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Dieser Artikel ist in der MSZ 2-1980 erschienen.

Systematik

Rente und Reform
DIE OMA UNTERM WERTGESETZ

Die zwischen den Parteien derzeit stattfindende Diskussion um die Reform der Sozialversicherung, insbesondere der Rentenversicherung, zeigt einmal mehr, daß der Materialismus, dem als Übel beleumdetem Standpunkt seine historischen und sonstigen Erben auf der politischen Linken längst abgeschworen haben, seine gewohnheitsmäßige Heimstatt als Prinzip der praktischen Politik bei der öffentlichen Gewalt hat.

Das feine Gespür der staatlichen Sozialpolitik für die Rentabilität ihrer Maßnahmen gerade beim Umgang mit den Senioren im Lande läßt erkennen, daß bei allem amtlichen Antikommunismus eine Ahnung vom Wertgesetz (ohne daß die Verantwortlichen eine Ahnung davon zu haben brauchen) zum sozialpolitischen Handwerkszeug gehört, seit moderne Staaten die Produktion von Sozialfällen aufgenommen haben.

Während die faschistische Betrachtung einen Menschen, dessen Arbeitsvermögen endgültig und nicht mehr reproduzierbar vom Kapital konsumiert ist, in die Nähe solcher Fälle rückt, die als unwertes (damit auch ziemlich sinnloses) Leben anzusehen sind, dem der Staat nicht zu Gnadenbrot, sondern -tod zu verhelfen habe, hat es die demokratische Wertschätzung des nicht mehr produktiven Lebens weit gebracht: Man denkt nicht daran, über ihren Lebens-Wert zu spekulieren, sondern gewährt ihnen ein verfassungsmäßiges Recht auf Leben, allerdings mit der Auflage, daß dieses menschenwürdig abzuwickeln sei. Denn wer schon so großzügig mit einer staatlichen Vegetationserlaubnis ausgestattet ist, hat sich mit stiller Altersweisheit würdig darein zu finden, daß er nichts mehr zu melden hat, wenn Politiker sich wieder einmal Gedanken zu dem einzigen Thema machen, das sie an den Alten interessiert: wie man die Zeitspanne zwischen der Beendigung einer nützlichen Beschäftigung und dem Tod möglichst kostengünstig gestalten kann.

Die SPD macht sich derzeit wieder einmal an diesem Problem zu schaffen und weist mit dem Entwurf der Wehner-Kommission zur "Rentenreform 1984" darauf hin, daß die "Sicherheit für Deutschland" für die Deutschen mit Sicherheit allerlei "soziale Herausforderungen" mit sich bringen wird und die Herausgeforderten die Chose nur der SPD zu überlassen bräuchten, damit ihre sozialen Rechte ausgebaut würden. Der CDU mangelt es am Willen zur einzigen Alternative in der Rentenpolitik, nämlich den Rentnern mehr zukommen zu lassen. Selbst scharf darauf, den besagten Aufbau zu übernehmen, bleibt ihr deshalb nur die Tour, die SPD-Vorschläge durch Erinnerung an den "Rentenbetrug" von 1976/77 madig zu machen und die Sozis als potentielle Rückfalltäter zu brandmarken. Dies verhindert allerdings nicht, daß die aufmerksame Öffentlichkeit angesichts der entsprechenden Einfälle der Union einen "Gleichschritt der Ideen" (Süddeutsche Zeitung) feststellt.

