das "zutiefst demokratische Gepräge" ist korrekt: Die selbständige Bewältigung der Gegensätze, die der Staat mit seinem Interesse am ökonomischen Reichtum institutionalisiert hat, im Rahmen und nach festgelegten Grundsätzen seiner Herrschaft, die Partizipation der Staatsbürger und politischen Unterorganisationen an der Ausführung aller möglichen politischen und ökonomischen Entscheidungen der Zentralgewalt - und nichts anderes heißt e-Zentralisierung - ist die Beteiligung des Volkes am Prozeß der Gewaltausübung des Staates über es. Kein Wunder, daß nach 25 Jahren dauerhafter Erfolge auf diesem Gebiet für die jugoslawischen Kommunisten schließlich gerade die "De-Etatisierung" des Staates eine neue, wunderschöne Begründung für die weitere Notwendigkeit einer staatlichen Gewalt abgibt, die niemand besser formuliert als der erste jugoslawische Staatsmann selbst: Mit der Verfassung von 1974 werden durch den Ausbau der Selbstverwaltung

"zahlreiche Fragen gelöst, die bisher vom Staat gelöst worden sind. Das bedeutet natürlich nicht, daß der Staat überflüssig wird. Im Gegenteil (!), unsere Gesellschaft braucht den Staat nach wie vor, nicht nur zum Schutz der Gesellschaftsordnung... Er ist auch zum Schutz der Selbstverwaltungsrechte der Werktätigen und des gesellschaftlichen Eigentums... notwendig." (Tito, S. 328)

Zwang zur Selbstverwaltung

So löst sich für die jugoslawischen Kommunisten ihr "De-Etatisierungs"-Problem glänzend und fast widerspruchslos: Da der Staat offensichtlich einfach nicht überflüssig werden will, wird es zur Staatsaufgabe Nr. 1, dem nicht nur nachzuhelfen, sondern den Staat mit der nötigen Macht auszustatten, um eben jenen "Auflösungsprozeß" auch vor inneren Widerständen zu schützen: Das jugoslawische Volk bekommt ein "Recht auf Selbstverwaltung" (Verfassung, Art. 155) verpaßt, dem sich einige Artikel weiter die Verpflichtung zur Selbstverwaltung zwanglos anschließt (Art. 158). Wehe also, wer sich vor der Selbstverwaltungsverpflichtung, vor seinem Beitrag zur "Abschaffung des Staates" drückt, der bekommt dann eben die staatliche Gewalt in der einen oder anderen Form zu spüren: in Partei und Gewerkschaft, am Arbeitsplatz, beim Lohn und vor allem bei den 'sozialen' Vergünstigungen bei Wohnungsvergabe usw.

Das Resultat von zwei großen und mehreren kleinen Verfassungsreformen seit 1948 ist also seiner verfassungsmäßigen Form nach ein 340 Seiten langes Konvolut mit 406 Artikeln, dem Inhalt nach eine grandiose Verstaatlichung des gesamten gesellschaftlichen Lebens. Ihre Verfassung - rühmen sich jugoslawische Publizisten -

sei "nicht nur die umfassendste, sondern auch die genaueste Verfassung, da sie praktisch alle Lebensbereiche berührt." (Bonac, S. 60)

Die Pflicht zur Selbstverwaltung wird nicht nur in der Produktion, sondern auch im kulturellen und sozialen Bereich, im Gesundheits- und Erziehungswesen und schließlich auch im sogenannten "gesellschaftlich-politischen Bereich", d.h. in der Gemeindeverwaltung, im Militär, im Bund der Kommunisten durchgesetzt. Letzteres ist nicht etwa ein faux-pas, sondern kennzeichnet den Witz der Verfassungsreform von 1974: Unter d em Motto

"Integration der Bereiche der Macht und der Arbeit" (Verfassung, S. 34)

schicken sich die jugoslawischen Kommunisten an, den "geschichtlichen Dualismus von Staat und Gesellschaft" (Verfassung, S. 33) endgültig zu überwinden. Wo es also erklärtermaßen die staatliche Gewalt noch neben und für die Selbstverwaltung braucht, läßt sich ihre "De-Etatisierung" am besten bewerkstelligen, indem man 1. "die Machtausübung zu einer Aufgabe der Selbstverwaltung" (Tito, S. 329) macht. 2. muß man dann noch ein Modell der "Integration" der gegensätzlichen Bereiche erfinden, wozu zunächst einmal der Bereich der "Macht" als ein notwendiger und neben den übrigen Bereichen der Gesellschaft "gleichrangiger" Bereich allgemeine Anerkennung zu finden hat. Der Rest ist dann einfach und erfordert nur die Phantasie einiger professioneller Modellbauer aus den Reihen kritischer Parlamentarismustheoretiker. Was dabei herauskommt, läßt sich nur im Schaubild zeigen.

Durchsteigen tut ohnehin niemand, was auch nicht nötig ist, denn wichtig ist allein, daß jeder Jugoslawe in mindestens einem gesellschaftlichen Bereich seine Delegationen wählt und damit als aktiver Bürger seinen Beitrag zur demokratischen Herrschaft leistet. Der Rest geschieht dann von allein und er hat sich sicher zu sein, daß jede Entscheidung eines Rates, einer Versammlung auf Gemeinde-, Provinz- bis hin zur Bundesebene nichts anderes als Ausdruck seines Interesses ist.

