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Berufung von Mittelstraß, Theunissen und Tugendhat nach Berlin
PHILOSOPHISCHE DREIFALTIGKEIT AN DIE FRONT BERUFEN
Die freie Universität Berlin ist, wie schon der Name sagt, gegründet worden, um dem Geist der Demokratie einen Platz an der Front zu verschaffen. Also auch, um die Konjunkturen nimmermüder Bespiegelung der bundesrepublikanischen und weiteren Welt durch ihre beamteten aber freischaffenden Intellektuellen zugkräftig zu repräsentieren.
Den Auftrag, als Ort des Zeitgeistes den intellektuellen Nachwuchs anzuziehen, erfüllte diese Stätte ausgerechnet zu einer Zeit, in der sich die akademische Freiheit herausnahm, ihre Einbildungen von Demokratie und gesellschaftlicher Verantwortung der Wissenschaft so ernst zu nehmen, daß der demokratische Führungsnachwuchs sich alle möglichen theoretischen und sogar praktischen Unverantwortlichkeiten gegenüber den institutionellen Freiheitsgaranten und dem von ihnen erwarteten Gebrauch der Freheit herausnahmen. Gollwitzer, dann Narr, Agnoli, Kaug und Konsorten brauchten sich die Führerschaft in Sachen akademisches Selbstverständnis nur mit Frankfurt zu teilen, Berlin war für viele ein Studium wert doch die FU keine Werbung für Berlin - sehr zur Unzufriedenheit derjenigen, die die Ideale ihrer Reformpolitik im wissenschaftlichen, den praktischen Zwängen entkleideten Gewand gegen sich selbst gewandt sahen. Angesichts studentischer und professoraler Interpretationen gesellschaftlicher Veränderung schritten deshalb die Verantwortlichen zum empirischen Nachweis, worin sie wirklich besteht, also zur Reformierung der störenden Reformgeiststätte - und diese ließ sich nicht lange bitten. Mit dem wiederum nicht ganz zufriedenstellenden Ergebnis, daß zwar die kritischen Geister und die Kritik an ihnen sich einigermaßen beruhigt haben, es damit aber auch still um ein Zugpferd der alten Reichshauptstadt geworden ist. Soziologie und Politologie, vormals Paradedisziplinen für die Besserwisserei, wie Demokratie zu machen sei, haben an Ansehen verloren. Einerseits, weil die Mehrzahl der Studenten, wie schon immer, auf ihre Art zufrieden mit der deutschen Modellgesellschaft, kaum mehr als das notwendige Sozialkundewissen in etwas aufpoliertem Gewande verlangen und auch, dank Hochschulreform, wieder unbehelligt verlangen dürfen. Andererseits, weil die mit andauernder und ruhestiftender SPD-Regierung immer kleinere und immer weniger radikale Minderheit von der Öffentlichkeit ziemlich vergessen wurde. Und weil über ihren akademischen Ansehensverlust reuig gewordene linke Wissenschaftler den Habitus wissenschaftlich überlegenen Weltverbesserertums dem der puren Besserwisserei, wie die Demokratie und die Welt überhaupt besser gehen könnte, geopfert haben. Gerade weil die Linke - am OSI und axderswo keine Selbstkritik - an der mangelnden Konstruktivität ihrer Gedanken scheut und sich um die Erfüllung - wieder verantwortlicher, und philosophischer gewordener Standards ihrer Zunft bemüht, will sich der rechte Glanz nicht mehr einstellen.
