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Brasilien
EINE KRAFTPROBE MIT VORENTSCHIEDENEM AUSGANG
Die brasilianischen Generäle und das ausländische Kapital haben in den letzten Wochen erneut eine "Kraftprobe" mit Arbeitern und Gewerkschaft siegreich bestanden: Der Streik von bis zu 200000 Metallarbeitern im sog. ABC-Gürtel um Sao Paulo, wo u.a. der Volkswagenkonzern ein Zweigwerk mit ca. 40000 Beschäftigten unterhält, ging nach 6 Wochen zu Ende, ohne daß eine einzige der gewerkschaftlichen Forderungen durchgesetzt wurde.
Damit ist also wieder dafür gesorgt, daß VW und Co ihr Geschäft unter den gewohnten und lieb gewonnenen Bedingungen fortsetzen können, die ihnen die Militärs garantieren, die die "industrielle Entwicklung" ihres Landes dem ausländischen Kapital übertragen haben: Wegen des praktisch keinerlei Beschränkungen unterliegenden Umgangs mit dem Arbeitsvieh, der in Brasilien gepflogen werden darf, galt und gilt Brasilien für das Kapital als "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" (sprich Gewinne). Wie diese "Möglichkeiten" real werden, wird an den Forderungen deutlich, für deren Durchsetzung die Metallarbeiter am 1. April in den Streik getreten sind:
- Verminderung der wöchentlichen Arbeitszeit von 48 auf 40 Stunden.
- Erhöhung des Mindestlohnes auf 12000 cruzeiros (= ca. 500 DM) - gezahlt werden im Augenblick 5000, das Kapital bot 6000
- und eine Lohnerhïhung für alle um 15%. (Das Kapital bot 7%, die von den Gewerkschaften schließlich akzeptiert wurden.)
- Vierteljährliche Anpassung der Löhne an die Inflationsrate anstatt der vom Staat konzedierten halbjährlichen. Bei zur Zeit 80% Inflation im Jahr ein etwas schnelleres Hinterherhinken - ganz abgesehen davon, daß die staatliche Berechnung der Inflationsrate ohnehin schon den Reallohn ständig sinken läßt.
- Garantie von Arbeitsplatz und Lohn für 1 Jahr. Übliche Praxis des Kapitals ist es, die Arbeitsverträge auf wenige Monate zu beschränken, nach dieser Zeit die Arbeiter (je nach gezeigtem Arbeitseinsatz, Auftragslage etc.) entweder gleich zu entlassen oder sie - wenn sie wegen der erforderlichen Qualifikation nicht so einfach aus dem Heer der Arbeitslosen ersetzt werden können - durch neue Verträge um die in der Zwischenzeit erschufteten Zulagen etc. zu bringen.
- Schutz vor plötzlichen Entlassungen von mißliebigen Gewerkschaftlern und überhaupt die Möglichkeit, durch unzensierte Anschläge und die Anerkennung gewerkschaftlicher Vertrauensleute im Betrieb präsent zu sein.
Ein Kampf um Lohnarbeit
Während der gewerkschaftliche Kampf in den kapitalistischen Metropolen sich gegen die dauernde Gefährdung der Lohnarbeiterexistenz richtet, die eine Produktionsweise mit sich bringt, für die der Preis der Arbeit einen Kostenfaktor darstellt und damit Abzug vom Gewinn, so zeigen die Forderungen der Metallarbeiter von Sao Paulo, daß die Ausbeutung in Brasilien für ein Leben als Lohnarbeiter nicht einmal eine minimale Existenzgrundlage zuläßt. Die kapitalistische Produktion in Ländern wie Brasilien rentiert sich gerade wegen der geringen Kosten für die Arbeitskraft, die unter ihrem Wert bezahlt wird, also einen Lohn erhält, mit dem sich nicht existieren läßt. Da Firmen wie VW aus einem Heer von 'Arbeitslosen', das nicht angewandt wird, auswählen können, da für jeden aus der Produktion Ausfallenden zehn tausende einspringen, weil ein Hungerlohn angesichts des Hungerdaseins ein Privileg darstellt, hat der Lohn nichts mit einer Berücksichtigung der Existenznotwendigkeiten der Arbeiter zu schaffen, wie sie in den Ursprungsländern des Kapitals erkämpft worden ist. Er läßt sich als das Minimum kalkulieren, das genügt, um angesichts einer riesigen nicht-benutzten Bevölkerung das 'Angebot', sich einer rücksichtslosen Ausbeutung auszuliefern, als den immensen Vorteil dastehen zu lassen, überhaupt für Geld arbeiten zu dürfen.