Der Rentenbetrug

Daß der Vorwurf, H. Schmidt habe es tatsächlich jemals nötig gehabt, "in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch zu schädigen, daß er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt oder unterhält" (Paragr. 263 StGB, Betrug),

damals wie heute eine ziemlich christliche Lüge ist, zeigt schon eine ganz oberflächliche juristische Prüfung:

Unbestritten ist, daß sich anläßlich des gesetzlich vorgeschriebenen Rentenanpassungsberichtes 1976, der jeweils einen Ausblick auf die Rentenfinanzierung für die nächsten 15 Jahre geben soll, die Finanzlage der Rentenversicherungsträger als defizitär darstellte. D.h. die Mittel für die Ausgaben der Versicherung, die durch Beiträge der Versicherten und der Arbeitgeber (damals 18% der Bruttolöhne) sowie durch einen Zuschuß des Bundes aufgebracht werden, reichten nach damaliger Schätzung künftig nicht mehr zur Zahlung der laufenden Renten aus:

"Den Preis für die Heilung der Rentenkassen, die allein 1976 und 1977 rund 18,7 Mrd. DM Defizit machen, beziffert Bundesarbeitsminister Ehrenberg bis 1980 mit rund 6.3 Mrd. DM" (Spiegel, 12/77),

bei einem

"Vermögen der Rentenversicherung von 40 Mrd. DM" (Der Spiegel, 36/76).

Da aufgrund der Bundesgarantie des Paragr. 1384 RVO die Staatskasse für die Deckungslücken einzustehen hat, kann also die "Absicht, einem Dritten (nämlich dem Staatshaushalt) einen Vermögensvorteil zu verschaffen", bei den staatlichen Reaktionen auf die Feststellung des Defizits nicht geleugnet werden, ebensowenig aber auch die Tatsache, daß es hierzu geradezu unerläßlich war, "das Vermögen (nicht nur) eines anderen (der Rentner und Beitragszahler) zu schädigen".

Die Unbegründetheit des Betrugsvorwurfs springt aber selbst dem Rechtsunkundigen spätestens dann ins Auge, wenn er sich erinnert, daß besagter Vermögensvorteil für den Fiskus keineswegs rechtswidrig, sondern äußerst rechtsstaatlich in Form der Verabschiedung eines Sozialpakets im Frühjahr 1977 zustande kam, und daß die Behauptung des Kanzlers vor der Wahl: "Die Renten sind sicher" (Spiegel, 36/76) nicht als "Erregung eines Irrtums" qualifiziert werden kann.

  • Gerade mit der Verschiebung der nächsten Rentenerhöhang (und damit einer realen Rentenkürzung von ca. 5% durch Inflation),
  • mit der teilweisen Überwälzung der Krankenuersicherungskosten für Rentner auf die gesetzlichen Krankenkassen durch Kürzung der Pauschalzahlung der Rentenuersicherungsträger an die Krankenkassen - was letztere durch Erhöhung ihrer Pflichtbeiträge bei den Berufstätigen wettmachten, auf Grundlage des im gleichen Zuge mitverabschiedeten Krankenversicherungskostendämpfungsgesetzes -,
  • mit der Zahlung der Rentenversicherungsbeiträge für Arbeitslose durch die Bundesanstalt für Arbeit anstatt durch die RV-Träger, was prompte Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung nach sich zog,

demonstrierte die Bundesregierung praktisch, daß und wie die Renten sicher sind: so sicher, wie der Staat sie haben will. Daß dies die Schlechterstellung der Rentner und derer einschließt, für die die Sicherung der Renten erhöhten Lohnabzug bedeutet, ist keine Frage. Schließlich ging es bei sämtlichen Maßnahmen um eine Sanierung der Rentenversicherung, denn die war wegen der von den Rentnern verursachten Unkosten "notleidend" (Spiegel) geworden. Daß jemand, der es durch Arbeit in seinem Leben zu nichts anderem als zu einem Rentenanspruch gebracht hat, durch die Rente endlich saniert wird, erwartet ohnehin niemand. Der Kanzler, der den Ausgang der staatlichen Kalkulation entscheidet, ob zur Schonung des Sozialhaushalts nun die Reproduktion der geschätzten Wertschaffenden durch Erhöhung der Sozialabgaben ein wenig einzuschränken sei oder der Unterhalt der unproduktiven Ehemaligen, sorgte für ein salomonisches Ergebnis, indem er sich einfach mit bekannter Tatkraft für beides entschied.