Die Freiheit des Denkens
Peter Glotz, Berliner Wissenschaftssenator, trauert im Bewußtsein der gelungenen Disziplinierung und Selbstdisziplinierung der Universität schon länger dem nach, was alle Politiker schätzen, wenn es sich nicht links gebärdet - dem öffentlichkeitswirksamen Klima geistiger Regsamkeit und Diskussionsfreude. Schon seit einer Weile bemüht er sich, durch Monologe, Dialoge und Neuschaffung der abgeschafften studentischen Selbstverwaltungsorgane die verantwortlich damit aber auch allzu alltäglich gewordene Geistesfreiheit wieder zu mehr freiheitlichem Engagement auf Kosten der linken Reste anzuregen. Da man aber im freien Westen Professoren nicht einfach auswechseln, sondern nur in die institutionellen Schranken weisen kann, teilte er statt einer Säuberungswelle den links dominierten Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaft und schuf ohne alle Berufung auf die sonst so drückenden Studentenzahlen und Bedürfnisse der Lehre drei neue Lehrstühle für Philosophie. So schuf er den rechten Raum für die alte und ewig junge 'Königin der Wissenschaft', die für das Renommee einer Geistesstätte und das Selbstbewußtsein der Intelligenz schon immer in besonderer Weise zuständig ist, da sie sich als Gewissen der Wissenschaft versteht und sich berufen fühlt, mit souveräner Gleichgültigkeit gegenüber aller einzelwissenschaftlichen Befassung mit der Welt vorzudenken und zu -schreiben, worauf eine ordentliche wissenschaftliche Weltdeutung allemal hinauszulaufen hat - einen tieferen Sinn - und wie sie deshalb zu betreiben ist - mit dem Willen nämlich, die Fesseln des Denkens abzuschütteln und nur Deutung zu sein. Und diesen Raum gedenkt er mit den würdigsten Vertretern der jüngeren Philosophengeneration auszufüllen und berief deshalb Mittelstraß (Konstanz), Theunissen (Heidelberg) und Tugendhat (aus der Habermas-Crew in Starnberg). Alle drei unterscheiden sich äußerlich und innerlich sehr wohltuend von manchenn früheren Berlin-berufenen Linken. Sie sind längst ordentliche Professoren zwischen 40 und 50, haben eine anständige Publikationsliste. Zwei von ihnen verdienten sich ihre ersten Meriten in den heißen Jahren um 1968 in einem Streit, der damals fast zu entarten drohte, weil ihn ein Teil der akademischen Massen mißverstand - im Positivismusstreit. In dessen zeitgemäße Überwindung reiht sich auch der dritte zwanglos ein. Es handelt sich also nicht einfach um drei Berufungen. Mit ihnen findet nach Form und Inhalt ein (Lehr-)Stück Wissenschaftsgeschichte seinen adäquaten Ausdruck.
Der Erfolg eines überflüssigen Streits
Erinnern wir uns. Damals hatten sich Adorno und Popper höflich aber scharf darum gestritten, wo das kritisch nun eigentlich hingehört - vor Theorie oder vor Rationalismus. Man sieht, wie nahe sich die Standpunkte auch damals schon waren. Einig war man sich jedenfalls, daß man dem Denken (ratio) und dem, was dabei rauskommt (Theorie), nicht 'unkritisch' gegenüberstehen darf; daß also das Unvernünftigste die Vernunft ist und vor einem unvoreingenommenen Denken nicht genug gewarnt werden kann; daß deshalb ein verantwortlicher Wissenschaftler eine Moral braucht, die ihn davor bewahrt, vor lauter "losgelassener Rationalität irrational" (Adorno) zu werden, bzw. dem "Mythos Vernunft" (Popper) zu huldigen. Geführt wurde der Streit um die heiße Frage, ob der Wissenschaftler seine demokratische Gesinnung laut aufsagen und in seine Theorie "einbringen" solle, damit die richtigen Ergebnisse rauskommen (Adorno), oder ob sie sich einfach darin betätigt, daß man sich seine Theorien bastelt mit der zur Schau gestellten Bescheidenheit, nichts wirklich Objektives, also auch nichts gegen den praktischen Lauf der Welt gesagt zu haben, und sie so als bloß persönliche Wissenschaftlermeinung mit viel Irrtumsmöglichkeit ganz unbescheiden in die Regale mit anderen Theorien einreiht (Popper). Von den schulenbildenden Altmeistern wurde dieser Streit um das Selbstverständnis demokratischer Wissenschaft aufgrund unterschiedlicher Demokratieideale mit einer gewissen Unbeweglichkeit und Härte geführt, die beim dafür gerade empfänglichen akademischen Publikum teilweise den fatalen Eindruck hervorrief, hier ginge es um eine wissenschaftliche Grundsatzentscheidung und mehr.