Weil also das ausländische Kapital, das in den Metropolen mit Tarifautonomie, Mitbestimmung usw. seine Gewinne macht, in Brasilien die Vorteile der Existenz von Lohnarbeitern ohne ein gesellschaftlich durchgesetztes Lohnarbeitsverhältnis voll ausschöpft, und der Staat den internationalen Konzernen diese Freiheit erhalten und sichern will, weil er die Grundlage ihres "Engagements" darstellt, wird jede Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit zum gewaltsamen Prinzipienstreit um die Erhaltung dieser Vorteile, der mit aller Rücksichtslosigkeit geführt wird - zumindest von der einen Seite. Kapital und Staat sind entschlossen, die "normalen" Verhältnissen entsprechenden Methoden des Lohnkampfs gar nicht erst zuzulassen, und wenn sie doch - illegal - versucht werden, sich nicht nur auf nichts einzulassen, sondern mit allen Mitteln zuzuschlagen.
Den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern geht es darum, die Möglichkeit, mit dem Verkauf der Arbeitskraft an das Kapital Mittel für die eigene Subsistenz zu erhalten, erst herzustellen. Jede Kampfaktion zielt also neben der Lohnforderung auf die Durchsetzung eines Vertragsverhältnisses, das es gestattet, für eine gewisse Frist den Lohn zu sichern, und auf die Respektierung der Organisation der Arbeiter, um Arbeitskämpfe überhaupt durchführen zu können.
Arbeitskampf in Brasilien
Wo es kein Lohnarbeitsverhältnis gibt, der Lohn einer durch keine gewerkschaftliche 'Einmischung' beeinträchtigten Kostenkalkulation des Kapitals entspringt, wo die angewandte Arbeit bereits um die Sicherheit, länger als ein halbes Jahr beschäftigt zu werden, kämpfen muß und zugleich die Konkurrenz des Millionenheers einer nichtangewandten Reservearmee im Nacken hat, ist die diesjährige "Kraftprobe", auf die es beim jüngsten Streik beide Seiten erklärtermaßen angelegt hatten, ebenso ausgegangen wie bisher noch immer: Angesichts der Möglichkeit, aus der nicht streikenden Belegschaft, die sich durch arbeitslose Streikbrecher auffüllen läßt, die Leistung der Streikenden zusätzlich zur eigenen herauszuholen, können Firmen wie VW einen Ausstand selbst über mehrere Wochen hin lässig verschmerzen und zeitweilige Produktionsausfälle in Millionenhöhe nimmt man für die Sicherung der unbedingten Freiheit des Gewinnemachens in Kauf, solange man mit Erfolg rechnen kann. Anders die Arbeiter, die während des Streiks nichts mehr zum Leben haben. Die offiziellen Gewerkschaften sind in Brasilien staatliche Körperschaften mit Zwangsmitgliedschaft und Zwangsbeiträgen, die der Staat einzieht und aus denen er sein bißchen Sozialpolitik bestreitet. Die Streikenden müssen von einem illegalen Streikfonds leben, in den sie selbst eingezahlt haben (was da zusammenkommt, kann man sich leicht vorstellen) und sind auf Spenden, eine warme Suppe der Kirche und noch verdienende Familienmitglieder angewiesen. Ein Streikführer schon zwei Wochen vor dem Ausstand: "Von jetzt ab wird im ABC nur noch Wasser getrunken." Da überdies der Streik von den gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten geführt wird, als ob nicht Tausende von Unbeschäftigten nur darauf warten würden, deren Arbeitsplätze übernehmen zu können, gerät jeder solche Kampf in unmittelbare Konfrontation zu einem Heer bereitwilliger Streikbrecher. Es wird ein gewerkschaftlicher Kampf angezettelt, der die Arbeitsverweigerung zum Kampfmittel machen will unter Bedingungen, wo die fast beliebige Ersetzbarkeit der Arbeiter die Geschäftsgrundlage des Kapitals ausmacht, das Kampfmittel also dadurch zunichte gemacht wird. Diese gewerkschaftliche Politik, die sich auf das Ausnahmeprivileg, arbeiten zu dürfen, stützen will, anstatt Arbeitende und Nichtarbeitende für einen Kampf um die Existenzsicherung zu organisieren, begibt sich in eine aussichtslose Auseinandersetzung, die gegen zwei Fronten geführt werden muß, gegen Kapital und Staat und gegen die Konkurrenz der unbeschäftigten Übermacht der Bevölkerung.