Sozialistisches Bewußtsein erforderlich

Ein Delegationsprinzip muß es allerdings schon sein, weil nämlich das Repräsentationsprinzip bürgerlicher Parlamentarismus ist, welcher den Werktätigen nicht gestatte,

"wirksam im politischen Leben und an der Organisation des Staates teilzunehmen." (Verfassung, S. 37)

Mit den Delegationen und den aus ihren Reihen gewählten Delegierten kann dies nicht mehr passieren: Denn

"in der Verfassung ist die neue Stellung der Delegierten durch die Bestimmung ausgedrückt, daß die Delegierten im Prozeß der politischen Beschlußfassung übereinstimmend mit den Richtlinien ihrer selbstverwalteten Organisationen und Gemeinschaften verfahren, jedoch" (für alle Fälle) "im Einklang mit den gemeinsamen gesellschaftlichen Interessen und Bedürfnissen." (Verfassung, S. 38)

Und wenn die Basis mal unerfüllbare Sonderwünsche hat, dann gibt es für den Delegierten das Recht,

"in seiner Stimmabgabe und Stellungnahme frei und selbständig zu entscheiden," (Bonac, S. 81)

denn ein "imperatives Mandat" würde, so lehren auch dortige Demokratietheoretiker,

"den Entscheidungsvorgang in den Versammlungen nicht allein erschweren, sondern unmöglich machen." ( Bunac, S. 71),

was für Jugoslawien erst recht stimmt, denn es geht ja um die "Integration von Macht und Arbeit" und nicht darum, die Wünsche und Interessen der jugoslawischen Werktätigen zur Geltung zu bringen. Dafür gibt es aber die Möglichkeit der Absetzung von Delegierten, wenn diese nicht über das notwendige "sozialistische Bewußtsein" verfügen und vielleicht die Massen zum "Spontaneismus", d.h. der Verfolgung ihrer kleinlichen Basissorgen verleiten, Folglich:

"Ohne den organisierten Einfluß des sozialistischen Bewußtseins, insbesondere des Bundes der Kommunisten, in grundlegenden naturgemäßen Zellen der Arbeit und der Gesellschaft, kann eine Delegationsform der politischen Organisation schwerlich ins Leben gerufen werden. Die Spontaneität würde die Manipulatiun der Arbeiterklasse und ihrer Interessen ermöglichen..." (Verfassung, S. 38)

Die proklamierte Trennung von Partei und Staat - ein weiterer Meilenstein der "De-Etatisierung" - bewährt sich hierbei bestens in der Arbeitsteilung zwischen Machtausübung und "Erziehung" zur Unterwerfung unter die jugoslawische Selbstverwaltung, welche zwischen der Partei und den übrigen Staatsorganen besteht. Auf diese Weise hat das Delegationssystem unter "pädagogischer" Anleitung des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens dazu beigetragen, daß in jeder Grundorganisation der Gesellschaft die Staatsnotwendigkeiten von den Delegierten an der Basis durchgesetzt werden mit viel gutem Zureden und Ermahnungen im Hinblick aufs große gemeinsame Ganze; und daß umgekehrt die Basis in den Grundorganisationen ihre Erwartungen vorbringen, selber relativieren oder kritisieren lassen darf, sich selber in irgendeine der Organisationen wählen lassen kann und die Genugtuung genießt, daß es aber auch kein Gremium in ihrem verstaatlichten Leben gibt, das nicht direkt oder indirekt auch durch ihre Wahlen zustandegekommen ist und aus ihren Delegierten besteht.

Verstaatlichung des gesamten Lebens

Letztlich dreht sich also alles um: Durch die jugoslawische Form der Verstaatlichung des gesamten Lebens per Selbstverwaltung und Delegationssystem sucht der jugoslawische Staat sein Volk, d.h. die Produzenten seines Reichtums, ohne die dauernde Anwendung direkter Gewalt-, Spitzel- und Geheimdienstmethoden voll in den Griff zu bekommen, indem er die Konstitution der staatlichen Instanzen und Teile ihrer Ausführung zur dauernden Aktivität des Volkes selber macht, so daß er diesem nicht einfach als getrennte, sondern als mehr oder weniger persönlich mitgetragene oder -gewählte Herrschaft gegenübertritt, um deren Entscheidungen, soweit sie seinen unmittelbaren Arbeits- und Lebensumkreis angehen, es mitstreiten, oder "seinen" Vertreter mitstreiten lassen darf.

Dort allerdings, wo sich Unzufriedenheit anders als in den Grundorganisationen und in einer konstruktiven oder - sofern eine neue Phase der Selbstkritik eingeleitet worden ist - in der offiziell vorgegebenen Weise hörbar äußert, weiß der jugoslawische Staat seine Machtmittel jederzeit zu gebrauchen. Demonstrationen von kroatischen Nationalisten, das Aufmucken von politischer Opposition oder Streiks werden notfalls auch niedergeknüppelt oder mit Parteiausschluß, Veröffentlichungsverbot u.a. wenigstens mundtot gemacht.