Kaum entsteht im Reich des Pluralismus eine Kontroverse, in der die Kontrahenten auch nur den Anschein von Gegensatz und Ausschließlichkeit ihrer 'Positionen' nicht gleich selber ausräumen - was schon aus Gründen der wissenschaftlichen Reputation nicht so einfach ist -, schon fühlen sich bekanntlich aufstrebende Kräfte berufen, die akademischen Totengräber an den Überresten von Entschiedenheit des Denkens zu spielen, die rein formell in der Sturheit der beiden Antipoden stecken, und machen sich durch die ausgiebige Breitwalzung, gespreizte Verflachung und unbekümmerte Harmonisierung der Einseitigkeiten um den Fortschritt der Wissenschaft und den eigenen Namen verdient - natürlich mit der Attitüde, selber eine eigene überlegene Position zu beziehen.
Zur Garde dieser Wiederkäuer vorgekäuter Vulgärwissenschaft gehören auch Mittelstraß und Theunissen. In diesem Falle mit "der pikanten Note, daß sie die nicht gerade einfallsreichen Selbstzitierungen" seitens der Schulhäupter durch immanente Kritik belebten, den Gegner jeweils auf seinem eigenen Felde schlugen - und dabei die ideologische Gemeinsamkeit zutage förderten. Damit entzogen sie zugleich der damals modischen politischen Überdeutung die Basis. Indem sie jeweils die Schriften und erfundenen Traditionen des Gegners so interpretierten, daß sie der anderen Partei Abweichungen vom gemeinsamen Anliegen der Kritik des Denkens vorhalten konnten, verständigten sie sich und die wissenschaftliche Welt darüber, daß es eigentlich nicht um Gesellschaftskritik oder -affirmation, sondern nur um die rechte Begründung der wissenschaftlichen Unmöglichkeit von Wissen ginge, also auch um die Überflüssigkeit und Unwissenschaftlichkeit der gedachten politischen Konsequenzen, getreu dem Motto:
"Die Vermutung, die Philosophie könne, verglichen mit den Wissenschaften, allenfalls noch ein spekulatives oder antiquarisches Vergnügen bieten... auszuräumen, ist eine wissenschaftliche Aufgabe. Mit ihr hat die Philosophie trotz ihres hohen Alters noch einmal die Chance, eine junge Wissenschaft zu werden." (I, S. 84)
In diesem Sinne schrieb Theunissen 1969 eine "Kritik der kritischen Theorie", in der er als kritischer Rationalist im Unterschied zu Popper, der die ganze philosophische Tradition vornehmlich für eine Vorbereitung von Hegel, Marx, Lenin und Hitler erklärte, den "Dialektikern" die alte Tradition entriß, die sie gegen die angelsächsische Unbildung gepachtet hatten, und ihnen so den Dogmatismus-Vorwurf hinrieb. Er ließ sie wissen,
- daß nur die "doktrinäre Intoleranz" der kritischen Theorie "das Absolute dogmatisch aus der Geschichte entfernt" habe, um ihr im nächsten Satz vorzurechnen, daß sie "insgeheim doch an einer geschichtlich absoluten Objektivität festhält." (II, S. 34) - er wollte also nur sagen, daß sie mit dem Spruch von der Geschichtlichkeit nicht laufend an anerkannten Traditionen herumkritteln und das auch noch zum Prinzip erklären sollten;
- daß man gb.htm mg.htm su.htm und ente.htm iran.htm korr.htm tmp.html wahl.htm welt.htm nicht verwechseln dürfe, also entweder Aussagen über die Welt machen, sie dann aber nicht kritisieren, oder aber Kritik üben, die dann aber nicht als Wissenschaft ausgeben dürfe.
