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Dieser Artikel ist in der MSZ 2-1980 erschienen.
33. Deutscher Historikertag in Würzburg
SCHEINTOTER WELTGEIST FEIERT AUFERSTEHUNG
I Von den Lasten der Historie
"Die Interpretation der Welt, das ist der Part eines Historikers. Allerdings ein undankbarer in einer Zeit, die sich dem Augenblick und der Aktion verschrieben hat und die tatenvoll und gedankenarm ganz im Heute lebt." (Grußwort des Kultusministers H. MAIER)
Daß sie eine undankbare Aufgabe auf sich genommen hat, läßt sich die Geschichtswissenschaft auch dann gern bescheinigen, wenn ihr dafür der Dank des obersten bayerischen Kulturbeamten zuteil wird. Es ist zwar nicht zu übersehen, daß die Geschichte als Wissenschaft so etabliert ist wie kaum eine andere, daß sie als Schulfach neben Deutsch das geisteswissenschaftliche Rüstzeug liefert, dem vom Heimatkundeunterricht in der Volksschule bis in die Kurse der 13. Gymnasialklasse niemand entkommt, weshalb das "historische Denken" längst Gemeingut der Staatsbürger aller Klassen geworden ist. Und diese bevorzugte Stellung der Geschichte muß nicht verwundern, da der historische Vergleich mit seinem Ergebnis von Lob und Relativierung der Gegenwart den Einzelnen umstandslos mit einer sinnvollen Deutung der Probleme seines Staates ausstaffiert, ohne das Staatsbürgerhirn unnötig mit der Frage zu belasten, weshalb es sich diese Probleme eigentlich zu eigen machen soll: Als (je nachdem) Deutscher, Europäer oder Weltbürger, Freund der Menschenrechte oder Befürworter der parlamentarischen Demokratie hat man eine Tradition - und das sollte doch Argument genug sein, sich in sie einzureihen.
Historiker sind also an der Gestaltung des Zeitgeistes durchaus beteiligt; und dennoch möchten sie die Vorstellung nicht missen, gegen diesen Zeitgeist einen zermürbenden Widerstand zu vertreten, der immer neuen "Mit zur Geschichte" erfordert und diesen heiklen Gegenstand gegen die mannigfachsten Angriffe in Schutz nimmt, Es verbietet sich daher, folgende kraß realistische Detailzeichnung des jüngsten Historikertages als letztes Wort über diese Veranstaltung zu betrachten:
"Tja, das ist so eine Sache mit dem Frankenwein noch etwas bläßlich ist der Ordinarius aus dem Norden Deutschlands, als er am Morgen dem 'Aufstieg und Niedergang von Weltreichen - Teil II' zustrebt." (MAIN-POST v. 5.4.80)
Stattdessen empfiehlt es sich, dem rebenumkränzten Gedankenaustausch das nötige Gewicht zu verleihen, indem man ihn etwa in eine zehnjährige Tradition stellt:
"Hatte noch vor zehn Jahren Theodor Schieder, einer der unbestrittenen Wortführer der Zunft, Geschichte gegen den 'antihistorischen Affekt' des Zeitgeists in Schutz nehmen müssen, der in der Geschichte, die große Verweigerung fortschrittlichen Denkens und fortschrittlicher Lebensgestaltung sähe, so sahen diesmal die Historiker Anlaß, sich gegen übersteigerte und überzogene Erwartungen an die Rolle der Geschichte und des Geschichtsunterrichts zur Wehr zu setzen." (DIE WELT, 31.3.80)
Es kommt eben alles auf die richtige Sichtweise an: 1. konstruiere man sich den richtigen Gegner und dichte linke Ambitionen damals wie heute in den jeweils herrschenden Zeitgeist um; dann interpretiere man 2. ein paar damalige dumme Fragen nach der Funktion der Geschichte für die fortschrittliche Gestaltung unseres Staatswesens und ein paar heutige Wünsche nach kritischer Geschichtsbetrachtung (Drittes Reich, alternative Traditionen in der Geschichte) als herausfördernde Bedrohung des geplagten Fachs; abstrahiere 3. davon, daß die Geschichtswissenschaft diese "Bedrohungen" noch stets lässig für sich zu vereinnahmen wußte - was man schon daran merkt, daß Herrn Schieders zehn Jahre altes Versprechen, die Geschichte habe für "fortschrittLiches Denken" usw. allerhand zu bieten, heute dem Zeitgeist als überzogener Anspruch angelastet wird -; dadurch werden 4. die ganzen künstlich erzeugten Aufregungen (wer zwingt eigentlich einen beamteten Ordinarius oder Geschichtslehrer dazu, sich mit "Affekten" oder "Ansprüchen " auch nur auseinanderzusetzen, wenn er sie ohnehin nicht teilt?) zu im Interesse der Geschichte notwendigen Reaktionen.