So bestand für ihn nie ein Zweifel darüber, daß sich die "Zahlungsfähigkeit der Rentenversicherungsträger" auf Kosten der Alten und der Beitragszahler in einem Umfang erhalten lassen würde, "daß die Bundesgarantie gar nicht gebraucht" würde, wie der Öffentlichkeit noch vor der Wahl per SPIEGEL-Gespräch mitgeteilt wurde (36/76). Wie recht er hatte, bestätigt eine Meldung vom Januar 1980, die Bundesarbeitsminister Ehrenberg mit der Feststellung zitiert, daß

"die finanzielle Lage der Rentenversicherungsträger von Monat zu Monat erfreulicher werde" und "die positive Entwickluiig der Einnahmen und Ausgaben noch den jüngst von den RV-Trägern vorausgesagten Trend übertreffe". (Die AOK 4/80)

Damit bewahrheitete sich die Schmidtsche Wertung der Rentenfinanzierung im Wahlkampf 1976 als "Problemchen", während sich die Ausführungen des CDU-MdB Geisendörfer in der Bundestagsdebatte vom 17.3.77, die Regierung habe "ein gigantisches Finanzierungsproblem" wider besseres Wissen "geleugnet - nur (!) um die Wahlen zu gewinnern", und sich damit "die Mehrheit hier im Hohen Hause erschlichen", als zwar menschlich verständlich, aber sachlich unzutreffend darstellen.

Generationen mit unbeschränkter Haftung

Wieso sich aber überhaupt ein Sinken des Beitragsaufkommens infolge Arbeitslosigkeit und Reallohnsenkung in den 70er Jahren und der Ausgabenanstieg durch mehr Rentner auf die Ruhegelder derjenigen auswirken konnten, die 1976 in Rente gingen und zuvor selbst jahrzehntelang Beiträge bezahlt hatten, ist zunächst einmal erstaunlich. Wer es sich leisten kann, eine Lebensversicherung abzuschließen, kann damit rechnen, daß die Gesellschaft das von ihm und anderen eingesammelte Geld zu Kapital macht, höchst gewinnbringend anlegt und verleiht und ihn bei Vertragsende mit der vereinbarten Versicherungssumme (Sparanteil und Gewinnanteil) abspeist (wenn das Geld kaputt ist, gibt's natürlich auch da nichts), was der von der Versicherungsgesellschaft erzielte Gewinn locker zuläßt.

Bei der Rentenverslcherung dagegen

"setzte sich (!) als Folge großer Vermögensverluste durch die Inflation 1923 und die Währungsreform 1948 anläßlich der Rentenreform 1957 der Gedanke durch, daß die Leistungen der Rentenversichervng nicht mehr durch Kapitalsammlung, sondern ... ab 1969 durch ein Umlageverfahren mit einer hohen Liquiditätsreserve gesichert werden. Das Umlageverfahren beruht auf dem Prinzip der Solidarhaftung der Generationen (Solidarvertrag der Generationen); das bedeutet, daß die Finanzierung der Renten aus dem Beitragsaufkommen der aktiv Erwerbstätigen und für versicherungsfremde Leistungen aus Staatszuschüssen erfolgt." (Landeszentrale für politische Bildung: Die Grenzen des Sozialstaats)

Anders als bei der Lebensversicherung, der wirklich ein freiwillig eingegangener Vertrag zugrunde liegt, wurden in der rentenversicherung schon immer Zwangsbeiträge eingezogen (Lohnabzugsverfahren), da es sich bei den Versicherten seit Bismarcks Zeiten um eine Sorte von Leuten handelte, die die Beiträge ohne Zwang nicht von ihrem Einkommen erübrigt hätten. Die Beiträge werden zum Vermögen einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft gemacht, von deren Gnaden der Versicherte dann im abgewrackten Zustand sein Leben fristet.