- Schließlich forderte er die Frankfurter auf, von ihren "ideologisch verzerrten Normen" abzulassen, also gefälligst sich nicht so aufzuspielen und die "Möglichkeit eines unaufgehellten Interessenrests" zuzugestehen; denn "Kritik müsse ständig auch Selbstkritik sein" (II, S. 36) Deswegen können die kritischen Theoretiker von den ebenso kritischen Rationalisten in Sachen Kritik noch einiges lernen - daß sie nämlich im Bekenntnis zur dauernden Bezweiflung des gerade Gedachten besteht:
"Es kommt darauf an, will man kritisch sein und bleiben, den Prozeß der Loslösung von hypostasierten Gewalten (das sind Auffassungen, die man festhält) nicht nur anzufangen, sondern auch unablässig in Bewegung zu halten." (II, S. 37)
Mittelstraß, der als Konstruktivist sowieso und "always already" (Lorenzen) auf der durch und durch konstruktiven Mittelstraß zwischen kritischem Rationalismus und kritischer Theorie wandelte - von Sir Charles die Bescheidenheit fordernde Überprüfbarkeit, von Theodor Wiesengrund die Forderung nach Gesinnungsprüfung -, ging einen Schritt weiter und entkleidete den Streit vollständig seines politischen Anscheins Kritik oder nicht. Dafür polierte er extra die mathematisch-naturwissenschaftliche Einkleidung seiner Erlanger Lorenzen-Schule mit ein wenig Plato und Aristoteles auf und wirft jeder der beiden großen Schulen vor, was er aus der anderen als Vorschrift ans Denken rausinterpretiert hat die kritische Theorie ist methodisch "unreflektiert" und will die schöne Moral, die sie meint, gar nicht mit dem Exaktheitsbrimborium der Gegenseite vorgetragen wissen; dem kritischen Rationalismus dagegen fehlt das "normative Fundament", weil er auf die moralische Qualität der geforderten Denkbescheidenheit nicht noch einmal extra pocht. Die Methode der Auseinandersetzung ist also einfach - und Mittelstraß versucht auch gar nicht, sie kompliziert zu machen. Friedlich konkurriert er mit Theunissen um die Klarstellung, daß es von Anfang an um Jenseitiges, nicht um Gründe, sondern um den Anspruch an Wissenschaft geht, von einem solchen Anspruch ganz abzulassen. Was der eine an den Theoretikern, expliziert der andere an den Rationalisten:
Theunissen versichert treuherzig:
"Man wird vielmehr nur das kritisieren können und wollen, was man grundsätzlich zu akzeptieren vermag." (II, S. 2)
und Mittelstraß sichert sich mit Komplimenten an die Gegenseite sein Plätzchen im Methodologenkonzert:
"Wissenschaftstheoretisch gesehen (!) liegt dieser Auffassung ein deduktives Modell der Begründung zugrunde, das hinsichtlich des Problems der Begründungsbasis zu unüberwindlichen Schwierigkeiten führt. Diesem Modell entsprechend kann auch die Begründung der Begründungsbasis, wenn diese gefordert werden sollte, nur deduktiv erfolgen, womit ein Begründungsregreß unvermeidlich wäre." (III, S. 57)
Das "sollte" ist gut, denn er selbst fordert ja, daß sie sich seine Schwierigkeiten zueigen machen sollen, mit der generösen Geste, daß er sie beim Draufreinfallen nicht ertappen will. Sollte ihm eine "Begründungsbasis" geboten werden, hätte er natürlich nach der Begründung der Basis der Begründungsbasis verlangt, und den Angegriffenen mit dem Hinweis auf eine "dogmatische Immunisierung einer einzelnen Theorie in ihren Begriindungsansprüchen" (III, S. 59) blamiert.
Mit derlei halsbrecherischen Geistreichigkeiten setzte die junge Garde das Prinzip ihrer Methodenfummelei gegeneinander durch und machte sich wechselseitig klein und salonfähig. Indem jede Seite die andere in wissenschaftlich aufgeplusterten Vorbehalten gegen die schlichte Gewißheit des Gedankens, in der Tugend der demokratischen Wissenschaft - Toleranz - und überhaupt in Verantwortung für den selbstdisziplinierten Fortgang dieser Wissenschaft übertrumpfte, entdeckte man die verwandte Skeptiker-Demokratenseele und begrub den albernen Streit. Während Popper in Adorno noch einen Anhänger des objektiven Denkens und damit des Totalitarismus bekämpfen zu müssen meinte und Adorno glaubte, gegen den Geist des Positivismus die Selbstkritik von Denken und Leben durchsetzen zu müssen, vertragen sich die Jungen prima,
Theunissen versichert treuherzig:
"Nun wäre gegen eine solche Einschränkung der Rationalität (kritischer Rationalismus) auf einen technischen Zusammenhang von gegebenen Zielen und gegebenen Wegen innerhalb zweckrational bestimmter Bereiche gar nichts einzuwenden, wenn diese Einschränkung nicht gleichzeitig mit dem Anspruch verbunden wäre, schon die ganze Rationalität zu sein." (III, S. 16)
Wenn er so tut, als mache er sich um die höheren Werte, denen die Wissenschaft dienen soll, Sorgen, so will er auch das nicht als
"ein Abonnement auf ein spezielles Begründungswissen und eine damit verbundene Annahme, man könne sich nicht mehr irren," (III, S. 20)
verstanden wissen.
