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Dieser Artikel ist in der MSZ 3-1980 erschienen.

Systematik

100 Jahre Fürsorgeverein
DER MENSCH LEBT NICHT VOM WARENKORB ALLEIN

Im vergangenen April gab es in Frankfurt einen Grund zum Feiern. Schon der Ort der Handlung, die Frankfurter Paulskirche, wie auch die Tatsache, daß eigens der Bundespräsident und der zuständige Ministerpräsident anreisten, ließ erkennen, daß es da um Höheres ging. Den Anlaß gab ein "Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge", nicht aber etwa dessen Auflösung, weil er vielleicht im Zuge der unaufhaltsamen Durchsetzung der bundesdeutschen "Wohlstands-" oder gar "Überflußgesellschaft" selbst überflüssig geworden wäre. Weit gefehlt: Der Festakt galt dem hundertjährigen Bestehen des Vereins, und mit der Würdigung vergangener Verdienste bei der Mitverwaltung deutschen Elends waren die besten Wünsche für das künftige Wirken des rüstigen Jubilars verbunden.

100 Jahre Fortschritt des Sozialstaats

Dabei ist der Fortschritt auf diesem Gebiete wahrlich ein Grund zum Feiern. Bei der Bismarck'schen Vereinsgründung hatte es bezüglich der Ziehetzung noch geheißen:

"...verhüten, daß eine Bedürftigkeit eintritt oder, wenn sie eingetreten, dahin zu wirken, daß ihre Folgen schnell wieder beseitigt werden und die wirtschaftliche Selbständigkeit wieder hergestellt wird.

d.h.

"Schutz der Armenbehörden gegen Mißbrauch durch Faule, Arbeitsscheue und Gesindel."

Beim bundesdeutschen Gesetzgeber hört sich das heute so an:

"Die Hilfe soll ihn (den Empfänger der Sozialhilfe) soweit wie möglich befähigen, unabhängig von ihr zu leben." (Paragr. 1 II BSHG)

"Sozialhilfe erhält nicht, wer sich selbst helfen kann..." (Paragr. 2 I BSHG)

"Wer sich weigert, zumutbare Arbeit zu leisten, hat keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt." (Paragr. 25 I BSHG)

Kein Wunder, daß der Bund, die Länder und viele Kommunen neben vielen privaten "sozial erfahrenen Persönlichkeiten" selbst Vereinsmitglieder sind.

Schließlich verdankt dieser Verein seine Existenz und seine Aufgabenstellung der Tatsache, daß die Armut eine schöne Tradition hat in diesem unserem Lande und eine glänzende Zukunft dazu, und daß der Pauperismus im kapitalistischen Sozialstaat nichts 'Systemwidriges' ist, sondern ein normaler Zustand. Auf den richtet man sich deshalb auch ganz selbstverständlich und möglichst kostengünstig durch entsprechende Organisation und zukunftsweisende Gesetze ein, deren Existenz sich dann als Beweis anführen lassen, daß bei uns die Armut angeblich nicht mehr existiert, weil niemand mehr ohne Sozialstaatsbeistand Not leidet.

Deshalb rühmte Gratulant Carstens auch ungeniert als "Hauptverdienst" des Deutschen Vereins,

"die Zersplitterung, Eigenbrötelei und Eigensucht, die es auch in Wohlfahrtsverbänden gäbe, überwunden zu haben." (Frankfurter Rundschau), also die organisatorische Leistung, die zu einer entschiedenen Rationalisierung und damit Verbilligung der Armenverwaltung führte. Der schon eingangs erwähnte SPD-Börner, der so aussieht, als würde er jeden Tag schon zum Frühstück mindestens zwei Warenkörbe eines gehobenen 'Haushaltstyps' verspachteln, übernahm den bei solchen Anlässen unvermeidlichen Part, beim Bereden der gegenwärtigen Armut den Vergleich mit früherem und/oder anderwärtigem Elend zu ziehen, um zu dem Resultat zu kommen, daß, wer heute "als sozial schwach" gilt, eigentlich, weil nämlich vergleichsweise, "wohlhabend" ist mit seinen 312,- DM monatlichem Regelsatz, was deshalb als "gewaltiger sozialer Fortschritt der letzten 100 Jahre" und "Relativierung des Begriffs "Not" zu betrachten sei.

