Hungersterben in Afrika und anderswo, Krüppel, Verblödete, ganz gewöhnliche Jammergestalten und Habenichtse auswärts oder gleich um die Ecke daheim: Zum guten demokratischen Ton gehört es, daß diese "Schattenseiten des Lebens" nicht verschwiegen werden. Elend, und zwar weltweit und in all seinen widerlichen Erscheinungsformen, ist das ganze Jahr über öffentliches Thema, und zum Jahresausklang feiert es Hochkonjunktur.
Die paar Sachen, auf die es wirklich ankommt in der kapitalistischen Gesellschaft und ihrem demokratischen Staat, werden von den subjektiven Auffassungen über sie, von der Billigung durch die Leute nicht abhängig gemacht. Daß auf seiten der "Betroffenen" die verschiedensten Leistungen und ihr Gehorsam kalkuliert und bedingt, also stets widerrufbar erbracht würden, ist weder in den Instituten des Rechtsstaates noch sonstwo vorgesehen.
Was treibt ein Volk, dessen Regierung die eigene Armee zur zweitstärksten konventionellen Streitmacht des Westens aufrüstet und auf eurostrategischer Parität mit der feindlichen Weltmacht besteht? Womit beschäftigen sich Bürger, die von ihrem Inneneminister unter ziemlich totale Erfassung und Überwachung gestellt werden?
Die letzten Fragen geistern durch die Öffentlichkeit. Politiker, Richter, Ärzte, Bischöfe, Philosophen, Joumalisten ereifern sich über die "Grenzfragen", als gelte es, ein dringliches Menschheitsproblem zu lösen, damit endlich Sicherheit einkehre ins tägliche Leben und Sterben.
Sofern in der bürgerlichen Gesellschaft einmal die Rede von ihr ist, dann geht es gegen die Individuen, an denen sie einer entdeckt haben will. Sie gilt als Defekt, den man anderen, aber auch sich selbst bescheinigen kann.
Da schüttet der Mensch, gemäß einschlägiger Empfehlung, seine Sorgen in ein Gläschen Wein. Er vertraut darauf, daß die zuständige Winzergenossenschaft den nötigen Frohsinn beigemischt hat.
Den Zeitgenossen, denen am Hiroshima-Jahrestag wie bei der Hühnerzucht, bei verseuchten Flüssen wie in Sachen Abtreibung kein stichhaltigeres Argument einfällt als "das Leben", wäre erst einmal die Frage zu stellen, die an anderer Stelle auch ihre Dienste tut: Darf‘s nicht ein bißchen mehr sein?
Schließlich muß man nicht im Schützengraben und in Kriegsgefangenschaft gewesen sein, um zu wissen, wie ungemütlich jene Situationen sind, in denen es "ums Leben" geht, welches dann auch "nackt" heißt.
Wenn Zeitgenossen in die Geschichte zurückgreifen, verbinden sie mit solcher Hirnweberei eine gegen Aufklärung gerichtete Absicht. Sie wollen ihren Mitmenschen weismachen, daß irgendwelche vergangenen Ereignisse für die Nachwelt schwer etwas "bedeuten".
Wenn berühmte Dichter und Denker einer Weltanschauung anhängen, so ist das kein Einwand gegen ihre Größe. Die gelehrten Traditionspfleger von heute entdecken "Probleme" höchstens in einer Übertreibung, wegen einer "fatalen" Folge oder einer Inkonsequenz, auch "Einseitigkeit" soll bisweilen "gefährlich" geworden sein.