Na also! Man braucht sich also auch nicht mehr vorzumachen, mit seinen verrückten Ansprüchen an die eigene Zunft mehr zu wollen, als seine berechtigte Mitgliedschaft in dieser Zunft nachzuweisen, indem man äußerst einfallsreich darüber nachdenkt, daß es das unwissenschaftlichste wär, über die Welt nachzudenken.
Das Denken der Freiheit
Bekanntlich wurde die Forderung, jeder wissenschaftliche Gedanke habe sich an den von den Philosophen erlassenen Methoden zu messen, völlig richtig verstanden und zum allgemein anerkannten wissenschaftlichen Standard. Nicht daß sich am Schmarrn der Geisteswissenschaft was geändert hätte, wohl aber an seiner Präsentation:
Germanisten, Pädagogen, Sozio-, Polito- und Psychologen wetteiferten in den letzten 10 Jahren mit der zu ganzen Kapiteln oder Büchern aufgeblasenen Versicherung, daß ohne ein emanzipatorisches oder überhaupt ein Erkenntnisinteresse nichts läuft, andererseits aber seine Resultate lediglich eine noch nicht widerlegte, jedoch jederzeit ihrer Widerlegbarkeit bewußte Hypothese darstellen könne.
Mit sich, der Wissenschaft und damit überhaupt mit der Welt zufrieden, genossen Theunissen und Mittelstraß in der Folgezeit daher den Luxus, die Unerschöpflichkeit der Fragestellung nach der Moral der Wissenschaft, die ihnen das einvernehmliche Resultat des Positivismusstreits eingebracht hatte, auf ihr eigenes Fach anzuwenden und die philosophische Tradition neu zu deuten.
Mittelstraß findet schon bei den alten Griechen, daß sie nicht - wie bisher behauptet - die Wissenschaft, sondern die "Möglichkeit der Wissenschaft" entdeckten und daß auch die griechische Geometrie keine Wissenschaft geworden wäre, wenn es nicht neben den Geometern schon damals Mittelstrasser gegeben hätte, die von nichts eine Ahnung haben wollten und Argumentationsregeln für die anderen erließen (III, S. 29-55). Theunissen dagegen reißt noch nachträglich den 'Dialektikern' ihren behaupteten Urahn Hegel aus der Hand und entdeckt in Hegels Logik keineswegs logische Dinge, sondern das Ideal einer "kommunikativen Freiheit", also sein durch Habermas geläutertes Ideal, statt zu kritisieren, frei und mit viel 'verstehst mich' untereinander rumzuspekulieren. Mit dem Umstand, daß von derlei Zeug bei Hegel kein Wort zu lesen steht, wird ein Philosoph 'mehr' oder 'weniger' leicht fertig:
"Hegels Logik wehrt sich grundsätzlich gegen jede unmittelbare Inanspruchnahme für gesellschaftstheoretische oder auch nur intersubjektivitätstheoretische Programme. Sie tut dies allerdings keineswegs bloß, weil sie weniger ist als Sozialphilosophie, sondern durchaus auch insofern, als sie mehr bietet... Nach ihrem 'normativen Ideal' setzt die Freiheit des einzelnen Subjekts, als das 'der Begriff' sich schließlich offenbart, nicht nur die Freiheit aller voraus, nämlich aller anderen Subjekte, sondern die Freiheit von allem, was ist. Eine spezielle Intersubjektivitätstheorie präsentiert die Hegelsche Logik darum nicht, weil sie als universelle Kommunikationstheorie angelegt ist." (IV, S. 46)