Restprobleme - Die Opfer der Theorie

Freilich: Wenn auch mit den erwähnten 312,- DM die "Sicherstellung des Lebensunterhaltes" bestens geleistet ist, so bleiben doch noch einige "menschliche Probleme" zu lösen, weil - so der Ministerpräsident aus eigener Erfahrung - "der Mensch allein vom Brot nicht leben kann". Besonders auf die "Anonymität der Systeme der sozialen Sicherheit" ist das Augenmerk zu richten, da es, wie man hört, immer wieder dazu kommt, daß Bedürftige die fettesten Warenkörbe zurückweisen, weil sie befürchten, zum "verwalteten Objekt" zu werden.

Bleibt doch einmal "einer von denen, die unserer Hilfe bedürfen, auf der Strecke", so hat Börner einen originellen Tip hinsichtlich des Schuldigen parat: Es ist die

"theoretisch reizvolle Diskussion", der "Schulenstreit über die Ursachen..., die zur Fürsorgebedürftigkeit der Menschen führen",

der solches bewirkt, weshalb vor solcher Ursachendiskussion "nicht genug gewarnt werden kann". Wenn schon feststeht, daß bei unserer sozialstaatlichen Ausgestaltung der Armut der Pauperismus nur durch die Frage nach Ursachen verursacht werden kann, so ist erst recht der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, daß, wer überhaupt fragt, anderes vorhat als bei der Organisation des deutschen Massenelends - 2,1 Mio. Sozialhilfe-Empfänger, ca. siebenmal so viele mit Einkommen unter dem Sozialhilfesatz (Frankfurter Rundschau, 25.4.80) - mitzuhelfen.

Die guten Sozialhilfegeister

Wie nicht anders zu erwarten, mischten sich in den Jubelchor auch einige kritische Stimmen, die diesen Vorwurf widerlegen wollten. So die einer anständigen, sowohl von der Polizei als auch von sich selbst gut kontrollierten Demonstration von Sozialhilfeempfängern unter Anleitung ihrer staatlich besoldeten Sozialarbeiter und die einiger engagierter Intellektueller, die dem Jubilar ausgerechnet sein traditionelles Glanzstück, die Erstellung des Warenkorbes für die Armen (Haushaltstyp I, Rentner und Sozialhilfeempfänger) als eine

"nicht nur unter sozialstaatlichen Gesichtspunkten technisch schlechte Problemlösung" (Neue Praxis, April 80)

vorhielten.

Während der "Spiegel" (18/1980) die Tatsache, daß der Deutsche Verein den Klienten der Fsorge zur Stärkung des kostensparenden Willens zur Selbsthilfe das Lebensnotwendigste an Strom-, Heizöl- und Brotverbrauch mit verbindlicher Wirkung und genau kalkuliert so vorrechnet, daß immer zu wenig herauskommt, als "bizarr" und "weltfremd" charakterisiert und zum Anlaß mokanter Witzeleien macht, rechnen die professionellen Menschenfreunde von der Sozialarbeitsfront dem Staat vor, daß es nach ihrem Verständnis von Menschenwürde und Sozialstaatlichkeit die Sorte Armut, die es gibt, eigentlich gar nicht mehr geben dürfte:

"Er (der Warenkorb-Regelsatz) ist vielmehr als eine tief in die Gesellschaft eingreifende Trennschicht zwischen Armutsbevölkerung und einem Sozialprodukt zu begreifen, das solche Armut eigentlich nicht mehr zuläßt." (Neue Praxis, a.a.O.)