Dieses Vermögen aus einbezalilten Beiträgen, "im Rahmen des von 1449 bis 1957 üblichen Anwartschaftsdeckungsverfahrens gut angelegt" und deshalb nur begrenzt verwendbar, wurde 1957, als die "Rentenbeträge für die verteuerte Lebenshaltung nicht mehr ausreichten" (Staatsbürgertaschenbuch Model-Creifels), durch den Übergang auf das Umlageverfahren

  • ganz rechtmäßig zur Verwendung für den Staat frei;
  • zugleich wurde der für die jeweils aktuell nötigen Rentenzahlungen zu verwendende Teil auf ein Miaimum reduziert (heute: Ausgaben für 1 Kal.-Monat);
  • die Arbeitenden zahlten für die Rentner, die längst Beiträge erbracht hatte, nun noch einmal;
  • und endlich wurde durch die mit dem Umlageverfahren verbundene laufende Anpassung der Renten an die Entwicklung der Bruttolöhne ("Dynamisierung") verhindert, daß der Sozialhilfe ständig massenhaft neue teure Kundschaft aus dem Lager der Rentner erwuchs.

Würde sich eine private Versicherungsgesellschaft ähnlich originelle Verfahren mit dem bei ihr eingezahlten Geld erlauben, so würde ihr die staatliche Versicherungsaufsicht in kurzer Zeit den Laden dicht machen.

Ein bemerkenswerter Nebenwitz der schwarzen Humoristen von der Landeszentrale für politische Bildung darf in diesem Zusammenhang nicht ungewürdigt bleiben: Das Zurechtbiegen der Sozialversicherung von einem Kostenfaktor - der für die Beruhigung einer Arbeiterklasse, deren Angehörige nach Erschöpfung ihrer Arbeitskraft das sichere Schicksal des Pauperismus vor Augen hatten, in Kauf genommen wurde - zum effektiven Mittel des Staatshaushalts als staatlichen Schutz der Versicherten vor staatlich inszenierten Ereignissen wie Krieg und Inflation hinzustellen, ist schon eine reife Leistung.

Nach der erfolgreichen Ökonomisierung und Funktionalisierung der Rentenversicherung für den Fiskus kann der Kanzler zwar erwähnen, daß "diverse CDU-Bundesregierungen unter Adenauer" bei der Rentenversicherung einiges an Schulden aufgenommen hätten, die bis heute nicht zurückgezahlt sind (es aber "wenn nötig" werden), die Rentenversicherung aber keineswegs eine "staatliche Zwangssparkasse zu Lasten der Rentenversicherungsbeitragszahler" sei. Nach der gesetzgeberischen Minimierung des Kasseninhalts für Betriebsmittel und Rücklagen (je maximal eine Monatsausgabe) der Rentenversicherung erscheint die Verwendung von Beitragsgeldern für Haushaltszwecke gar nicht mehr einfach als Schuldenaufnahme des Staates bei der Rentenversicherung. Vielmehr ist deren gesetzliche Verpflichtung, ihre Liquiditätsreserve hauptsächlich in Staatspapieren mit Übernahmegarantie durch die Bundesbank anzulegen, eine Form, die

"Zahlungsfähigkeit der Versicherungsträger sicherrustellen." (Paragr. 1383 RVO)

Dafür, daß die Generationen auch wirklich solidarisch, d.h. auf Grund rechtlichen Zwangs, füreinander haften, sorgt eine Beitragsanpassungsklausel, die Erhöhungen dann vorsieht, wenn die Rücklagen unter die vorgeschriebene Höhe fallen und ein Liquiditätsausgleich zwischen Arbeiter- und Angestelltenversicherung auch keine Abhilfe mehr schafft. Dabei ist durch den Generationenvertrag, den kein Rentner und kein Arbeiter unterschrieben hat, was seiner Verbindlichkeit aber keinen Abbruch tut, das schöne Verhältnis eingerichtet, daß die Beiträge zur Rentenversicherung dann erhöht werden müssen, wenn z.B. nach heutiger Berechnung

"die Durchschnittsentgelte bis 1990 um weniger als 6% zunehmen." (Süddeutsche Zeitung)

Weil, wie schon am Namen erkennbar, am Generationenvertrag nur Generationen beteiligt sind, nicht aber der Bund, wurde bei der Beratung des Wehnerschen Reformprogramms für 1984 durch den SPD-Vorstand der Vorschlag, den Bundeszuschuß an die Rentenversicherung für die Zukunft an "die Entwicklung der Rentenausgaben zu koppeln" und die Bundesgarantie "durch Zusicherung von Darlehen im Fall der Zahlungsunfähigkeit zu konkretisieren" (Wehner-Kommission), abgelehnt.

Der Idee, "die demographischen Risiken" (gemeint ist damit z.B. das "Risiko", daß es während einer bestimmten Zeitspanne einmal mehr Leuten als sonst gelingt, das Rentenalter zu erreichen und einen Rentenberg zu verursachen, weil die entsprechenden Generationen gerade einmal nicht durch einen Krieg dezimiert sind) "nicht allein durch die Beitragszahler tragen zu lassen", konnte nicht zugestimmt werden, da

"die damit verbuudene Vorwegnahme von Haushaltsentscheidungen nicht hingenommen werden konnte." (SZ)

Rentenreform 1984: Die Fortentwicklung des Generationenvertrags

Der Anstoß zur Rentenreform 1984 ging vom Bundesverfassungsgericht aus, dem die Tatsache, daß Frauen nach dem Tode des Ehemanns trotz ihres vom Ehemann "abgeleiteten" Rentenanspruchs mit 60% der Rente des Verstorbenen auskommen mußten, während rentenberechtigte Ehemänner bei Wegsterben der Ehefrau den vollen Rentenanspruch behielten, konsequent als Problem der Gleichbehandlung von Mann und Frau auffiel. Nicht daß sich das Millionenheer der Sozialhilfeempfänger im Modell Deutschland "zu 44% aus alleinstehenden alten Frauen" (Frankfurter Rundschau) rekrutierte, sondern, daß in der Rentenkürzung für die hinterbliebene Frau eine ungerechte Bewertung ihres hausfraulichen Beitrages zum Familieneinkommen lag, war das Argument. Nicht minder schreiendes Unrecht war andererseits zu bereinigen, da die den Ehemann überlebende Frau mit eigenem Rentenanspruch zu ihrer eigenen die 60% Witwenrente vom Ehemann beziehen durfte, was, wie man hört, zu erheblichem Saus und Braus auf Kosten der Solidargemeinschaft geführt haben soll.

Per Urteil des BVerfG vom 12.3.75 wurde also der Bundesregierung aufgegeben, bis 1984 die Ungleichbehandlung von Mann und Frau in der gesetzlichen Rentenversicherung zu beseitigen. Das Gericht stellte damit rechtskräftig fest, daß man nicht nur durch Absolvierung eines "erfüllten Arbeitslebens" (Wehner-Kommission), sondern auch durch den lebenslänglichen Dienst an einer nützlichen männlichen Arbeitskraft als eheliche Hausfrau und Mutter den staatlichen Funktionalitätskriterien gerecht werden kann, nach denen Rentenansprüche vergeben werden.

Gerechtigkeit wird nun dem Hinterbliebenen im Rentenalter durch die übereinstimmend von allen Parteien vorgesehene Teilhaberente, die eine "Versorgung" der überlebenden Ehegatten mit 70% des gemeinsamen Rentenanspruchs vorsieht. Dies hat den Vorzug, daß die niedrigsten Witwenrenten ungefähr auf Sozialhilfeniveau steigen, aber künftig nicht mehr über die von den öffentlichen Haushalten bezahlte Sozialhilfe, sondern über RV-Beiträge finanziert werden. Die Entlastung der Sozialhaushalte und die Finanzierung der Armut über die Rentenversicherung ist auch das Prinzip der übrigen Neuregelungen bei der Hinterbliebenenversorgung: Witwen, die unmündige Kinder haben, wird künftig deren Erziehung "nach dem Tode des Ehepartners ohne wirtschaftliche Sorgen möglich sein" - von einer "Erziehungsrente" in Höhe von "70% der Rentenansprüche des verstorbenen Ehepartners".

Hinterbliebene über 45, die beim Tode des/der Alten keinen Job haben und nie mehr einen bekommen werden, erhalten ebensoviel ("Rente wegen vorgerückten Alters", während den lustigen jüngeren Witwen, die bislang die 60%ige Rente des Ehemanns ohne Rücksicht auf Alter und eigenes Einkommen bezogen, nun ein Strich durch die unsolidarische Rechnung gemacht wird: Sie bekommen die "Übergangsrente für jungere Hinterbliebene" nur mehr drei Jahre lang und werden dann aufgefordert, sich wieder auf dem Arbeitsmarkt nützlich zu machen, wenn nötig mit entsprechender Ausbildungsförderung, was den Betroffenen endlich eine Perspektive gibt und ihnen die Entscheidung abnimmt, ob sie nun ihre Witwenrente im Tessin auf den Kopf hauen oder wieder arbeiten gehen sollen.

"Dieses Angebot (!) richtet sich vor allem an die nicht berufstätigen, jüngeren Frauen. Ihre Lebensperspektive soll nach sozialdemokratischer Auffassung nicht die Rente, sondern die eigene Erwerbstätigkeit sein."

Wer denkt, das bei der Sozialhilfe eingesparte Geld läge nun nutzlos herum, hat sich getäuscht. Die Wehner-Kommission gedenkt dies, mit Zustimmung der anderen Parteien, zur "Anerkennung der Kindererziehung in der Rentenversicherung" wieder zu verteilen und zugleich damit ein Ausdrucksproblem der Rentenversicherung zu beheben:

"Gegenwärtig bringt die Rentenversicherung nur die Beziehung zwischen zwei Generationen zum Ausdruck: Die Erwerbstätigen finanzieren mit ihren Beiträgen (und z.T. mit den Steuern) die Renten der älteren Generation. Die Beziehung zwischen den Erwerbstätigen als den künftigen Rentnern und der nachwachsenden Generation als den künftigen Beitragszahlern wird im gegenwärtigen Rentenrecht nicht berücksichtigt, obwohl die nachwachsende Generation für die dauerhafte Finanzierung der Renten entscheidend ist. Denn die Familien mit Kindern und nicht etwa die gegenwärtigen Beitragszahler allein schaffen die Voraussetzungen für die Erfüllung der Rentenansprüche, die die heute Erwerbstätigen mit ihrer Beitragszahlung für ihr eigenes Alter erwerben. Vom Grundgedanken der Generationensolidarität ist es deshalb erforderlich, daß die gesellschoftliche Leistung der Kindererziehung in der Rentenberechnung anerkannt wird."

Die Anerkennung erfolgt durch Anrechnung eines Versicherungsjahres pro geborenem Beitragszahler und die Zahlung der entsprechenden Beiträge für die Mutter an die Rentenversicherurig aus der Staatskasse.

Politiker wissen nicht nur, daß jede Mark für einen Rentner hinausgeworfenes Geld ist, sie wissen auch, daß die Unkosten für die Kleinsten der Nation sich noch auszahlen werden: während Kinder bekanntlich zu den schönsten Hoffnungen (auf künftig vermehrte Produktion) berechtigen, sind die Alten ebenso entschieden abgeschrieben wie Kinder als förderungswürdig gelten, selbst wenn's den Fiskus ein wenig von dem an den Rentnern Eingesparten kostet.

Weil Kinder aber ein Kostenproblem vor allem für die Eltern darstellen, muß der Generation, die sich im arbeits- und zeugungsfähigen Alter befindet, unmißverständlich klargemacht werden, daß der Generationenvertrag mehr Pflichten mit sich bringt als nur die Finanzierung des Gnadenbrotes für die ausrangierten Alten. Wer nicht bereit ist, durch eifrigeres Hecken neuer Beitragszahler mehr Solidarität zu zeigen und auf die staatlichen Anregungen anzuspringen, braucht' sich nicht zu wundern, wenn seine Rentenansprüche einstmals bloße Ansprüche bleiben.

Auf den schlechten Witz, daß im modernen Musterland des Kapitals dem verständigen Bürger ausgerechnet die Methoden indischer und afrikanischer Halbwilder ans Herz gelegt werden, nämlich zum Überleben im Alter möglichst viele Kinder zu zeugen, wird dabei ebensowenig verzichtet wie auf die eindeutige Ankündigung, daß die Sozialpolitiker durchaus bereit sind, diesem Witz Realität zu geben.

"Im Alter einen Lebensstandard zu gewährleisten, der über den im Erwerbsleben vorhandenen hinausgeht, so meinen die Rentenexperten des DGB, könne wohl nicht Ziel der Sozialpolitik sein" (Spiegel),

und diese Meinung, unwertes Leben könne doch wohl nicht höher bewertet werden als wertschaffendes, haben sich zusammen mit den gewerkschaftlichen Liebhabern der Arbeit alle Parteien zueigen gemacht. Ein "dauerhaftes Fundament für die Generationensolidarität (Wehner-Kommission) erfordert vor allem die Gemeinsamkeit der Nachteile. Weil der Staat durch Erhöhung der Sozialabgaben und Steuern von den Löhnen für eine wachsende Differenz von Brutto- und Nettolöhnen sorgt, stiegen die seit 1957 auf die Bruttolöhne bezogenen Renten stärker als die Nettolöhne, weshalb es heute als unbestrittene Solidaritätspflicht gilt,

"durch eine Beteiligung der Rentner an ihrem Krankenversicherungsbeitrag wieder für Gleichschritt zu sorgen." (Süddeutsche Zeitung)

Ob nun die Renten durch Krankenversicherungsbeiträge, Besteuerung oder durch Übergang auf Nettolohnbezogenheit gedrückt werden, es kann kaum jemand behaupten, daß es in der Diskussion an Ideen mangeln würde. Die Umsetzung der guten Ideen in die Tat finden allerdings die professionellen Beobachter der sozialpolitischen Szene durchwegs noch kritikabel: Ebensogut wie die Politiker hat die Journaille begriffen, wieviel ein Rentner wert ist, und wirft deshalb den Verantwortlichen vor, die gemeinsame Einsicht nicht konsequent genug zu praktizieren:

"Die deutschen Sozialpoliliker, die sich kaum vorstellen können, daß die Wohlfahrt jemals ausreichen könnte, können es nicht lassen, Arbeiterwitwen" ("jede zweite weniger als DM 500 im Monat") und "durchschnittliche Rentnerehepaare" ("kaum mehr als ihnen nach den Sätzen der Sozialhilfe zusteht") (Spiegel)

immer weiter zu mästen, anstatt "Speckschichten aus dem sozialen System herauszuschneiden". (Die Zeit)

Angesichts des "erschreckenden Hangs zu einem geldüberglänzten Lebensabend" (Süddeutsche Zeitung) wird der Warnruf laut: "Hier wird ein System überstrapaziert" (SZ).

Die zynische Sorge der Zeitungsmafia um das Rentensystem führt in der Zeit zur Aufforderung an die Parteien, endlich

"das öffentliche Gespür für soziale und ökonomische Zusammenhänge in den Dienst der fälligen Reform zu stellen".

Die Aufforderung kommt zu spät. Das öffentliche Gespür ist schon im Dienst.