Damit hat sich das Fach wieder einmal interessant gemacht und kann die selbstgestrickte Diagnose, zehn Jahre lang kurz vor der Liquidierung gestanden zu haben, mit der zukunftsweisenden Feststellung ergänzen,
"daß die Tendenz eines zurückliegenden Jahrzehnts, sich der Geschichte agitatorisch als eines 'Steinbruchs der politischen Propaganda' zu bedienen, nun endgültig ermattet ist. Diejenigen seien die besseren Geschichtslehrer, so wurde konstatiert, die sich und ihre Begeisterung für die Gegenstände ihres Fachs freier entfalten durften und wollten." (WELT)
Zwar ist die Neigung von Interessenten aller inner- und außerwissenschaftlichen Couleur, die Geschichte in agitatorischer Absicht auszuschlachten, gewiß gute demokratische Tradition und in gar keiner Weise auf das "zurückliegende Jahrzehnt" beschränkt, wie des ehemaligen Geschichtslehrers STRAUSS' historische Reflexionen auf das Verhältnis Sozialismus/Nationalsozialismus beweisen. Die historisch gut gewählte Zeitspanne deutet lediglich darauf hin, daß sowohl die WELT wie der in dem Zitat referierte Vorsitzende des Geschichtslehrerverbands GRASSMANN die Abteilung "Agitation und Propaganda" schon auf die richtige politische Richtung beschränkt sehen möchten.
Auch hat die "propagandistische" Benutzung der Geschichte noch lange nichts mit der Geschichtswissenschaft zu tun, weshalb sich aus der "zurückliegenden" Tendenz überhaupt keine Lernerfolge für den Geschichtsunterricht der Zukunft ableiten lassen. Die angegebene Ableitung ist denn auch an den Haaren herbeigezogen: Erst wird unterstellt, es wäre die logische Konsequenz aus der Einsicht, die Geschichte bisher parteiisch behandelt zu haben, daß nun ein ungezwungenes, frei-begeistertes Phantasieren anfangen müsse. Eine schlicht objektive Geschichtsbetrachtung, die freilich wenig Grund zur Begeisterung böte, scheint "logisch" nicht in Frage zu kommen. Dann betrachten honorige Geschichtsvermittler sich einen Moment lang als Gesellen mit zehnjähriger radikaler Vergangenheit - und entdecken prompt ihre schon stets geübte Praxis der freien Begeisterung für ihr Fach als die bessere Methode gegenüber einer, die sie eh noch nie praktiziert haben. Damit haben sie sich immerhin einen Gegensatz von Agitation und freier Geschichtsbehandlung erfunden, der ihrem Treiben den Schein von Objektivität verleiht - einen Gegensatz allerdings, der sich an ihrer eigenen Logik blamiert: Oder haben sie nicht gerade mit "der Tendenz der Historie für ihre Behandlung derselben agitiert?
Die streng historisch geführte Diskussion über die Bewältigung scheinbarer Lasten der Historie erledigt so die einzig wirkliche Last : dieser Disziplin, der sie gelegentlich in der Konkurrenz mit anderen Sozialwissenschaften ausgesetzt war: Die Frage nach ihrer Nützlichkeit, die eine ihrer Funktion für die Rechtfertigung der Demokratie mit irgendwelchen Vorteilen für die Bürger war, ist als der "Geschichte" unangemessener Materialismus in der Wissenschaft überführt - aufgegeben ist sie damit freilich nicht. Nur wird sie jetzt vom Standpunkt des selbstbewußten Idealismus aufgeworfen, der als solcher keiner Rechtfertigung mehr bedarf. Das heißt also: Ist Geschichte als intellektueller Luxus nützlich - mit anderen Worten, kann sie, soll sie, darf sie popularisiert werden?
Der Historikertag veranstaltete dazu eine Podiumsdiskussion "Geschichte und Medien", deren Ergebnis nicht nur deshalb vorprogrammiert war, weil ähnliche Debatten auf den letzten Zusammenkünften geführt wurden. Es ließ sich schließlich absehen, daß eine Wissenschaft, die als wahrer Vertreter des Zeitgeists auf Distanz zu seinen journalistischen Niederungen dringt, weil sie sich nur in ihr den Anschein von Interesse immer wieder erringen kann, nicht plötzlich zur Fraternisierung neigen würde. Für die Historiker vom Fach erschien deshalb der Anbiederungsversuch von NRD-SCHARLAU, daß sich "Geschichte als Stoff für Bildung, Unterhaltung und Information" im Fernsehen geradezu ideal eigne, auch unter Hinweis auf die Erfolge der Holocaust-Serie schon fast als Herabwürdigung ihrer Wissenschaft. Entertainment müsse zur Simplifizierung höchst komplexer historischer Zusammenhänge führen, brachten sie dagegen in Anschlag.
"Von der Wissenschaft her gibt es einen Gegensatz zur populären Darstellung, da Wissenschaft identifikationskritisch ist, weil für sie eine Vielfalt von Identitifaktionsmöglichkeiten existiert." (NIPPERDEY)
Ein höchst alberner Streit, weil jeder der beiden Kontrahenten aus ganz anderen Gründen recht und unrecht hat, als er meint. Klar ist Geschichte im Fernsehen zur Unterhaltung gut und zeitigt damit (wie Holocaust, Weltkrieg-II-Serien, "Heute vor 10 Jahren", Wallenstein, der Kanzler im Katastropheneinsatz und andere "Bilder, die die Welt bewegten", zeigen) ohne Schwierigkeiten die Bildungseffekte, die eine Darstellung der Geschichte an handelnden Personen eben so mit sich bringt: Bösewichter und deren Opfer hat es gegeben, und die einen hatten Erfolg, weil die anderen sie ließen - von den Gründen, so zu handeln, ist weder im einen noch im anderen Fall die Rede. Dies ist allerdings nicht NIPPERDEYs Vorwurf gegen die "personalisierte Geschichtsbetrachtung" - er konzediert durchaus die Suche nach "Identifikationsmöglichkeiten" als Ziel auch der Geschichtswissenschaft, legt aber Wert auf ein gewisses Sortiment (als wenn das die "populäre Darstellung" nicht auch noch bringen könnte). Damit bleiben zwar die einen die Bösen und die anderen die Opfer - die Freiheit historischen Geistes erlaubt sich schließlich nicht alles -, die Vorstellung noch viel größerer Differenzierung macht aber klar, daß - wenn schon - zur Popularform des Gedankens die Theorie als kritisches Korrektiv hinzutreten muß. Auch die Nützlichkeit als populäre Wissenschaft wird so als bloßes Ideal aufrechterhalten - ein Althistoriker sprach das Schlußwort zu der sinnigen Debatte:
"Vielleicht ist das, was wir brauchen, ein Dr. Grzimek der Geschichte" (am besten einen kleinen Napoleon streichelnd).
Mit diesem Ausspruch setzt sich die von den Journalisten beleidigte Historie wieder ins Recht, indem sie die von beiden Seiten beschworene Sehnsucht nach einer Einheit von Anschaulichkeit und Theorie an einen begnadeten Plauderer verweist. Als wenn sie die nicht schon längst hätte, wie die zweite Abteilung des Historikertags beweist:
II. Von den Freuden der Historie
Wo sie ihre Pose der Selbstrechtfertigung nämlich ablegt, ist die Geschichtswissenschaft sehr im reinen mit sich selbst. Innerwissenschaftliche Streitereien - in der Zeit, als es die Historiker noch für angebracht hielten, auf gewisse Erwartungshaltungen einzugehen, als öffentlichkeitswirksame Schaugefechte sehr geschätzt - erfreuen sich inzwischen keiner großen Beliebtheit mehr. Man ist sich einig, daß man Geschichte sowohl strukturgeschichtlich als auch personalistisch behandeln kann und daß eine Erklärung des Faschismus möglich ist, wenn sie nur eingesteht, ihn letztendlich doch nicht ausreichend erklären zu können. Also kann man diese Fragen mit dem dazugehörenden Problembewußtsein gleich ganz ad acta legen: Geschichte gilt den Historikern nun
"immer weniger als 'Standortbestimmung der Gegenwart', immer mehr als ein Verfahren, das verrät, 'wie es wirklich gewesen ist'. Es war kein Zufall, daß der Althistoriker Alfred Heuß und der Mediävist Horst Fuhrmann mit ihrem Verzicht auf Relevanznachweise, Identifikationsangebote und Gegenwartserklärungen außergewöhnlichen Beifall fanden." (FAZ, 31.3.80)
Die Freunde der Vergangenheit bekennen sich hier endlich zu dem eigentlichen Vergnügen, das sie an ihrer Sache finden - ist einmal klar, daß Geschichtswissenschaft eine undankbare Angelegenheit ist, kann man den Schein der Verantwortlichkeit auch wieder schießen lassen und sich zum "Jünger der Muse Klio" bekennen. Hier kommt es dann nicht mehr auf die Ergebnisse der historischen Erkenntnis, sondern auf die persönliche Haltung an, mit denen man sie vorträgt. Der "unmittelbare Zugang zum historischen Phänomen", der dies in seiner "unverwechselbaren Einmaligkeit" zu würdigen weiß, ist hier die angemessene und von persönlicher "Entflammtheit" noch für das hinterletzte Thema belebte Kammerdienerperspektive. Der Blick über die Schulter des Weltgeists vermittelt das Gefühl, dabeigewesen zu sein in der Werkstatt der Geschichte, wenngleich man mit seinem "So mußte es kommen!" immer ein bißchen spät dran ist. So geben die Themen schon gleich ihre Behandlung vor - das "übergreifende Thema: Aufstieg und Niedergang von Weltreichen" will eben sagen, daß es s o ist mit den Weltreichen; sie steigen auf, und da kann ihr Niedergang gar nicht ausbleiben. Ob man diese Logik mit einfachen oder komplizierten Tautologien füllt, spielt dabei keine Rolle. Wenn es z.B. in Mesopotamien "zwar das Denken vom Weltreich gab", die Mesopotamier aber "kein Weltreich machen konnten, weil sie verloren haben", dann darf man den Sumerern für die Einsicht danken, "daß man erobern muß, um ein Weltreich zu machen", und hat man wie Alexander die Perser erobert, muß man gesund leben, denn "aus dem Perserreich wäre viel geworden, wenn Alexander nicht so früh gestorben wäre" - die Perser waren nämlich keine Griechen, die dafür sorgten, daß sich das römische Weltreich "so lange am Leben erhalten hat", weil sie "die geborenen Untertanen waren" (alle Zitate: HEUSS). Um den Schein historischer Zusammenhänge geht es hier wirklich nicht - der Althistoriker wollte nur sagen, daß man mit bloßem Denken noch nichts erobert hat, daß man Eroberungen auch behalten muß, wenn man sie nicht verlieren will, und daß man Glück hat, wenn die Eroberten sich das gefallen lassen. Kein Wunder, daß die Zeitung vom Referat des Emeritus HEUSS, dem prasselnder Beifall dankte, gleich gar keinen Inhalt behalten hat:
"Er improvisierte mit Witz und Ironie, ohne Manuskript, in scheinbarer (?) Schlichtheit, die sich nur leisten kann, wer viel weiß, über die 'Weltreichsbildung im Altertum'." (Süddeutsche Zeitung, 31.3.80)
Und das war denn auch der "Festhappen" des Historikertags. Die Demonstration der Vertrautheit mit fernen Zeiten und Völkern, das Nachempfinden der Geschichte als eines Schachspiels des Weltgeists, mit dem man auf Du und Du steht, was einem erlaubt, auf die wirklichen Subjekte, Zwecke und Opfer der Geschichte als veranschaulichende Randglossen herunterzublicken, die man selbst zum Zwecke ihrer "Interpretation" auch entbehren kann - welch bewunderswerte Freiheit des historischen Geistes!