Wer nicht bemerken will, daß das grammweise Abzählen von Hering in Tomatensoße, Edamer Käse und Toilettenseife die einzige Existenzweise des Ideals der "menschenwürdigen Lebensführung" aus Paragr 1 BSHG ist; wer sich lieber neben den näheren gesetzlichen Ausgestaltungen der Menschenwürde in Paragr 22 BSHG (Festlegung des Regelbedarfs) eine andere eigentliche Vorstellung von der Würde des Menschen und den Zwecken des Sozialstaats macht, der sieht natürlich anstatt der konsequenten sozialstaatlichen Spannkeit gegenüber Leuten, die nichts außer Kosten bringen, die Kalorienzähler in einem ständigen Widerspruch zur Menschenwürde; der erwischt den Sozialstaat dauernd bei dummen Verstößen gegen die Prinzipien, die er ihm zuvor angedichtet hat, wie gegen ein Sozialprodukt, das doch, wie sein Name schon sagt, eigentlich nicht zuläßt, daß es nicht an die Armen verteilt wird.

Vom Standpunkt dieser Illusionen aus werden die absichtsvollen Gemeinheiten der Sozialhilfe zu lauter Fehlleistungen, die sich der "fehlenden Armutserfahrung" der Verantwortlichen, Gewohnheit ("eingeschliffene Strukturen"), schlechtem Stil ("kleinkariertes Mengenschema") oder einfach "fehlendem Durchblick" verdanken.

Der erfundene Widenpruch zwischen dem wachsenden Reichtum der Nation und "solcher Armut", wie der Kritiker sie bei den Kunden der Fürsorge vorfindet, weist schon darauf hin, daß dieser Widerspruch durch eine andere Sorte Armut, nämlich die, von einem Arbeitslohn leben zu können, eine von den Freunden der sozialen Wohlfahrt gebilligte Lösung finden könnte. Bloß ist die nicbt zu haben, weil das Kapital schließlich kein Verein für öffentliche und private Fürsorge ist, und die staatliche Fürsorge eben der entsprecbende staatliche Umgang mit den fürs Kapital Unbrauchbaren ist. Deswegen werden die guten kritischen Sozialhilfsgeister wohl noch weitere 100 Jahre vom Staat mehr soziale Prinzipientreue fordern und der Staat noch weitere 100 Jahre dem kapitalistischen Prinzip der Armut, die auf der Vermehrung des Reichtums beruht, hilfreich unter die Arme greifen. Es sei denn, es kommt irgendetwas dazwischen.

In seinem editorial vom 26. Mai stellt der "Spiegel" mit Stolz seine Mitarbeiterin, Frau Dr. Renate Merklein vor, "eine radikale Liberale", die mit ihren "provozierenden Thesen" die Redaktionskonferenzen, belebt. "Sie vertritt im Spiegel nur mit Verve ihre Meinung". Zum Sozialstaat hat Frau Dr. die provozierend liberalen Thesen neu ausgegraben, daß er Faulen und Arbeitsscheuen das Geld in den Rachen schmeißt:

"Insgesamt lebten 1977 bereits 2,5 Prozent aller in Westdeutscbland wohnenden 18- bis 25jährigen von den Zahlungen der Sozialämter. Und es spricht viel dafür, daß zumindest ein Teil dieser Jugendlicben nicht aus Mangel an Gelegenbeit, sondern aus freien Stücken den sicherlich scbnöden Gelderwerb am Arbeitsmarkt meidet und stattdessen das 'alternative Leben', das Leben von der gar nicht so mageren Sozialhilfe nämlich, vorzieht."

Frau Dr. Merklein hingegen, über deren Einkommen wir hier keine Vermutungen anstellen wollen, meidet die harte Arbeit keineswegs, zum tausendsten Mal die unverschämte Lüge vom köstlichen Leben mit der Sozialhilfe aufzuwärmen. Warum auch nicht, wenn man dafür schnödes Geld bekommt.