Die Kapitalisten brauchen sich also gar nicht erst darauf zu verlassen, daß der Hunger die Arbeiter früher oder später wieder zur Wiederaufnahme der Arbeit zwingt. Sie sind auch sonst nicht untätig, um den Streik zu einem schnellen Ende zu bringen: sie verfügen Entlassungen, holen aus anderen Städten Streikbrecher herbei, die sich mit den Streikposten Straßenschlachten liefern und spätestens dann greifen Polizei und Militär ein, um durch eine Niederschlagung des Streiks für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Schließlich hat ja der brasilianische Staat seine ausländischen Freunde zur 'Entwicklung' seines Landes bewogen mit dem Angebot einer Arbeiterklasse, der nur das Arbeiten gestattet ist, nicht aber der Streit darum, ob man von der Arbeit leben kann. Für den Fall, daß die Proleten ihm dies nicht zu danken wissen, gibt es alle rechtlichen und anderen Mittel, ihnen praktisch klarzumachen, daß bei der Entwicklung Brasiliens ihre Lebensnotwendigkeiten nicht einkalkuliert sind. Die Justiz wendet penibel die geltenden Gesetze an, denen zufolge Arbeitskämpfe so gut wie immer illegal sind; setzt zunächst die Streikführung ab und läßt sie, wie im jüngsten Fall verhaften, wenn zur Fortsetzung des Ausstandes aufgerufen wird. Reicht das noch nicht, so wird die ganze Streikregion unter Kriegsrecht gestellt, Versammlungsverbote außerhalb kirchlicher Räume werden von schwer bewaffneten Einheiten der Militärpolizei ("batalhoes de choque"!) durchgesetzt und bisweilen nehmen sich die Staatsorgane auch das Recht, kompromißbereiten Kapitalisten, meist kleineren Unternehmern, die einen Produktionsausfall weniger verkraften können als die Multis, ihren Laden zu schließen, weil sie auf Forderungen der Streikenden einzugehen und damit der Politik des Staates zuwiderzuhandeln drohen.
Politischer Kampf um Anerkennung
Weil der Kampf um Löhne, die ein Existenzminimum garantieren, um gewisse Arbeitsplatzgarantien und um gewerkschaftliche Rechte, d.h. um die Grundlagen der Lohnarbeit, in Brasilien immer die Staatsgewalt auf den Plan ruft, ist jeder Arbeitskampf von vorneherein ein politischer Kampf. Die bei jedem Streik brutal erfahrene Tatsache, daß das Regime das Verhältnis von Kapital und Arbeit so erhalten will, wie es ist, führt kämpferische Gewerkschafter in Brasilien nun aber nicht zu dem Schluß, ihrem Staat, der auf solchen Ausbeutungsverhältnissen beruht, den Kampf anzusagen, ganz im Gegenteil: als politische Partei beteiligen sie sich an der aktuellen Diskussion über eine "Demokratisierung" des Militärregimes und versuchen, mit der von Metallgewerkschaftern wiederbegründeten Arbeiterpartei PT (Partido dos trabalhadores) über Parlament und Öffentlichkeit Druck auf die Regierung auszuüben, das "veraltete" Arbeitsgesetz zu reformieren. Sie leisten sich also die - unter brasilianischen Verhältnissen - mörderische Kalkulation, es ließen sich durch geduldige legale und illegale Arbeit die Regierenden allmählich dafür gewinnen, ein "normales" Lohnarbeiterverhältnis zuzulassen, als ob nicht dessen "Anomalität" überhaupt die Kalkulationsgrundlage brasilianischer Politik ausmachen würde. Der Metallgewerkschafter und Parteivorsitzende Luis Inacio da Silva, genannt Lula, "unbestrittener Führer der brasilianischen Arbeiter" (Le Monde) arbeitet deshalb nicht nur im staatlichen Zwangssyndikat als Wortführer einer Fraktion von "combativos" bzw. "autenticos" mit, sondern versucht auch, sich als Verhandlungspartner der Regierung salonfähig zu machen. Durch wochenlange Kampagnen vor dem Streik, in dem der Öffentlichkeit die "Berechtigung des Ausstands" erklärt wurde, die Lohnforderung mit dem Anspruch auf einen "gerechten Anteil (!) am Produktivitätsfortschritt" legitimiert wurde, sowie durch den Einsatz seines persönlichen Prestiges, um für "Besonnenheit" zu sorgen, wollte er den Militärs demonstrieren, daß sie an ihm als Gesprächspartner zur Regelung sozialer Konflikte nicht vorbeikommen. Das Regime zog es jedoch vor, mit ihm weiterhin in der Sprache der Justiz zu verhandeln und sperrte ihn ein. Selbst die in Brasilien von kaum jemand angezweifelte "antiextremistische Einstellung" Lulas beeindruckte die Generäle wenig, da ein Arbeitskampf in Brasilien, wenn er auch noch so "besonnen" geführt und mit Partnerschaftlichkeits- und Gerechtigkeitsidealen begründet wird, gefährlicher Extremismus ist.
Auch bei dem Genossen von der Sozialistischen Internationale und Regierungschef des nach den USA zweitgrößten Handelspartners von Brasilien, Helmut Schmidt, findet seine Bereitschaft zu verantwortlichem Handeln nicht die gewünschte Anerkennung - Lula mußte sich vom Weltökonom Nr. 1 unter Assistenz seines deutschen Kollegen Eugen Loderer belehren lassen, daß niemand in Brasilien investieren werde, wenn die Lohnstückkosten zu hoch seien, daß Brasilien seine Rolle in der "internationalen Arbeitsteilung" gerade und nur bei Beibehaltung der unter dem Existenzminimum liegenden Löhne, d.h. bei Verzicht auf gewerkschaftliche Abwehrkämpfe spielen kann.
Zustimmung findet Lula bei den Arbeitern, die er für sein Ideal einer als berechtigt anerkannten Gewerkschaftsmacht und eines neuen, demokratischen Brasiliens begeistert, dessen Regierung "wie in anderen Ländern dazu da ist, die Probleme des Volkes zu lösen" (wie es Helmut Schmidt Tag für Tag so vorbildlich praktiziert) und die die "Interessen der Nation" "besser" verwaltet als die Generäle - als ob nicht gerade an Brasilien auf geradezu klassische Weise die praktische Bedeutung dieser generösen Abstraktion - die Interessen der Nation - demonstriert würde! Der Reichtum "der Nation" nämlich, wie ihn Brasilien mit Hilfe des internationalen Kapitals vermehrt, schließt die fortschreitende Ausrottung ganzer Indianervölker und die Bereitstellung riesiger Ländereien für "Versuchsfarmen" von VW ein, fordert das regelmäßige Abschlachten einiger Siedlergenerationen durch die Banden der Großgrundbesitzer, leistet sich die etwas langsameren Weisen des Krepierens in den Großstadtslums und nicht zuletzt die Todesopfer, mit denen jeder Arbeitskampf bezahlt werden muß. Unbeirrt von dieser alltäglichen Realisierung der "Interessen der Nation", läßt der Arbeiterführer und aufstrebende Staatsreformer zu Beginn der großen Streikversammlungen die 60000 im Stadionrund die Nationalhymne anstimmen, um sie auf eine Auseinandersetzung mit Kapital und Staat einzustimmen, die den Staat für seine von den Arbeitern teuer zu bezahlende Auffassung des "nationalen Interesses" gewinnen soll. Daß sie dabei die Unterstützung der brasilianischen Kirche finden, ist nicht weiter verwunderlich: Von der Herstellung einer sozialen und gerechten Verwaltung des Elends erwarten sich die Gottesmänner bessere Chancen dafür, daß ihre Kundschaft mit der Obrigkeit und damit mit Gottes Geboten wieder ins Reine kommt. Der andere Weg ist natürlich auch möglich: Verstärkung von oben ist bereits angekündigt - Johannes Paul II. macht sich demnächst wieder auf die Reise nach Lateinamerika.
Internationale Solidarität
Frankfurter Rundschau, 6.5.1980:
"Mit der inständigen Bitte um stärkere Unterstützung ihres Streiks haben sich die brasilianischen Metallarbeiter an die IG Metall und ihren Vorsitzenden Eugen Loderer gewandt... IG-Metall-Chef Loderer ist stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender bei VW... Die IG Metall erklärte gegenüber der FR, man habe bereits zwei (!) Solidaritätstelegramme an die Streikenden gesandt. Loderer habe außerdem Briefe an den Staatspräsidenten Figueiredo und an den Arbeitsminister gerichtet, in denen er gegen die Unterdrückung des Streiks scharf protestiert habe. Die IG Metall kündigte weitere Unterstützungsmaßnahmen an."