Die erste Hälfte dieser Offenbarung der Freiheit hat Theunissen aus dem Grundgesetz gestohlen (Art. 2), mit dem zweiten Teil, der Freiheit gegenüber allem, was ist, formuliert er das Ideal moderner Philosophie: Sich unabhängig von allem, was ist, über Sinn, Verantwortung und so weiter zu verständigen. Hier meldet sich endlich auch der Dritte im Bunde zu Wort, Ernst Tugendhat, schon dem Namen nach nicht mehr nur inoffizieller Moralphilosoph. Wie der durch Adorno zur philosophischen Tradition bekehrte Popperianer Theunissen und der durch Adorno und Popper versöhnlich und allseits salonfähig gemachte Mittelstraß hat sich auch Tugendhat seine philosophischen Tugenden schwer erarbeitet. Während die anderen sich stritten, hat er sich selbständig aus der sprachanalytischen Philosophie das Wissen angeeignet, daß wir von nichts was sicheres wissen können, weil es völlig darauf ankommt, was wir mit unseren Wörtern machen. Und das, so stellt er in seinem höheren Drange fest, ist eben keine Sache des Nachdenkens, sondern dessen, was wir von uns selber halten, des "Sichzusichverhaltens". Dieser durch Wittgenstein entnazifierte Heidegger hat also die Untugend, Wahrheit gleich als Umgang des Subjekts mit sich zu besprechen. Nach ihm muß ein ordentlicher Mensch einiges unternehmen, was er ohne Philosophie leichter gehabt hätte: er muß sich wählen und wird damit frei von allen falschen Ansprüchen an die Welt:
"Autonomie (besteht) in einer bestimmten Weise , des Wählens, die nicht aufgeht in, aber wesentlich bestimmt ist durch das reflektierte Selbstverständnis, und d.h. durch die Wahrheitsfrage in dem dreifachen Sinn der Frage nach der Wirklichkeit, dem Möglichen und dem Besten. Der Maßstab besteht also zentral in dieser Wahrheitsfrage. Wer so handelt, handelt autonom." (V, S. 346)
Weil er ziemlich schnörkellos ausspuckt, daß Denken dasselbe sein soll, wie sich ordentlich aufführen, ist Tugendhat ohne Zweifel der modernste der drei philosophischen Tugendwächter im Reich der Wissenschaft.
Die kritische Universität
Nach allem muß man Glotz danken, daß er den historisch einfach fälligen Versuch unternimmt, die dreieinigen Moralprediger für die Intellektuellenzunft an einem Ort zusammenzubringen. Für die Einrichtung eines ordentlichen, repräsentativen Pluralismus an der Berliner Uni konnten ihm keine Besseren einfallen als diese drei, die einen mißverstandenen Streit wieder ganz auf das Feld und Niveau innerwissenschaftlicher Selbstbespiegelung zurückgeführt haben, wo er auch hingehört, und die weltbejahende und selbstzufriedene Einstellung verkündet haben, auf der das Bekenntnis zu einer rein theoretischen Verantwortung beruht. Eine verbreitete Meinung ist also völlig haltlos, die drei würden eine Liquidation von Kritik bedeuten. Im Gegenteil, Kritik wird nunmehr zum universellen Prinzip, also auch durch und durch konstruktiv. In Berlin wird künftig nicht mehr nur der Haug die Farbenpracht kapitalistischer = konsumterroristischer Unterhosen im Namen kritischer Philosophie kritisieren. Die drei können mehr: Sie kritisieren das wirkliche und ausgedachte Denken und Wollen aller wirklichen und ausgedachten Subjekte, hinterfragen sich und andere - und verschwinden dabei nicht. Also bitte - Kritik hat in Berlin noch ein langes Leben!
Soeben erfahren wir, daß Mittelstraß den Ruf nach Berlin abgelehnt hat. Schade! Ein Zeichen, daß man doch nicht alles aus Begriffen ableiten kann!
Nachweis der Zitate:
I Mittelstraß: Das praktische Fundament der Wissenschaft und die Aufgabe der Philosophie
II Theunissen: Gesellschaft und Geschichte. Zur Kritik der kritischen Theorie
III Mittelstraß: Die Möglichkeit von Wissenschaft
IV Theunissen: Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik
V Tugendhat: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen